Herbert Neidhöfer, homme de lettres
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Sonntag, 17. März 2019
Un tal Lucas II
Destino de las explicaciones – Das war wirklich so knapp und treffend, daß man es nicht paraphrasieren konnte, deshalb: »En algún lugar debe haber un basural donde están amontonadas las explicaciones. Una sola cosa inquieta en este justo panorama: lo que pueda ocurrir el día en que alguien consiga explicar también el basural.«
El copiloto silencioso – Einer erzählte Jahrzehnte, nachdem sie passiert war, in Paris eine phantastische Geschichte aus der Pampa und sein Gesprächspartner hatte eine rationale – wenn auch nicht weniger gruselige – Erklärung. Weil die offizielle Überführung der Toten zu teuer war, wurden die Leichen geschminkt auf dem Beifahrersitz transportiert. Einige der Fahrer, die das taten, seien später berühmte Rennfahrer geworden.
Nos podría pasar, me crea – Ein Gelehrter hatte einen Apparat erfunden, der alle Buchstaben zu Strichen (—) plattbügelte. Er setzte das Gerät in Aktion. Die Geschichte konnte nur festgehalten werden, weil der Autor der Gelehrte war und weil es keine Regel ohne Ausnahme gab.
Lazos de familia – Die Familienbande schickte aus aller Welt Ansichtskarten mit Beschimpfungen an eine ungeliebte Tante. Die sammelte diese Karten mit Freude, bewunderte die Ansichten und durchstach die Unterschriften mit einer Nadel.
Cómo se pasa al lado – Der Ich-Erzähler entdeckte, daß Katzen Telephone waren. Da dies bisher aber niemand außer ihm bemerkt hatte, funktionierten sie nicht.
Un pequeño paraíso – Beschrieben wurde eine moderne Gesellschaft mit einer Militärregierung, in der die Menschen winzige Fischlein in den Adern leben hatten (oder dies annahmen). Dies (beziehungsweise diese Annahme) machte die Menschen glücklich. Da die Fischlein sich vermehrten und starben, mußte mehrmals im Monat ein Mittel injiziert werden, das die toten Fischlein, die einem das Atmen schwer machten und die Gefäße verstopften, sich zersetzen ließ, danach war man wieder glücklich. Am Verkauf dieses Mittels bereicherte sich die Regierung auf mannigfaltige Weise, was die Menschen aber nicht störte, da sie ja glücklich waren. – Machte es denn einen Unterschied, ob man sich nur für glücklich hielt oder ob man glücklich war? Und ob das Glück bloß auf einer Illusion basierte? Das Glück war ein zu flüchtiger Zustand, als daß man auf seinen Realitätsstatus achten sollte.
Vidas de artistos – Vier alberne Geschichten, in denen die Künstler sämtlich Musiker waren. Der Einführungstext fehlte in meiner Ausgabe, siehe Lucas, sus clases de español. In Kitten on the Keys ging es um eine Katze, der man das Klavierspielen beigebracht hatte und die es dann übertrieb; in La armonía natural o no se puede andar violándola führte ein anatomischer Vorteil zu einer Beschleunigung der interpretierten Werke an den Rezipienten vorbei (die Harmonie korrelierte mit der normalen, natürlichen Beschaffenheit des Menschen, die das ihrerseits anatomisch auszugleichen versuchen; in Costumbres en la Sinfónica »La Mosca« ging es um die Anarchie und das Chaos in einem ungeführten Orchester; und in Quintaesencias schließlich wurde ein Tenor während seines Vortrags von Engeln entrückt, allerdings nur bis zur Decke des Konzerthauses, von wo sie ihn am Ende der Arie fallenließen.
Texturologías – Sich in ihrem jeweiligen Jargon bekriegende Kritiker, gleichfalls albern.
¿Qué es un polígrafo? – Man erfuhr etwas über die Bedeutungen des Begriffes ›Polygraphie‹ und über den Fleiß Dr. Johnsons, der sich selber der Trägheit bezichtigt hatte.
Observaciones ferroviarias – Eine Señora unterhielt sich mit ihrem lakonischen Dienstmädchen über die Eisenbahn. Sie schaffte es mit einer Bemerkung, das Dienstmädchen aus seiner Lakonie zu reißen.
Nadando en la piscina de gofio – Eine Sportsatire: es wurde nicht mehr in Wasser geschwommen, sondern in einem Speisepulver, was eine hohe Erstickungsgefahr mit sich brachte. Man machte das, weil es neu war, wie das Basketballspiel mit einem gläsernen Ball.
Familias – Die Señora aus Observaciones ferroviarias führte wieder ein Gespräch, diesmal mit einer sozial gleichgestellten Señora, und zwar über ihre Tochter, die sie, wie das Mädchen in Siestas, beim Masturbieren erwischt und gezüchtigt hatte (»bofetada va y bofetada viene, la letra con sangre entra«). Nun war die Tochter auf der Universität.
