Samstag, 7. Oktober 2023

Charakteristik des ›Lesers Hans Köberlin‹ mit Hilfe von Italo Calvino

Wundern Sie sich nicht, wenn Sie meine Augen umherschweifen sehen. Effektiv ist das meine Art zu lesen, nur so wird die Lektüre für mich ergiebig. Wenn mich ein Buch wirklich interessiert, kann ich ihm nur über wenige Zeilen folgen, und schon beginne ich abzuschweifen: Mein Geist fängt einen Gedanken auf, den ihm der Text suggeriert, oder ein Gefühl, eine Frage, ein Bild, und beginnt zu wandern, springt von Gedanke zu Gedanke, von Bild zu Bild und begibt sich auf eine Reise, die ich fortsetzen muß bis ans Ende, selbst wenn ich mich so weit vom Buch entferne, daß ich es aus den Augen verliere. Ich brauche die Anregung durch die Lektüre […] Lesen ist eine diskontinuierliche und fragmentarische Operation. Oder besser ausgedrückt: Gegenstand der Lektüre ist eine punkt- und staubförmige Materie. Im fließenden Fortgang der Schrift unterscheidet die Aufmerksamkeit des Lesers minimale Segmente, Wortverbindungen, Metaphern, syntaktische Kombinationen, logische Abläufe, lexikalische Eigenheiten, die eine äußerst hochkonzentrierte Bedeutungsdichte aufweisen. Sie sind wie die Elementarteilchen, die den Kern eines Werkes bilden, um den alles übrige kreist. Oder wie das leere Loch auf dem Grund eines Strudels, das die Strömungen ansaugt und verschlingt. Durch diese Löcher und Ritzen oder punktförmigen Indizien offenbart sich, aufleuchtend in kaum wahrnehmbaren Blitzen, die innere Wahrheit eines Buches, seine letzte Substanz. Mythen und Mysterien bestehen aus winzigen Krumen, ungreifbar wie der Blütenstaub, der an Schmetterlingsbeinen haftet […] Jedesmal wenn ich auf ein solches Krümchen Bedeutung stoße, muß ich ringsherum weitergraben, um zu prüfen, ob sich das Goldkorn womöglich in einer Goldader fortsetzt. Und darum findet meine Lektüre auch niemals ein Ende: Ich lese und lese wieder und wieder, stets auf der Suche nach einer Bestätigung dessen, was ich in den Ritzen und Falten der Sätze an Neuem entdeckt zu haben glaube […] bei jedem Wiederlesen scheint mir, ich läse zum ersten Male ein neues Buch […] ist die Lektüre – die Aktivität des Lesens – wie ein Bau, der Form gewinnt durch Zusammenfügung einer Unzahl von Variablen und sich nie zweimal nach demselben Bauplan erstellen läßt […] Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß die Lektüre – die Aktivität des Lesens – eine Operation ohne Gegenstand ist. Oder anders ausgedrückt, ihr wahrer Gegenstand ist sie selbst. Das Buch ist nur ein äußeres Hilfsmittel oder gar nur ein Vorwand […] Jedes neue Buch, das ich lese, wird Teil jenes einheitlichen und allumfassenden Buches, das aus der Summe aller meiner Lektüren hervorgeht. Das geschieht nicht ohne Anstrengung: Um jenes Gesamtbuch zu bilden, muß jedes Einzelbuch sich verändern, transformieren, in eine Beziehung treten zu den Büchern, die ich vorher gelesen habe, ihre Fortsetzung oder Weiterentwicklung werden, ihre Widerlegung oder ihr Beiwerk oder ihr Kommentar oder ihr Bezugstext […] Für mich zählt am meisten der Augenblick, der dem Lesen vorangeht. Manchmal genügt schon der Titel, um in mir das Verlangen nach einem Buch zu wecken, das vielleicht gar nicht existiert. Manchmal der Anfang des Buches, das Incipit, die ersten Sätze […] mir gefällt es, in den Büchern nur das zu lesen, was dasteht; und die Details mit dem Ganzen zu verbinden; und gewisse Lektüren als definitiv zu betrachten …

(Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht, München 2004, S. 270ff.).

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