Dienstag, 15. Dezember 2015

»Die Kunst ist das Aschenputtel, das zu Hause blieb, weil es so sein mußte.«

303 17. 1. 1932

Die Welt gehört dem, der nicht fühlt. Die Grundvoraussetzung, um ein praktischer Mensch zu werden, ist ein Mangel an Sensibilität. Die beste Vorbedingung für die Praxis des Lebens ist die Triebkraft, die zum Handeln führt, das heißt der Wille. Nun gibt es aber zwei Dinge, die das Handeln beeinträchtigen – die Sensibilität und das analytische Denken, das letztlich nichts anderes ist als ein Denken mit Sensibilität. Jedes Handeln ist seiner Natur nach die Projektion der Persönlichkeit auf die Außenwelt und, da die Außenwelt zur Hauptsache von menschlichen Wesen bestimmt wird, folgt daraus, daß diese Projektion der Persönlichkeit vor allem bedeutet, daß wir uns auf dem Weg unserer Mitmenschen quer legen, ihn hinderlich gestalten und sie je nach Art unseres Vorgehens verletzen und erdrücken.
Zum Handeln gehört folglich eine gewisse Unfähigkeit, sich die Persönlichkeit anderer, ihre Leiden und Freuden vorzustellen. Wer Sympathie empfindet, kommt nicht weiter. Der Mensch der Tat betrachtet die Außenwelt als ausschließlich aus träger Materie zusammengesetzt – als träge in sich selbst wie ein Stein, über den er hinweggeht oder den er aus seinem Weg. räumt; oder träge wie ein menschliches Wesen, das, da es ihm nichts entgegenzusetzen vermochte, sowohl ein Mensch wie ein Stein sein kann, denn er räumt es wie einen Stein beiseite oder geht darüber hinweg.
Das beste Beispiel eines praktischen Menschen ist der Stratege, da sich in ihm äußerste Konzentration des Handelns und größte Wirksamkeit zusammenfinden. Das ganze Leben ist Krieg, und die Schlacht ist mithin die Synthese des Lebens. Nun aber ist der Stratege ein Mensch, der mit Menschenleben spielt wie der Schachspieler mit Schachfiguren. Was würde aus dem Strategen, wenn er daran dächte, daß jeder Zug seines Spiels Nacht in tausend Familien trägt und Leid in dreitausend Herzen? Was würde aus der Welt, wenn wir menschlich wären? Wenn der Mensch wirklich fühlte, gäbe es keine Zivilisation. Die Kunst dient der vom Handeln zwangsläufig vergessenen Sensibilität als Zuflucht. Die Kunst ist das Aschenputtel, das zu Hause blieb, weil es so sein mußte.
Jeder Mensch der Tat ist seinem Wesen nach lebhaft und optimistisch, weil glücklich ist, wer nicht fühlt. Einen Mann der Tat erkennt man daran, daß er nie schlechtgelaunt ist. Wer arbeitet, obwohl er schlechtgelaunt ist, ist ein Handlanger des Handelns; er mag im Leben, im großen Allgemeinen des Lebens ein Buchhalter sein, wie ich es in meinem besonderen bin; er kann nicht Herrscher über Menschen und Dinge sein. Zur Herrschaft gehört Fühllosigkeit. Es herrscht wer heiter ist, denn um traurig zu sein, muß man fühlen.
Chef Vasques schloß heute ein Geschäft ab, bei dem er einen kranken Mann und seine Familie ruiniert hat. Während des Vorgangs vergaß er völlig, daß da ein Mensch vor ihm saß, er sah nur den kommerziellen Widersacher. Als das Geschäft abgeschlossen war, überkam ihn die Sensibilität. Erst dann natürlich denn hätte Sie dies schon vorher getan, wäre das Geschäft nie zustande gekommen. »Der Kerl tut mir leid«, sagte er zu mir. »Das geht nicht lange gut.« Dann steckte er sich eine Zigarre an und fügte hinzu: »Jedenfalls, wenn er etwas von mir brauchen sollte« – er meinte ein Almosen – »werde ich nicht vergessen, daß ich ihm ein gutes Geschäft verdanke und etliche zehntausend Escudos.«
Chef Vasques ist kein Unmensch: er ist ein Mann der Tat. Wer immer bei diesem Spiel den kürzeren zieht, kann tatsächlich – denn Chef Vasques ist ein großzügiger Mensch – in der Zukunft mit seinen Almosen rechnen.
Wie Chef Vasques sind alle Männer der Tat: Industrie- und Handelsbosse, Politiker, Militärs, religiöse und gesellschaftliche Idealisten, große Dichter und Künstler, schöne Frauen und Kinder, die nur das tun, was sie wollen. Es befiehlt, wer nicht fühlt. Es siegt, wer nur an das denkt, was er zum Siegen braucht. Alles übrige, die unbestimmte allgemeine Menschheit, gestaltlos, sensibel, phantasievoll und zerbrechlich, ist nur der Vorhang im Hintergrund, vor dem sich diese Figuren auf der Bühne abheben, bis das Marionettentheater endet, der quadratförmig angeordnete Untergrund, auf dem die Schachfiguren stehen, bis sie der Große Spieler einsteckt, der, indem er sich mit einer Doppelpersönlichkeit austrickst, immer gegen sich selbst spielt und dabei seinen Spaß hat.

(Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 296ff.).

Sonntag, der 15. Dezember 2013


[75 / 249]
Er frühstückte auf der anderen Dachterrasse, dann vertrieb ihn aber der Wind und er las – vor allem im Ulysses, wobei er fast alles um sich herum vergaß* – und schrieb im leeren Wintergarten, und er tat dies bis zum Abendessen.
Hans Köberlin hatte sich für heute eine Lubina gekauft. – Wir haben vor ein paar Tagen berichtet, wie die nonverbale Kommunikation mit dem Fischverkäufer ablief, damit der, glückte die nonverbale Kommunikation, das Tier bloß entschuppte und ausnahm, aber nicht auch enthauptete; nun, gestern, als Hans Köberlin die Lubina kaufte, da war eine Fischverkäuferin da, und ehe Hans Köberlin einschreiten konnte, hatte sie – schnipp! wie Philine** – mit ihrer großen Schere dem Fisch den Schwanz abgeschnitten … Nun ja: wie hätte man das, fragte sich Hans Köberlin, das, daß man das nicht wollte, auch auf schickliche Weise nonverbal kommunizieren sollen …? – Hans Köberlin konnte sich gut vorstellen, daß der Fischverkäufer vom Schwanzabschneiden nicht viel hielt, aber warum war er so darauf versessen, den Kopf abzuschneiden? Ein kleiner verhinderter Robespierre? Die Brüder hatten irgendwo berichtet, daß ihnen ein Seefahrer erzählt habe, auf seinem Schiff habe man während jener Jahre eine kleine Guillotine gehabt, um die Hühner zu köpfen …


* James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 146 …
Cityful passing away, other cityful coming, passing away too: other coming on, passing on. Houses, lines of houses, streets, miles of pavements, piledup bricks, stones. Changing hands. This owner, that. Landlord never dies they say. Other steps into his shoes when he gets his notice to quit. They buy the place up with gold and still they have all the gold. Swindle in it somewhere. Piled up in cities, worn away age after age. Pyramids in sand. Built on bread and onions. Slaves. Chinese wall. Babylon. Big stones left. Round towers. Rest rubble, sprawling suburbs, jerrybuilt, Kerwan’s mushroom houses, built of breeze. Shelter for the night.
No one is anything.
Der Punkt zwischen »Slaves« und »Chinese wall« ist von uns, wir folgen da Wollschläger, denn Goyerts »Sklaven chinesische Mauer.« klingt uns abstrus. – Jedenfalls, wenn Nabokov schrieb, der dem geistigen Mittelmaß zuzurechnende Bloom sei weniger künstlerisch veranlagt als Stephen, habe aber weit mehr vom Künstler an sich, als die Kritiker bemerkt hätten (vgl. Vladimir Nabokov, Die Kunst des Lesens. Meisterwerke der europäischen Literatur. Jane Austen – Charles Dickens – Gustave Flaubert – Robert Louis Stevenson – Marcel Proust – Franz Kafka – James Joyce, hrsg. von Fredson Bowers, Frankfurt am Main 1991, S. 355), so würde Hans Köberlin noch weitergehen: Mr Bloom war kein mittelmäßiger Geist, und was ihn von Stephen Dedalus unterschied, das war die Ausbildung. Und es ging auch eher um das Denken denn um die Kunst. Auf jeden Fall war Mr Bloom Hans Köberlins Mann. C. P. M’Coy sollte ihn im übernächsten Kapitel angesichts der Impertinenz Lenehans verteidigen: »He’s a cultured allroundman, Bloom is, he said seriously. He’s not one of your common or garden … you know … There’s a touch of the artist about old Bloom.« (dass., S. 211).
** Natürlich Goethens …
Philine brachte ein paar allerliebste Kinder mit und zeichnete sich, bei einer einfachen, sehr reizenden Kleidung, aus durch das Sonderbare, daß sie von blumig gesticktem Gürtel herab an langer silberner Kette eine mäßig große englische Schere trug, mit der sie manchmal, gleichsam als wollte sie ihrem Gespräch einigen Nachdruck geben, in die Luft schnitt und schnippte und durch einen solchen Akt die sämtlichen Anwesenden erheiterte; worauf denn bald die Frage folgte: ob es denn in einer so großen Familie nichts zuzuschneiden gebe?
Diese Domestizierung in Wilhelm Meisters Wanderjahre in ein Hausmütterchen, das hatte die sinnliche Philine der Lehrjahre
Nach einer kurzen Zeit (…) schlenderte Philine singend zur Haustüre heraus, setzte sich zu ihm, ja man dürfte beinahe sagen, auf ihn, so nahe rückte sie an ihn heran, lehnte sich auf seine Schultern, spielte mit seinen Locken, streichelte ihn und gab ihm die besten Worte von der Welt. Sie bat ihn, er möchte ja bleiben (…) Vergebens suchte er sie abzuweisen, ihr begreiflich zu machen, daß er länger weder bleiben könne noch dürfe. Sie ließ mit Bitten nicht ab, ja unvermutet schlang sie ihren Arm um seinen Hals und küßte ihn mit dem lebhaftesten Ausdrucke des Verlangens. »Sind Sie toll, Philine?«
nicht verdient.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).