Now shut up, you distasteful Adbekunkus – Nachdem der Ich-Erzähler zu dem Schluß gekommen war, alles Belebte sei neurotisch, befahl er, dessen Muttersprache nicht Englisch war, einem »distasteful Adbekunkus« zu schweigen. Der Name konnte nicht zugeordnet werden, er stand für eine Leere, von der es fraglich war, ob sie schweigen würde, da sie nie geschrien hatte.
Amor 77 – Nur beim (sexuellen) Lieben war man wesentlich. Der Titel erinnerte an Antonioni und einen Episodenfilm.
Novedades en los servicios públicos – Es sollte wohl eine bittere Satire werden: in der pariser Metro gab es einen Speisewagen für ein exklusives Publikum. Beschrieben wurden die aufwendigen Maßnahmen, die Distinktion zu sichern. Ich weiß nicht, ob das damals noch so war, heute sind die Mechanismen andere.
Burla burlando ya van seis delante – Über das Sterben unserer Heroen, das man jenseits der fünfzig mitbekam und bei dem man immer ein stückweit mitstarb.
Diálogo de ruptura – Nicht zu Ende gesprochene, wohl universal gebrauchte, Sätze, when a love affair is over, im vorgeführten Fall mehr oder weniger einvernehmlich.
Cazador de crepúsculos – Jemand mochte Filmemacher sein, nur um Dämmerungen zu jagen. Dann imaginierte er seine Filme im Kino, als Vorfilme eines Films mit B. B. Die Leute, so der Erzähler, gingen ins Kino, um sich zu vergessen, was mit seinem Film nicht gehe, denn die Dämmerung werde einen auf sich zurück. – Es blitzte manchmal ein wenig in diesem Buch, aber en gros war die alte Kraft nicht mehr vorhanden.
Maneras de estar preso – Die Erzählfigur (eine Frau oder ein homosexueller Mann?) las das simultan, was sie erlebte et vice versa, und zog den Leser in dieses Geschehen hinein. Das Schicksal war im Sinne des Wortes vorgeschrieben.
La dirección de la mirada – In der Manier Claude Simons, anscheinend war der Autor im Louvre gewesen. Ich vermutete, es waren Ekphrasien von Bildern, die Schlachten darstellten, und eine Liebesszene oder eine Vergewaltigung im Wald, neben dem berühmten Gemälde des ermordeten Marat, zu dem seine Mörderin imaginiert wurde. Der Schmied, der den Schild des Helden schmiedete, stellte darauf den Helden in der Schlacht mit dem Schild dar, die Szene im Wald und sich, wie er den Schild schmiedete.
(Julio Cortázar, Cuentos Completos, Un tal Lucas (1979)).
*
El copiloto silencioso – Einer erzählte Jahrzehnte, nachdem sie passiert war, in Paris eine phantastische Geschichte aus der Pampa und sein Gesprächspartner hatte eine rationale – wenn auch nicht weniger gruselige – Erklärung. Weil die offizielle Überführung der Toten zu teuer war, wurden die Leichen geschminkt auf dem Beifahrersitz transportiert. Einige der Fahrer, die das taten, seien später berühmte Rennfahrer geworden.
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Nos podría pasar, me crea – Ein Gelehrter hatte einen Apparat erfunden, der alle Buchstaben zu Strichen (—) plattbügelte. Er setzte das Gerät in Aktion. Die Geschichte konnte nur festgehalten werden, weil der Autor der Gelehrte war und weil es keine Regel ohne Ausnahme gab.
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Lazos de familia – Die Familienbande schickte aus aller Welt Ansichtskarten mit Beschimpfungen an eine ungeliebte Tante. Die sammelte diese Karten mit Freude, bewunderte die Ansichten und durchstach die Unterschriften mit einer Nadel.
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Cómo se pasa al lado – Der Ich-Erzähler entdeckte, daß Katzen Telephone waren. Da dies bisher aber niemand außer ihm bemerkt hatte, funktionierten sie nicht.
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Un pequeño paraíso – Beschrieben wurde eine moderne Gesellschaft mit einer Militärregierung, in der die Menschen winzige Fischlein in den Adern leben hatten (oder dies annahmen). Dies (beziehungsweise diese Annahme) machte die Menschen glücklich. Da die Fischlein sich vermehrten und starben, mußte mehrmals im Monat ein Mittel injiziert werden, das die toten Fischlein, die einem das Atmen schwer machten und die Gefäße verstopften, sich zersetzen ließ, danach war man wieder glücklich. Am Verkauf dieses Mittels bereicherte sich die Regierung auf mannigfaltige Weise, was die Menschen aber nicht störte, da sie ja glücklich waren. – Machte es denn einen Unterschied, ob man sich nur für glücklich hielt oder ob man glücklich war? Und ob das Glück bloß auf einer Illusion basierte? Das Glück war ein zu flüchtiger Zustand, als daß man auf seinen Realitätsstatus achten sollte.
