Sonntag, 22. Oktober 2023

Haus und Palme

Der längste Weg zum Meer

Er war dabei, alle möglichen Wegvarianten zwischen seinem Haus und dem Strand zu erkunden und legte sich Routen für alle möglichen Anlässe zurecht (später sollte er sein Routenrepertoire nach Norden hin erweitern, aber dazu mehr, wenn es soweit war). Es kristallisierten sich zwei Hauptrouten heraus …

  • der direkte Weg zum Meer: Hans Köberlin verließ das Haus durch das obere Tor, überquerte die Ausfallstraße (die nicht, wie er lange geglaubt, zu der durch die Berge des Hinterlands verlaufenden Nationalstraße führte, sondern zu dem nächsten Ort an der Küste), ging in die gegenüberliegende Gasse bis zu einem großen Hotel mit roter Fassade und gelben Balkonen, das zwar nicht sonderlich hoch war, aber wuchtig wie ein altes Schlachtschiff (Броненосец Потёмкин, 1925) dalag, ging rechts und dann gleich wieder links und sah von da bereits am Ende der Gasse den (naturgemäß, aber selten auf seinen Bildchen) waagerechten Horizont hinter der schräg nach rechts abfallenden Straße. Wenn er diese Straße am Meer entlang hinabging, dann kam bald der Anfang der Promenade, auf der man, rechterhand flankiert von Hochhäusern die Steilküste entlang zum Strand und zu der ›Tango Bar‹ kam;
  • der kürzeste Weg zum Strand: Hans Köberlin verließ das Haus durch das untere Tor, überquerte die Ausfallstraße, ging sie ein paar Meter hinab, bog dann links in eine Gasse, dann gleich wieder rechts bis zu einer größeren Straße, überquerte diese, ging dann rechts – nicht ohne dabei stets an Gina Lollobrigida zu denken – am ›Hotel Esmeralda‹ vorbei entlang eines kleinen Parkplatzes und kam dann schon an der Promenade heraus, gleich auf der Höhe, wo die ›Tango Bar‹ lag.

Dazu kam später noch …

  • der längste Weg zum Meer: Hans Köberlin verließ das Haus durch das obere Tor, ging dann zu der übernächsten oder überübernächsten Straße und überquerte erst dann die Ausfallstraße und kam so, vorbei an der ›Casa Wagner‹, die wie es aussah nichts mit dem Bayreuther zu tun hatte, weiter oben an der Steilküste heraus.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Erster Teil., Vom 2. Oktober bis zum 19. Dezember 2013, V [Erste Phase – oder: Altlasten] Vom 13. Oktober bis zum 2. November 2013, S. 312ff.).

Donnerstag, 12. Oktober 2023

1971-11-05 Wien [Samstag, der 15. März 2014]

