Montag, 16. Januar 2023

Aus gegebenem Anlaß [Der kürzeste Weg zum Strand]

Hans Köberlin verließ das Haus durch das untere Tor, überquerte die Ausfallstraße, ging sie ein paar Meter hinab, bog dann links in eine Gasse, dann gleich wieder rechts bis zu einer größeren Straße, überquerte diese, ging dann rechts – nicht ohne dabei stets an Gina Lollobrigida zu denken1109 – am ›Hotel Esmeralda‹ vorbei entlang eines kleinen Parkplatzes und kam dann schon an der Promenade heraus, gleich auf der Höhe, wo die ›Tango Bar‹ lag.

  1. Wegen Jean Delannoys Verfilmung von Hugos Notre­-Dame de Paris aus dem Jahr 1957, in der Anthony Quinn den Quasimodo spielte und Gina Lollobrigida … hier das eben bei Sophia Loren ausgelassene (siehe oben die Fußnote 984 und dort auf S. 266): »… wie sie als schöne Zigeunerin Esmeralda als ein ›natürlicher Mensch‹ inmitten einer bizarren, besessenen und erstickenden (Männer-)Welt erschienen war, der die mühsam unterdrückten Triebregungen wieder erweckt, zugleich aber auch die Fähigkeit zu reiner Liebe schafft« (Georg Seeßlen, Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Marburg 31996, S. 84). Wie bei der Adaption von Ecos Roman, so blieb auch bei dieser Hugo-Verfilmung der weiblichen Protagonistin der im Roman vorgesehene Tod auf dem Scheiterhaufen erspart, vielleicht aus ähnlichen Motiven, die Schiller dazu veranlaßt hatten, seine Johanna nicht verbrennen, sondern enthaupten zu lassen. Die gleiche Wirkung wie als schöne Zigeunerin Esmeralda erzielte sie auch als la donna più bella del mondo in Robert Z. Leonards gleichnamigem Film aus dem Jahr 1955. Wir zitieren aus Hans Köberlins Arbeitsjournal vom Samstag, dem 5. Oktober 2019: »Da gab es einiges, von Aschenbrödel bis Hamlet (»Die Kunst fliegt um die Wahrheit, aber mit der entschiedenen Absicht sich nicht zu verbrennen. Ihre Fähigkeit besteht darin in der dunklen Leere einen Ort zu finden, wo der Strahl des Lichts, ohne daß dies vorher zu erkennen gewesen wäre, kräftig aufgefangen werden kann.« (Franz Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer; in: Gesammelte Werke, in zwölf Bänden nach der kritischen Ausgabe hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main 22014, Bd. 6, S. 196)): ein einfaches Mädchen schaffte aus Liebe über den Umweg des Tingeltangels den Sprung zur Diva in der italienischen Oper. Auf dem Weg dorthin gab es drei Männer: den bösen Verehrer, den guten Verehrer und die wahre Liebe, ein russischer Prinz, der plötzlich wegen eines Mißverständnisses (wegen der Wette mit den Kameraden: Reitstall vs. Verführung der Unnahbaren, als er Lina noch nicht wiedererkannt hatte) außenvor war. Der gute Verehrer war der Tenor, der während einer Tosca-Aufführung von einem Schergen des bösen Verehrers erschossen wurde. Wie in der Opernhandlung entdeckte Tosca den vermeintlich nur zum Schein erschossenen Cavaradossi wirklich tot auf dem Dach der Engelsburg. Lina verdächtigte die wahre Liebe und mied seitdem ihn und weitere Tosca-Inszenierungen. Als sie ihn dann nach Jahren auf Einladung des Zaren doch noch mit der Tosca brüskieren wollte, entlarvte sich der wahre Täter während der Wiederholung der Schlüsselszene, und sie konnte endlich der wahren Liebe in die Arme fallen. Es ging offensichtlich vor allem darum, das Dekolleté von Gina Lollobrigida in Szene zu setzen, was ganz gut gelungen und wogegen nichts zu sagen war.