Mittwoch, 1. April 2015

Nochmals eine Hoffnung

Wenn in einem Autor etwas steckt, kann keine Absicht, mag sie noch so albern oder irrig sein, dem Werk einen Schaden unheilbarer Art zufügen. Ein Autor mag an absurden Vorurteilen kranken; sein Werk dagegen, wenn es echt ist und einer echten Vision entspringt, kann nicht absurd sein.

(Jorge Luis Borges, Nathaniel Hawthorne; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 7: Inquisitionen, Frankfurt am Main 1992, S. 77).

Nochmals Hawthorne: eine Warnung

Amid the seeming confusion of our mysterious world individuals are so nicely adjusted to a system, and systems to one another and to a whole, that by stepping aside for a moment a man exposes himself to a fearful risk of losing his place for ever. Like Wakefield, he may become, as it were, the outcast of the universe.

(Nathaniel Hawthorne, Wakefield; vgl. Über Wakefield und ähnliche Gestalten).

Über Wakefield und ähnliche Gestalten

Clemens las Wakefield zu Ende, eine kurze Erzählung von Nathaniel Hawthorne (dem Freund Melvilles, der ihm Moby Dick gewidmet hatte), mit deren Lektüre er (…) begonnen hatte, weil Hans Köberlin auf die Erzählung zu sprechen gekommen war. Der Erzähler berichtete darin von einer kurzen Zeitungsnotiz, nach der ein Ehemann sich von seiner Frau anläßlich einer kleinen Reise für ein paar Tage höchstens verabschiedet hatte, dann heimlich in eine Wohnung in der Nachbarschaft gezogen war, dort inkognito gelebt und sein Leben ohne sich beobachtet hatte und erst nach zwanzig Jahren an den heimischen Herd zurückgekehrt war. Hawthornes Erzähler schickte sich nun an, den Raum, den diese karge Notiz eröffnet hatte, mit einem Psychogramm des Mannes, den er Wakefield nannte, zu füllen.
Hans Köberlin hatte den Text für eine geplante aber leider nie realisierte Anthologie ausgewählt, in der Zeugnisse versammelt werden sollten, die mit erschreckender Konsequenz zeigten, wie Menschen Jahrzehnte ihres eigenen und einzigen Lebens nichteten oder genötigt wurden, dies zu tun. Kafkas Vor dem Gesetz sollte die Anthologie eröffnen, dann sollte ein einleitender Essay Hans Köberlins folgen, außerdem wollte er noch seinen Text über Frank Capras It’s a wonderful life (…) einbringen, unter anderem war dann noch Alieta des hier nur durch Borges, glaube ich, breiter bekannten Leopoldo Lugones vorgesehen, von Borges natürlich Die Wartezeit nebst Vom Warten und vom Traum. Versuch eines Kommentars zu Jorge Luis Borges’ Die Wartezeit, verfertigt von Hans Köberlin (vgl. »Dicht hinter dem Ideal kommt nämlich das Zufälliges als das Nächste.«), dann noch Faulkners Rosa Coldfield aus Absalom, Absalom! und Schilderungen von auf Bahnsteigen über die Zeit hinaus warten müssenden Menschen (Bahnsteige, auf denen, davon war Hans Köberlin überzeugt gewesen, durch das Gebaren der Bahn systematisch Amokläufer und Bombenleger herangezüchtet wurden), und schließlich noch Bartleby hatte Köberlin in seiner möglichen Liste der Beispiele (die natürlich wesentlich mehr Zeugnisse umfaßte als die hier von uns erwähnten) als Grenzfall angeführt. Er könne die Unerbittlichkeit der Rache des Edmond Dantès nach vierzehn Jahren im Château d’If gut nachvollziehen, bekannte Hans Köberlin in den Versuchen zu dem einleitenden Essay (…)
Eine Schlüsselstelle kam einer Passage aus Robert Walsers Jakob von Gunten zu. Eines Tages, so schrieb der, werde von seinem Wesen und Beginnen irgendein Duft ausgehen, er werde Blüte sein und ein wenig, wie zu seinem eigenen Vergnügen, duften, und dann werde er den Kopf neigen. Die Arme und Beine würden ihm seltsam erschlaffen, der Geist, der Stolz, der Charakter, alles, alles werde brechen und welken, und er werde tot sein, nicht wirklich tot, nur so auf eine gewisse Art tot, und dann werde er vielleicht sechzig Jahre so dahinleben und -sterben. Von diesen vielleicht sechzig Jahren glaubte Hans Köberlin (laut Tagebuch), daß er sie selber so nicht aushalten könne, und auch Clemens konnte sich nicht vorstellen, das ertragen zu können.

(aus: … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 156ff.).

Autoren und ihre Figuren

… ohne Zweifel hat Cervantes Don Quijote gut gekannt und konnte an ihn glauben. Unser Glaube an den Glauben des Romanciers rettet alle Nachlässigkeiten und Fehler. Was bedeuten unglaubliche oder plumpe Vorgänge, wenn wir spüren, daß der Autor sie nicht ersonnen hat, um unsere Gutgläubigkeit zu übertölpeln, sondern um seine Gestalten zu definieren. Was bedeuten die albernen Skandale und verworrenen Untaten am vermeintlich dänischen Hof, wenn wir an den Prinzen Hamlet glauben.

(Jorge Luis Borges, Nathaniel Hawthorne; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 7: Inquisitionen, Frankfurt am Main 1992, S. 67).

Empirie

¡Hans Koberlin vive! in Daten (der Stand von heute):

  • Stand des Manuskripts: S. 742 von ca. 1.800 Seiten
  • Stand der Überarbeitung:
    • Seiten: S. 588 von ca. 1.800 Seiten
    • Kapitel: X (= Phase IV – oder: modus vivendi) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Montag, der 20. Januar 2014, der 111. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
  • Fußnoten Stand des Manuskripts: 2071
  • Fußnoten am Stand der Überarbeitung: 1602
  • Beginn der Handlung: 23. Oktober 4004 vor unserer Zeitrechnung, 9 Uhr vormittags*
  • Ende der Handlung: fällt mit dem Ende der (oder bloß einer?) Welt zusammen
  • Beginn der Niederschrift: Mittwoch, den 2. Oktober 2013
  • Ende der Niederschrift: noch nicht abzusehen


* (= die momentane Fußnote 274 auf S. 58) Wir haben für unseren Prolog den Zeitraum von Anbeginn der Schöpfung bis zum Dienstag, dem 1. Oktober 2013 veranschlagt. – Nun: »In der Schiffsbibel von Charles Darwin auf der ›Beagle‹, mit der er von 1831 bis 1836 die Welt bereiste, stand das Datum der Weltschöpfung eingetragen: 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt, 9 Uhr vormittags.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 47).

Wird aktualisiert!