Er konnte dann tatsächlich einmal wieder auf der Dachterrasse frühstücken und ein wenig tomar el sol, wie man im hiesigen Idiom sagte, er würde aber zum Lesen und Schreiben an den Lese- und Schreibtisch gehen, obwohl es seinem Hals besser ging, denn der Hustenreiz war noch da. Zum Frühstück hörte er den Mittschnitt jenes Konzerts, das Miles Davis am 5. November 1971 in der Donaumetropole ‒ diesmal aber wirklich! ‒ gegeben hatte. Es begann – natürlich! – mit Directions, sehr percussionslastig und mit viel zu wenig Baß, es war von der Qualität her wohl wieder eine von den Aufnahmen, die früher als Bootlegs kursiert waren, obwohl diese Aufnahme hier vom ORF aufgezeichnet worden war. Oder lag es an der Qualität des kleinen blauen Lautsprechers? Hans Köberlin war fast so weit, sein Ritual zu unterbrechen und zurück zum ›Cellar Door Club‹ zu gehen, aber nach einer Weile versöhnte ihn Gary Bartz’ Saxophonsolo und Miles Davis’ anschließende etwas weniger verzerrte Übernahme des Soloparts und dann Keith Jarretts elektrisches Piano, das zu Honky Tonk überleitete. Es war eine etwas undramatische Interpretation des Stückes, aber weil er es auf der Dachterrasse hören konnte, ließ er es sich gefallen. Es bekam einen gewissen Groove als Vorspiel für das folgende What I Say. Das wurde ganz anders als üblich interpretiert, ohne die gewohnte Dynamik, und man hatte es am Mischpult immer noch nicht hinbekommen, den tragenden Baß adäquat herauszubringen. Jarrett spielte sehr gut, so gut wie in dieser Zeit mit Miles Davis sollte er nie wieder werden, aber das hatten wir ja schon des öfteren von Hans Köberlin gehört. Aber auch Miles Davis spielte sehr gut, die Minderung beim Hören dieses Konzerts kam allein von der Qualität der Aufnahme. Nach gut fünf Minuten gab es einen Tempowechsel hin zur gewohnten Interpretation, aber wahrscheinlich war auch die Unterteilung der durchgehenden Musik in ihre einzelnen, an den Motiven erkennbaren, Stücke mehr oder weniger willkürlich, und wo früher ein Thema die Stücke abgegrenzt, gab es nun diverse Themen in einem großen Stück, das dann das Set des Konzerts war. Er müßte sich unter diesem Aspekt alle Konzerte nach den Sessions in Washington DC nochmals anhören … neue Binnendifferenzierungen innerhalb der elektrischen Phase … Klar geschieden wurde dann natürlich Sanctuary, zunächst, dann klang das Motiv von Bitches Brew an, es folge eine Aus- und eine Einblende, Hans Köberlin konnte nicht sagen, ob etwas fehlte, wahrscheinlich aber schon, was dann kam … auf Hans Köberlins Version hieß es It’s About That Time und auf der Discographie im weltweiten Netz wurde ergänzt: »as Miles Run(s) The Voodoo Down / Selim« – letzteres würde es wohl explizit übermorgen zum Frühstück geben. Aber Hans Köberlin focht das alles nicht mehr an, er saß auf seiner Dachterrasse und hörte mit zunehmendem Wohlwollen und Wohlbefinden zu. Yesternow dann begann nach einem hörbaren Applaus wieder charakteristisch, lange Zeit über sehr angenehm minimalistisch, dann kam, provoziert vom Saxophon, die Füllung durch die Perkussionisten, ein weiterer hörbarer Applaus, dann eine paar Takte Inamorata, dann eine Improvisation Keith Jarretts, dann weiter mit Inamorata, das auch hier wieder Funky Tonk hieß, dann kam der Abschluß, nochmals mit Sanctuary, von dem es aber nur zwei Takte des Themas gab, nach denen das Konzert endete, wie es begonnen hatte, mit den Perkussionisten.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Sechste Phase ‒ oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung] Vom 13. März bis zum 10. April 2014, S. noch offen).

Mittwoch, 11. Oktober 2023

1971-11-03 Belgrad [Donnerstag, der 13. März 2014]

Zum Frühstück im leeren Wintergarten hörte Hans Köberlin jenes Konzert – es wurde langsam eng mit der Auswahl! –, welches Miles Davis am 3. November 1971 in der Hauptstadt des damals noch existierenden Jugoslawien gegeben hatte. Die Band harmonisierte besser als die von vor rund eineinhalb Jahren, die er am Vortag gehört hatte, jetzt war Keith Jarrett am E-Piano, er blieb wie in Washington DC außerhalb der ihm zugewiesenen Soli bei dem Groove. Es begann – natürlich – mit Directions, dann kam Honky Tonk mit einigen wunderbaren Passagen, aber etwas unglücklich abgemischt, die beiden Perkussionisten waren zu penetrant im Vordergrund, weiter ging es sehr schön mit SivaD, wohl einem Koffer für eine groovige Improvisation, dann kam sehr dynamisch What I Say, gefolgt von Sanctuary und einem schönen Funky Tonk, um mit Yesternow auszuklingen.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Sechste Phase ‒ oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung] Vom 13. März bis zum 10. April 2014, S. noch offen).

