Montag, 18. Januar 2016

Der Winter







Samstag, der 18. Januar 2014


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Und wie begingen die Brüder 50 Jahre vor Arno Schmidts Geburtstag diesen Tag? – Nun: dem Nachgeborenen angemessen, und weil die behandelten Themen interessant sind (und, nebenbei bemerkt, weil stellenweise ein erschütternder Eindruck von unserem Säulenheiligen Flaubert vermittelt wird), wollen wir den längeren Eintrag aus dem Journal in seiner vollen Länge zitieren …
18. Januar – Bei Magny.
Man spricht über Schurkereien in der Literatur. Gautier streitet sie ab. Sainte-Beuve schlägt mit der Faust auf den Tisch: »Hören Sie auf! Jeden Tag bekomme ich infame Briefe! Schreibt man mir etwa nicht in Bezug auf Vigny: ›Wir warten darauf, Sie über Monsieur de Vigny sprechen zu hören, der von Ihnen gesagt hat: Sainte-Beuve ist eine Kröte, die jedes Wasser, in dem sie schwimmt vergiftet.‹ Ich bin sicher, daß das ein Universitätsprofessor ist. Nur die sind zu solchen Feigheiten in der Lage.«
Und man kommt auf die Frauen, das übliche Gesprächsthema. Gautier behauptet, er liebe nur die asexuelle Frau, das heißt die so junge, daß sich jede Vorstellung von Geburt, von Mutterschaft, von Entbindung verbietet; und er fügt hinzu, da er diesen Geschmack wegen der Polizisten nicht befriedigen könne, hätten sämtliche Frauen, ob sie nun zwanzig oder fünfzig seien, für ihn das gleiche Alter.
Da kommt Flaubert in Fahrt mit glühendem Gesicht, röhrender Stimme, die großen Augen rollend, und sagt, Schönheit sei nicht erotisch, schöne Frauen seien nicht zum Vögeln da, sie taugten als Modell für Skulpturen, die Liebe bestehe aus jenem Unbekannten, das Erregung hervorruft und die Schönheit sehr selten hervorruft. Er beschreibt sein Ideal, das sich als das Ideal der ordinären Rouchie herausstellt. Man zieht ihn auf. Nun sagt er, er habe nie wirklich eine Frau gevögelt, er sei Jungfrau, er habe aus allen Frauen, die er gehabt habe, die Matratze einer anderen erträumten Frau gemacht.
Währenddessen diskutieren Nefftzer und Taine über das Wort konkret, wundern sich dabei über alle Bedeutungen, die es umfaßt, und werfen dauernd mit Begriffen wie Idiosynchrasie* um sich.
Flaubert, der heute abend noch ein wenig großmäuliger ist als gewöhnlich und seine Paradoxa nicht mit Gautiers Leichtigkeit eines indischen Gauklers einwirft, sondern sie mühsam im Gleichgewicht hält wie ein Jahrmarktsherkules oder vielmehr einfach wie ein überspannter Provinzler, beteuert, der Koitus sei für die Gesundheit des Organismus überhaupt nicht vonnöten, er sei ein eingebildetes Bedürfnis. Taine gibt ihm zu bedenken, daß er, der kein großer Vögler sei, wenn er sich alle zwei oder drei Wochen dem Koitus widme, immerhin von einer gewissen Unruhe, einer gewissen Zwanghaftigkeit befreit sei und merke, daß er den Kopf freier habe für die Arbeit. Flaubert antwortet, daß er sich täusche, daß der Mann keinen Samenerguß brauche, sondern einen Erguß der Seele** und da er, Taine, im Bordell vögele, keinerlei Erleichterung empfinden könne, daß man Liebe brauche, daß man Erschütterung brauche, das Erbeben beim Drücken einer Hand. Wir geben ihm zu bedenken, daß sehr wenige von uns dieses Glück besäßen, da doch die, die sich nicht im Bordell befriedigten, eine alte Mätresse, eine Frau von der Straße oder eine rechtmäßige Gattin hätten, bei denen es weder Erschütterung noch Erbeben gäbe. Also hätte dreiviertel der Menschheit keinen Erguß der Seele und viel Glück, wenn er ihnen in einem ganzen Koitusleben dreimal begegne.
Das ganze Diner lang streitet man sich darüber herum; man läuft einmal um die Welt der Frage wegen. Flaubert beteuert, die Barbaren seien Päderasten und Sodomisten, während die Zivilisierten Masturbateure und Cunnilinguisten seien, wobei der Cunnilingus die religiöse Anbetung der Frau sei.
Vom Koitus kommt man zum Spleen. Taine klagt über diese besondere Krankheit unserer Profession. Wir, die das Genie für eine Neurose halten, finden sie ganz natürlich. Aber da kommt Gautier mit der Behauptung, das Genie sei im Gegenteil der Gipfel der Gesundheit, das vollkommene Gleichgewicht der vitalen Kräfte: »Und das Talent? frage ich ihn. – Ach ja, das Talent, da gebe ich Ihnen recht, das ist vielleicht eine krankhafte Veranlagung.«
Währenddessen ist Taine in seinen Wortschwall gestiegen wie ein schottischer Wanderprediger in seine kleine tragbare Holzkanzel. Er fordert, daß man den Spleen mit allen medizinischen, hygienischen, moralischen Mitteln bekämpft und vor allem mit einer guten Methode. Man kann ihm noch so laut zurufen, daß vielleicht unser ganzes Talent nur unter der Bedingung dieses nervösen Zustands existiert, er läßt sich nicht beirren. Er fordert, daß man gegen diese Zustände von Erschlaffung und Faulheit angehen soll, die ihm zu zeigen scheinen, daß Jahrhunderte an der Schieflage einer Geisteskultur abrutschen. Und stets Engländer und Protestant, sieht er die Heilung des Spleens, die Rettung und Erneuerung fatal verfallender Gesellschaften in der kindlichen Nachahmung der englischen Sitten, in jenem staatsbürgerlichen Leben, in einer Übernahme des englischen Patriotismus und Patrouillotismus – »]a, ruft ihm einer von uns zu, die Allianz von Talent und Nationalgarde!«
Man lacht und geht.
… »Man lacht und geht« …: ach ja! Hans Köberlin hätte sich auch gerne einmal wieder einen Abend lang unter geistreichen Reden mit Freunden betrunken …


* Siehe dazu vom Verf. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 381ff., wo wir darüber berichtet haben, wie Clemens Limbularius als der Herausgeber von Hans Köberlin sich mit dessen Essay über den Begriff der ›Idiosynkrasie‹ beschäftigt hatte.
** Wir möchten an dieser Stelle nochmals Shirley MacLaine mit ihrem Bonmot zu Wort kommen lassen, nämlich Männer, bei denen die Lust von Herzen komme (und Herz oder Seele …: cʼest bonnet blanc ou blanc bonnett!), seien ihr suspekt, denn die Lust solle etwas tiefer sitzen.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel X [Phase IV – oder: modus vivendi], 7. bis 30. Januar 2014).