« Irgendwann, bei einer seiner fast täglichen Passagen des ›Hotel Esmeralda‹, hatte Hans Köberlin noch eine weitere Assoziation, allerdings eine vom gleichen Kaliber, wenn man das einmal so lax formulieren darf: »Ich schelle, die Thür geht von selber auf, und auf dem Flur kommt mir eine geputzte Madam entgegen […] und begrüßt mich […] wie einen Langerwarteten, komplimentiert mich danach durch Portieren in ein schimmernd Gemach mit eingefaßter Bespannung, einem Kristall-Lüster, Wandleuchtern vor Spiegeln, und seidnen Gautschen, darauf sitzen dir Nymphen und Töchter der Wüste, sechs oder sieben, wie soll ich sagen, Morphos, Glasflügler, Esmeralden, wenig gekleidet, durchsichtig gekleidet, in Tüll, Gaze und Glitzerwerk, das Haar lang offen, kurzlockig das Haar, gepuderte Halbkugeln, Arme mit Spangen, und sehen dich mit erwartungsvollen, vom Lüster gleißenden Augen an […] Ich stand und verbarg meine Affecten, sehe mir gegenüber ein offen Klavier, einen Freund, geh über den Teppich drauf los und schlage im Stehen zwei, drei Akkorde an, weiß noch, was es war, weil mir das Klangphänomen gerade im Sinne lag, Modulation von H- nach C-Dur, aufhellender Halbton-Abstand wie im Gebet des Eremiten im Freischütz-­Finale, bei dem Eintritt von Pauke, Trompeten und Oboen auf dem Quartsextakkord von C. Weiß es im Nachher, wußte es aber damals nicht, sondern schlug eben nur an. Neben mich stellt sich dabei eine Bräunliche, in spanischem Jäckchen, mit großem Mund, Stumpfnase und Mandelaugen, Esmeralda, die streichelt mir mit dem Arm die Wange. Kehr ich mich um, stoß mit dem Knie die Sitzbank bei Seite und schlage mich über den Teppich zurück durch die Lusthölle, an der schwadronierenden Zatzenmutter vorbei, durch den Flur und die Stufen hinab auf die Straße, ohne das Messinggeländer nur anzufassen.« (Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, Frankfurt am Main 1986, S. 190f.). Es war jene Esmeralda, bei der sich ein Jahr später der Tonsetzer Adrian Leverkühn mit vollem Bewußtsein (»Sie erfuhr auch aus seinem Munde, daß er die Reise hierher um ihretwillen zurückgelegt habe, und sie dankte es ihm, indem sie ihn vor ihrem Körper warnte.« (ebd., S. 206) die Syphilis holen sollte, Manns immanente Variante des transzendenten Teufelspakts. Und Leverkühn setzte seiner Esmeralda nach seiner Art ein Denkmal: »So findet sich in den Tongeweben meines Freundes eine fünf- bis sechsköpfige Notenfolge, mit h beginnend, mit es endigend und mit wechselndem e und a dazwischen, auffallend häufig wieder, eine motivische Grundfigur von eigentümlich schwermütigem Gepräge, die in vielfachen harmonischen und rhythmischen Einkleidungen, bald der, bald jener Stimme zugeteilt, oft in vertauschter Reihenfolge, gleichsam um ihre Achse gedreht, so daß bei gleichbleibenden Intervallen die Abfolge der Töne verändert ist, darin ihr Wesen treibt […] Es bedeutet aber diese Klang-Chiffre h e a e es: Hetaera esmeralda.« (ebd., S. 207). Noch zu erwähnen wäre jene Esmeralda, die nach einem Zirkusbesuch des siebenjährigen Ingmar Bergman in dessen Leben eine große Rolle gespielt hatte: »Jemand flüsterte, in einer dunklen Nische unter der Zirkuskuppel habe sich ein Löwe gezeigt, die Clowns waren furchterregend und böse, ich schlief vor Gemütsbewegung ein und wachte bei wunderbarer Musik wieder auf: Eine junge Frau in Weiß ritt auf einem gewaltigen schwarzen Hengst. Mich ergriff Liebe zu der jungen Frau. Ich schloß sie in meine Phantasiespiele ein und nannte sie Esmeralda (vielleicht hieß sie wirklich so). Meine Phantasien vollzogen am Ende den allzu gefährlichen Schritt in die Wirklichkeit hinaus, als ich meinem Klassenkameraden Nisse unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute, meine Eltern hätten mich an den Zirkus Schumann verkauft, man werde mich bald zu Hause abholen und mich zusammen mit Esmeralda, der schönsten Frau der Welt, zum Akrobaten ausbilden. Am nächsten Tag war meine Phantasie in aller Munde und geschändet […] Ich selbst rächte mich an meinem ehemaligen Freund, indem ich ihn mit dem Dolch meines Bruders über den Schulhof jagte. Als eine Lehrerin dazwischenging, versuchte ich, sie umzubringen. Ich wurde vom Schulbesuch ausgeschlossen und bezog reichlich Prügel. Später bekam mein falscher Freund Kinderlähmung und starb, was mir große Freude machte. Die Klasse wurde wie üblich drei Wochen lang beurlaubt, und alles geriet in Vergessenheit. Ich phantasierte jedoch weiterhin von Esmeralda. Unsere Abenteuer wurden immer gefährlicher, und unsere Liebe immer leidenschaftlicher. Unterdessen schaffte ich es aber noch, mich mit einem Mädchen aus der Klasse zu verloben, das Gladys hieß. Mit der betrog ich Tippan, meine treue Spielgefährtin.