Sonntag, 6. August 2023

1971-10-22 Dietikon (Newport) [Dienstag, der 11.März 2014]

Es war bereits nach Mittag, als Hans Köberlin aufstand, um das Frühstück zuzubereiten und die Frau unter die Dusche stieg. Wenn Hans Köberlin das richtig im Blick hatte, was er nicht hatte, dann hatte er in seinem Archiv nur noch fünf wirkliche Konzertmitschnitte für sein Ritual über, dann kämen die Kompilationen diverser Auftritte und Teo Maceros aus den Cellar Door- und den Jack Johnson-Sessions zusammenmontiertes Phantasiekonzert LivE EviL. Alle die fünf Konzerte waren mit ähnlichen Sets aus der Zeit von Bitches Brew und Jack Johnson. Er entschied sich für ein Konzert, das Miles Davis am 22. Oktober 1971 im Rahmen einer Europatournee des Newport-Festivals im eidgenössischen Dietikon gegeben hatte. Es waren, wie gesagt, die üblichen Stücke mit Directions zum Auftakt, Hans Köberlin war einmal wieder erstaunt, daß Miles Davis dem so oft gespielten Stück stets neue Aspekte abgewinnen konnte, auch er stieg also niemals in den gleichen Fluß. Im Gegensatz zu dem Konzert gestern kam hier wieder der Baß seinen nötigen Spielraum, was dann wohl so bleiben würde. Übergangslos ging es dann mit What I Say weiter und Hans Köberlin bemühte sich, das entspannte bewußte Hören mit der Konversation mit der Frau unter einen Hut zu bringen. Bei dem Stück störte ihn, daß der schöne Groove durch ein Perkussionssolo abgewürgt wurde. Das Solo leitete nach ein paar Takten den vorherigen Themas über zu Sanctuary, eine seltsame Dramaturgie, wie Hans Köberlin fand. Auch das daran anschließende Itʼs About That Time wurde neu und sehr ansprechend interpretiert, vor allem mit Baß und E-Piano. Es folgte in einer knapp zwölfminütigen Version Bitches Brew, angenehm sehr langsam und quasi sortiert, aber mit einem abrupten Ende, denn plötzlich war man bei Funky Tonk, das sehr verhalten mit ein paar wunderschönen kristallenen Akkorden auf dem E-Piano, von der Stimmung fast wie I Love Him Madly, begann ‒ entweder war das Publikum sehr verständig gewesen, oder man hatte es herausfiltern können ‒, und plötzlich ‒ Hans Köberlin merkte, daß er dieses Konzert lange nicht mehr gehört hatte ‒ war es dann nicht mehr Funky Tonk, sondern Inamorata in einer sehr schönen langsamen Version ohne das Pathos der Cellar Door-Sessions. Zum Schluß kamen dann nochmals ein paar Takte Sanctuary mit dem Beifall des Publikums.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit] Vom 7. bis zum 12. März 2014, S. 1505f.).

1970-12-19 Washington 2nd Set [Montag, der 10. März 2014]

Zum Frühstück dann hörte Hans Köberlin, nun wieder turnusgemäß, das zweite Set jenes Konzerts, das Miles Davis am 19. Dezember 1970 in ›The Cellar Door‹‐Club, 34th and M Street NW in Washington, D. C., gegeben hatte und bei dem John McLaughlin wieder als Gastmusiker dabeigewesen war. Es begann, wie auch die anderen Sets, mit Directions, bei dem diesmal Jack DeJohnette eine etwas längere Vorgabe hatte, Miles Davis mit der elektrisch verzerrten Trompete den Orgasmus des Themas lange hinauszögernd, dafür dann aber lange zelebrierend, dann ein schönes Saxophon-Solo über der Rhythmus-Gruppe, dann McLaughlin und Jarrett, bei denen das Stück mehr oder weniger – das Thema wurde nochmals kurz aufgegriffen und Inamorata bereits angedeutet – zerfiel und in Jarretts Improvisation auf dem E-Piano überging, bei der sich Hans Köberlin gut vorstellen konnte, daß ein Soloalbum Jarretts auf dem E-Piano sicher einen größeren Reiz gehabt hätte, als die manchmal doch etwas zu sphärischen Studioalben und Live-Mitschnitte – am bekanntesten wohl der aus der Domstadt vom 24. Januar 1975 – auf dem Konzertflügel.* Dann kam endlich Inamorata, das diesmal allerdings nicht so groovte, weil der Baß nicht so zur Geltung kam, und eher unspektakulär in Sanctuary überging. Sehr schön war es dennoch. Das Konzert – und damit die Reihe der sechs dokumentierten Sets in ›The Cellar Door‹Club – endete, oder besser: klang aus oder verklang passend mit einer äußerst gelungenen abstrakt-minimalistischen Interpretation von It’s About That Time. Hans Köberlin räumte die Frühstücksutensilien weg und ging unter die Dusche.

* Der Satiriker Wiglaf Droste hatte in einer Polemik über das Konzert gereimt …
Schwarze Tasten, weiße Tasten
Töne, die das Herz belasten
Hände, die nicht ruhn noch rasten
Hasten über Tasten, Tasten
Junge Menschen wurden Greise
Wenn Keith Jarrett klimperte
Auf dem Flokati litt ganz leise
Wer vorher fröhlich pimperte
… und es damit auf den Punkt gebracht, seine Bezeichnung »kunstgewerblerisch« traf zu, und wenn man The Köln Concert mit dem verglich, was Miles Davis damals zeitgleich im Reich der aufgehenden Sonne gemacht hatte, dann hatte man den Wandel, der sich damals vollzog vor Augen beziehungsweise in den Ohren. Der Handke-Leser Hans Köberlin war Mitte der siebziger Jahre nicht frei von diesen Anfechtungen gewesen, hatte aber neben Handke auch Bukowski verschlungen.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit] Vom 7. bis zum 12. März 2014, S. 1498f.).