Zum Frühstück hörte er heute jenes Konzert, das Miles Davis am 20. Juni 1970 im Fillmore East gegeben hatte. Was den Stil und die Stücke betraf, da ähnelte es sehr den anderen Konzerten dieser Reihe, weshalb es Hans Köberlin schwerfiel, sich auf die Besonderheiten zu konzentrieren, weil er ja erst vor vier Tagen das Konzert vom 19. Juni 1970 gehört hatte. Directions hatte in diesem Moment in seinen Ohren keine und war so gut wie immer, dann The Mask, das nach vier Minuten Tohuwabohu interessant wurde, als Trompete und Baß Tohu von Bohu schieden, bei It’s About That Time kamen die neuen Aspekte vor allem von Jack DeJohnette, I Fall In Love Too Easily war quasi das Intro von Sanctuary, der Titel war bei Hans Köberlin seit 2010 für immer verknüpft mit Faulkners düsterer Südstaatenballade, heute kamen ihm die Trompetenschreie noch heftiger als sonst vor, dem folgte Bitches Brew, bei dem nach drei Minuten der Baß plötzlich vom Trockenen ins Weiche wechselte, er dachte, weil er sich darüber erschreckte, an Adornos großen musikalischen Irrtum, den Jazz betreffend, und daran, daß er sich schon lange vorgenommen, sich einmal mit dessen Beckett-Rezeption zu beschäftigen, bei dem es ihm, Hans Köberlin, um den Sinn im Absurden ging,* Bitches Brew drohte mittlerweile zu zerfallen, bis Miles Davis es mit seinem Spiel wieder zusammenfügte und zu dem wunderbar unverwüstlichen Willie Nelson überleitete, bei dem Dave Holland erneut aus heiterem Himmel die Stimmung wechselte. Willie Nelson war zweifellos der Höhepunkt der heutigen Matinée.
* Hans Köberlin hatte Adornos Versuch, das Endspiel zu verstehen, noch nicht gelesen, er hatte nur eine Passage aus der ästhetischen Theorie im Sinn: »Becketts Stücke sind absurd nicht durch Abwesenheit jeglichen Sinnes – dann wären sie irrelevant – sondern als Verhandlung über ihn. Sie rollen seine Geschichte auf […] Kunstwerke, die des Scheins von Sinnhaftigkeit sich entäußern, verlieren dadurch nicht ihr Sprachähnliches. Sie sprechen, mit der gleichen Bestimmtheit wie die traditionellen ihren positiven Sinn, als den ihren Sinnlosigkeit aus […] Alles hängt daran, ob der Negation des Sinns im Kunstwerk Sinn innewohnt oder ob sie der Gegebenheit sich anpaßt; ob die Krise des Sinns im Gebilde reflektiert ist, oder ob sie unmittelbar und darum subjektfremd bleibt. Schlüsselphänomene mögen auch gewisse musikalische Gebilde wie das Klavierkonzert von Cage sein, die als Gesetz unerbittliche Zufälligkeit sich auferlegen und dadurch etwas wie Sinn: den Ausdruck von Entsetzen empfangen. Bei Beckett allerdings waltet parodische Einheit von Ort, Zeit und Handlung mit kunstvoll eingebauten und ausgewogenen Episoden, und mit der Katastrophe, die nun darin besteht, daß sie nicht eintritt. Wahrhaft eines der Rätsel von Kunst, und Zeugnis der Gewalt ihrer Logizität ist, daß jegliche radikale Konsequenz, auch die absurd genannte, in Sinn-Ähnlichem terminiert.« (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie; in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 1986, Bd. 7, S. 230f.) Zu einer der »Gewalt der Logizität« analogen Annahme war für die Musik Christian Wolff gegenüber dem auch von Adorno erwähnten John Cage gekommen, siehe oben (¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Erster Teil. Vom 2. Oktober bis zum 19. Dezember 2013, [Dritte Phase – oder: Konsolidierung] Vom 19. November bis zum 19. Dezember 2013, S. 751).** Von Beckett hatte Hans Köberlin in diesem Kontext vor allem folgende Passage aus LʼInnommable im Gedächtnis, wir zitieren aus der Ausgabe in seinem, Hans Köberlins, Idiom: »Ich glaubte, es stünde mir frei, etwas x-beliebiges zu sagen, solange ich nicht schwieg. Dann sagte ich mir, daß es letzten Endes vielleicht nicht etwas x-beliebiges wäre, was ich sagte, daß es sehr wohl das sein könnte, was man von mir verlangte, vorausgesetzt, daß man etwas von mir verlangte.« (Samuel Beckett, Der Namenlose; in: Drei Romane. Molloy. Malone stirbt. Der Namenlose, Frankfurt am Main 2005, S. 541). Und auf die Frage, qui parle?, war die Antwort: »das ist es vielleicht, was ich fühle, daß es ein Draußen und ein Drinnen gibt und ich in der Mitte, das ist es vielleicht, was ich bin, das Ding, das die Welt in zwei teilt, einesteils das Draußen, andernteils das Drinnen, es kann dünn sein wie ein Blatt, ich bin weder einerseits noch andererseits, ich bin in der Mitte, ich bin die Scheidewand, ich habe zwei Seiten und keine Dichte, das ist es vielleicht, was ich fühle, ich fühle, wie ich schwinge, ich bin das Tympanon, einerseits ist der Schädel, andererseits die Welt, ich gehöre weder zum einen noch zum anderen« (ebd., S. 522f.). Hans Köberlin dachte dabei natürlich sofort an Luhmann … Dem ging es ja um den Fortbestand der Systeme, hier: »… man muß weitermachen, ich kann nicht weitermachen, ich werde weitermachen.« (ebd., S. 566). Nun: Hans Köberlin, der sein Studium mit einer Arbeit über das Weitermachen des Mannes ohne Eigenschaften abgeschlossen, wollte mittlerweile wieder weitermachen …
** Dabei fiel ihm noch etwas aus John Cages Indeterminacy-Geschichten ein, nämlich daß Christian Wolff zu ihm, Cage, gesagt habe (Hans Köberlin erinnerte sich, daß er diese Passage kurz vor Ende eines Dauerlaufs gehört hatte, vor jenem Hotel, das wie ein Schlachtschiff aus der Urbanisazión auf der anderen Seite der Ausfallstraße herausragte), nämlich: egal was man mache, am Ende würde alles auf eine (oder die?) Melodie herauslaufen. Die Rezeption in der Zeit … die wiederholte Rezeption … der Mensch sei Rhythmus, hatte Gérard Genette prägnant postuliert … (Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Reihe Aesthetica, hrsg. von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt am Main 1993, S. 307).
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1409).