Samstag, 7. Oktober 2023

Charakteristik des ›Lesers Hans Köberlin‹ mit Hilfe von Italo Calvino

Wundern Sie sich nicht, wenn Sie meine Augen umherschweifen sehen. Effektiv ist das meine Art zu lesen, nur so wird die Lektüre für mich ergiebig. Wenn mich ein Buch wirklich interessiert, kann ich ihm nur über wenige Zeilen folgen, und schon beginne ich abzuschweifen: Mein Geist fängt einen Gedanken auf, den ihm der Text suggeriert, oder ein Gefühl, eine Frage, ein Bild, und beginnt zu wandern, springt von Gedanke zu Gedanke, von Bild zu Bild und begibt sich auf eine Reise, die ich fortsetzen muß bis ans Ende, selbst wenn ich mich so weit vom Buch entferne, daß ich es aus den Augen verliere. Ich brauche die Anregung durch die Lektüre […] Lesen ist eine diskontinuierliche und fragmentarische Operation. Oder besser ausgedrückt: Gegenstand der Lektüre ist eine punkt- und staubförmige Materie. Im fließenden Fortgang der Schrift unterscheidet die Aufmerksamkeit des Lesers minimale Segmente, Wortverbindungen, Metaphern, syntaktische Kombinationen, logische Abläufe, lexikalische Eigenheiten, die eine äußerst hochkonzentrierte Bedeutungsdichte aufweisen. Sie sind wie die Elementarteilchen, die den Kern eines Werkes bilden, um den alles übrige kreist. Oder wie das leere Loch auf dem Grund eines Strudels, das die Strömungen ansaugt und verschlingt. Durch diese Löcher und Ritzen oder punktförmigen Indizien offenbart sich, aufleuchtend in kaum wahrnehmbaren Blitzen, die innere Wahrheit eines Buches, seine letzte Substanz. Mythen und Mysterien bestehen aus winzigen Krumen, ungreifbar wie der Blütenstaub, der an Schmetterlingsbeinen haftet […] Jedesmal wenn ich auf ein solches Krümchen Bedeutung stoße, muß ich ringsherum weitergraben, um zu prüfen, ob sich das Goldkorn womöglich in einer Goldader fortsetzt. Und darum findet meine Lektüre auch niemals ein Ende: Ich lese und lese wieder und wieder, stets auf der Suche nach einer Bestätigung dessen, was ich in den Ritzen und Falten der Sätze an Neuem entdeckt zu haben glaube […] bei jedem Wiederlesen scheint mir, ich läse zum ersten Male ein neues Buch […] ist die Lektüre – die Aktivität des Lesens – wie ein Bau, der Form gewinnt durch Zusammenfügung einer Unzahl von Variablen und sich nie zweimal nach demselben Bauplan erstellen läßt […] Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß die Lektüre – die Aktivität des Lesens – eine Operation ohne Gegenstand ist. Oder anders ausgedrückt, ihr wahrer Gegenstand ist sie selbst. Das Buch ist nur ein äußeres Hilfsmittel oder gar nur ein Vorwand […] Jedes neue Buch, das ich lese, wird Teil jenes einheitlichen und allumfassenden Buches, das aus der Summe aller meiner Lektüren hervorgeht. Das geschieht nicht ohne Anstrengung: Um jenes Gesamtbuch zu bilden, muß jedes Einzelbuch sich verändern, transformieren, in eine Beziehung treten zu den Büchern, die ich vorher gelesen habe, ihre Fortsetzung oder Weiterentwicklung werden, ihre Widerlegung oder ihr Beiwerk oder ihr Kommentar oder ihr Bezugstext […] Für mich zählt am meisten der Augenblick, der dem Lesen vorangeht. Manchmal genügt schon der Titel, um in mir das Verlangen nach einem Buch zu wecken, das vielleicht gar nicht existiert. Manchmal der Anfang des Buches, das Incipit, die ersten Sätze […] mir gefällt es, in den Büchern nur das zu lesen, was dasteht; und die Details mit dem Ganzen zu verbinden; und gewisse Lektüren als definitiv zu betrachten …

(Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht, München 2004, S. 270ff.).