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Vidas de artistos – Vier alberne Geschichten, in denen die Künstler sämtlich Musiker waren. Der Einführungstext fehlte in meiner Ausgabe, siehe Lucas, sus clases de español. In Kitten on the Keys ging es um eine Katze, der man das Klavierspielen beigebracht hatte und die es dann übertrieb; in La armonía natural o no se puede andar violándola führte ein anatomischer Vorteil zu einer Beschleunigung der interpretierten Werke an den Rezipienten vorbei (die Harmonie korrelierte mit der normalen, natürlichen Beschaffenheit des Menschen, die das ihrerseits anatomisch auszugleichen versuchen; in Costumbres en la Sinfónica »La Mosca« ging es um die Anarchie und das Chaos in einem ungeführten Orchester; und in Quintaesencias schließlich wurde ein Tenor während seines Vortrags von Engeln entrückt, allerdings nur bis zur Decke des Konzerthauses, von wo sie ihn am Ende der Arie fallenließen.
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Texturologías – Sich in ihrem jeweiligen Jargon bekriegende Kritiker, gleichfalls albern.
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¿Qué es un polígrafo? – Man erfuhr etwas über die Bedeutungen des Begriffes ›Polygraphie‹ und über den Fleiß Dr. Johnsons, der sich selber der Trägheit bezichtigt hatte.
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Observaciones ferroviarias – Eine Señora unterhielt sich mit ihrem lakonischen Dienstmädchen über die Eisenbahn. Sie schaffte es mit einer Bemerkung, das Dienstmädchen aus seiner Lakonie zu reißen.
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Nadando en la piscina de gofio – Eine Sportsatire: es wurde nicht mehr in Wasser geschwommen, sondern in einem Speisepulver, was eine hohe Erstickungsgefahr mit sich brachte. Man machte das, weil es neu war, wie das Basketballspiel mit einem gläsernen Ball.
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Familias – Die Señora aus Observaciones ferroviarias führte wieder ein Gespräch, diesmal mit einer sozial gleichgestellten Señora, und zwar über ihre Tochter, die sie, wie das Mädchen in Siestas, beim Masturbieren erwischt und gezüchtigt hatte (»bofetada va y bofetada viene, la letra con sangre entra«). Nun war die Tochter auf der Universität.
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Now shut up, you distasteful Adbekunkus – Nachdem der Ich-Erzähler zu dem Schluß gekommen war, alles Belebte sei neurotisch, befahl er, dessen Muttersprache nicht Englisch war, einem »distasteful Adbekunkus« zu schweigen. Der Name konnte nicht zugeordnet werden, er stand für eine Leere, von der es fraglich war, ob sie schweigen würde, da sie nie geschrien hatte.
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Amor 77 – Nur beim (sexuellen) Lieben war man wesentlich. Der Titel erinnerte an Antonioni und einen Episodenfilm.
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Novedades en los servicios públicos – Es sollte wohl eine bittere Satire werden: in der pariser Metro gab es einen Speisewagen für ein exklusives Publikum. Beschrieben wurden die aufwendigen Maßnahmen, die Distinktion zu sichern. Ich weiß nicht, ob das damals noch so war, heute sind die Mechanismen andere.
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Burla burlando ya van seis delante – Über das Sterben unserer Heroen, das man jenseits der fünfzig mitbekam und bei dem man immer ein stückweit mitstarb.
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Diálogo de ruptura – Nicht zu Ende gesprochene, wohl universal gebrauchte, Sätze, when a love affair is over, im vorgeführten Fall mehr oder weniger einvernehmlich.
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Cazador de crepúsculos – Jemand mochte Filmemacher sein, nur um Dämmerungen zu jagen. Dann imaginierte er seine Filme im Kino, als Vorfilme eines Films mit B. B. Die Leute, so der Erzähler, gingen ins Kino, um sich zu vergessen, was mit seinem Film nicht gehe, denn die Dämmerung werde einen auf sich zurück. – Es blitzte manchmal ein wenig in diesem Buch, aber en gros war die alte Kraft nicht mehr vorhanden.
Maneras de estar preso – Die Erzählfigur (eine Frau oder ein homosexueller Mann?) las das simultan, was sie erlebte et vice versa, und zog den Leser in dieses Geschehen hinein. Das Schicksal war im Sinne des Wortes vorgeschrieben.
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La dirección de la mirada – In der Manier Claude Simons, anscheinend war der Autor im Louvre gewesen. Ich vermutete, es waren Ekphrasien von Bildern, die Schlachten darstellten, und eine Liebesszene oder eine Vergewaltigung im Wald, neben dem berühmten Gemälde des ermordeten Marat, zu dem seine Mörderin imaginiert wurde. Der Schmied, der den Schild des Helden schmiedete, stellte darauf den Helden in der Schlacht mit dem Schild dar, die Szene im Wald und sich, wie er den Schild schmiedete.
(Julio Cortázar, Cuentos Completos, Un tal Lucas (1979)).
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