Donnerstag, 12. März 2015

Sich wundern können

Dekadenz bedeutet den vollständigen Verlust der Unbewußtheit.

(Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 13).

Es gab ja bekanntlich zwei Modi, die einen sich nicht wundern ließen: zum einen wenn nur alltägliche Phänomene in vollkommener Regelmäßigkeit auftraten und die Gewohnheit gerade dies nicht verwundern ließ (wie es Hans Blumenberg einmal in einem Gedankenexperiment formuliert hatte), und zum anderen wenn einem der Alltag zu etwas Wunderlichem geworden war, entweder weil man keine alltägliche Welt mehr hatte oder bloß seinen privaten, mit dem allgemeinen inkompatiblen Alltag, einen Alltag also, der einen sich über nichts mehr wundern ließ, also quasi einen Alltag voller Außeralltäglichkeiten, oder wie in einem Traum, in dem man auch die seltsamsten Umstände und Begebenheiten als selbstverständlich hinnahm.

(aus: … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 572f.).

Vorstellung, das Leben sei ein Roman

Am 8. Juni 1931 diskutierte Walter Benjamin mit Brecht über das Wohnen, wobei Brecht ein »mitahmendes« Wohnen (ein schönes Wort, analog zu »nachahmen« gebildet), »das seine Umwelt ›gestaltet‹, sie passend, gefügig und gefügt anordnet; eine Welt, in der der Wohnende auf seine Weise zu Haus ist«, vom Wohnen als einer »Haltung, sich überall nur als Gast zu fühlen« unterschied. Diese Unterscheidung korreliert frappant mit Claude Lévy-Strauss’ 1962 in La pensée sauvage artikulierte Unterscheidung der Menschheit in Ingenieure und Bricolateure. Benjamin unterschied dagegen »das Wohnen das dem Wohnenden das Maximum und dasjenige, das ihm das Minimum von Gewohnheiten mitgibt.« Und über den ersten Typus schrieb er: »Der Mensch wird eine Funktion der Verrichtungen, die die Requisiten von ihm verlangen.« Und den zweiten Typus des Wohnens nennt er »das Hausen«. (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1982, Bd. 6, S. 435f.). Und zum Abschluß dieses nur zwei Monate umfassenden Tagebuches: »Nachtrag zu Brechts Untersuchungen über das Wohnen und die Vorstellungen im allgemeinen: Wohnen im Hotel. – Vorstellung, das Leben sei ein Roman.« (ebd., S. 441).