« (Ingmar Bergman, Mein Leben, Berlin 21989, S. 16f.). Diese Erlebnisse fanden ihren Niederschlag unter anderem auch in Gycklarnas afton (1953), wir zitieren auch zu diesem Film aus Hans Köberlins Arbeitsjournal vom Mittwoch, dem 19. November 2008: »Es tat wohl, wieder einmal einen Bergman zu sehen. Die Gauckler zogen am Horizont auf, wie dann fünf Jahre später Max von Sydow in Det sjunde inseglet (siehe unten S. 579f.). Und die stärkste Szene des Films folgte auch alsbald: die Frau des Clowns trieb harmlos-frivole Spielchen mit den Offizieren eines Manövers. Einer von denen machte sich einen Spaß daraus, seinen Burschen zu dem Clown zu schicken, um dem das mitzuteilen. Der Clown machte sich auf, holte seine mittlerweile nackte Frau da heraus und trug sie – nachdem man ihre Kleider versteckt hatte – unter dem Gelächter sowohl der Soldaten als auch seiner Kollegen vom Zirkus nach Hause (zum Lager des Zirkus), wieder am Horizont. Die Frau lachte mittlerweile nicht mehr, und der Clown trug sie derart unter der Last leidend, wie Jesus unter der Last des Kreuzes, auch stürzte er wie jener mehrmals (Liebe als Passion), bis er selbst davongetragen werden mußte. Bergman hatte gewollt, daß man diese Assoziation zog, das merkte man, daß er dies gewollt hatte. Die eigentlichen Protagonisten des Films waren der Zirkusdirektor Albert Johansson, seine Geliebte Anne, der Schauspieler Frans, der Anne verführte, und Alberts verlassene Ehefrau Agda. Albert und Anne versuchten vom Zirkus wegzukommen, je für sich mit Frans und Agda (Agda war froh, daß sie Albert los war), doch es haute nicht hin, und Albert erlebte dabei durch Frans eine Demütigung, die ihn fast zum Selbstmord trieb (er war soweit, aber die Pistole versagte). Am Ende folgten Albert und Anne gemeinsam den Zirkuswagen, und es steckte ein Trost in diesem Bild. Agdas Welt war die sichere Welt der Mutter, die in sich ruhte, und Frans war bloß ein kultivierter Laffe. Der Theaterdirektor Sjuberg sprach das aus, nämlich daß bloß Kultivierung und Seßhaftigkeit ihn und seinesgleichen von den Artisten unterscheide, Kunst und Kunstfertigkeit, wobei da die Grenzen zwischen Theater und Zirkus verschwammen, was Bergman sehr schön zeigte, in der Art, wie Frans seinen Bühnenmonolog hielt. Die Überlegenheit der Kultur zeigte sich darin, daß der schwächere Frans mit seiner Kampftechnik Albert verprügeln konnte (ich merke, meine Sympathien gehören – wenn ich denn wählen muß – den Plebejern, zumindest in diesem Fall).« Und last but not least gab es noch jene von Angela Jones gespielte Esmeralda Villalobos, die als Taxifahrerin in Pulp Fiction (1994) Butch nach seinem fatalen Boxkampf ‒ »So what does it feel like to kill a man with your bare hands? It’s a topic I’m very interested in.« ‒ zu seiner Fabienne brachte. Apropos Quentin Tarantino: bei dem fallen uns noch Santa Esmeralda ein und deren Version des Klassikers Don’t Let Me Be Misunderstood, die in Kill Bill – Vol. 1 (2003, siehe die Fußnote 1951 unten auf S. 634f.) als Overtüre zu dem im Schnee und mit Samuraischwertern ausgeführten Duell zwischen the Bride und O-Ren Ishii zu hören war. Und falls noch weitere Esmeralden auftauchen, werden wir darüber in den Nachlesen berichten.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Erster Teil., Vom 2. Oktober bis zum 19. Dezember 2013, V [Erste Phase – oder: Altlasten] Vom 13. Oktober bis zum 2. November 2013, S. 312ff.).

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