Sonntag, 17. September 2023

»… wie jeder Pudding …«

»… das Glück kennt Rezepte wie jeder Pudding. Es kommt auf Grund einer genauen Dosierung verschiedener Elemente zustande. Es ist ein Effekt.«

(Walter Benjamin, Das Passagen-Werk; in: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. v. Ralf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, Bd. V.2, S. 785).

Dienstag, 5. September 2023

Glück … heute … heute vor …

2013
2014
2015
2017
2020
2021
heute

Empirie, 32. Update

¡Hans Koberlin vive! in Daten (der Stand von heute):
  • Stand des Manuskripts:
    • Seiten: S. 1.804 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 4.830
  • Stand der Bearbeitung:
    • Seiten: S. 1.543 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 4.014
    • Kapitel: XIV (= Phase 6 – oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung*) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Bearbeitung: Freitag, der 14. März 2014, der 164. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
  • Der Beginn der Handlung ist mit Analepsen der Sonntag, der 23. Oktober 4004 vor unserer Zeitrechnung, 9 Uhr vormittags,* ohne Analepsen der Herbst 2012.
  • Das Ende der Handlung fällt mit den Prolepsen mit dem Ende der (oder bloß einer?) Welt zusammen,** ohne Prolepsen mit dem Frühjahr 2016.
  • Beginn der Niederschrift: Mittwoch, den 2. Oktober 2013
  • Ende der Niederschrift: noch nicht abzusehen.
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen.

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seiten: S. 778 von 778 Seiten
    • Fußnoten: 2.280
    • Kapitel: VIII (= Dritte Phase – oder: Konsolidierung) von VIII Kapiteln nebst einem vorläufigen Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Donnerstag, der 19. Dezember 2013, der 79. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teils des zweiten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen (obwohl der erste Teilband noch nicht publiziert wurde – c’est la vie).

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seite: S. 1.525
    • Fußnoten: 3.986
    • Kapitel: XIV (= Phase 6 – oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung*) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Donnerstag, der 13. März 2014, der 163. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen


* (= die Fußnote 3970 auf S. 1512) Rainald Goetz, Word, Hamburg 1994.
** (= die Fußnote 5 auf S. 7) »Non in tempore sed cum tempore Deus creavit caela et terram.« (Augustinus).
Nun: »In der Schiffsbibel von Charles Darwin auf der ›Beagle‹, mit der er von 1831 bis 1836 die Welt bereiste, stand das Datum der Weltschöpfung eingetragen: 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt, 9 Uhr vormittags.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 47). Das war ein Sonntag, am folgenden Freitag war er, der Schöpfer, fertig, und auch das jüngste Gericht soll nach christlichen Vorstellungen auf einen Freitag fallen, ein Datum haben wir gerade nicht zur Hand.
»Soldats, quarante siècles vous regardent!«
»L’ouvrage que j’ai entrepris aura la longueur d’une histoire«, hatte Balzac stolz in seinen Avant-Propos de La Comédie humaine postuliert.
*** (= eine Anmerkung aus der fünften Nachlese) »Die Welt des Dichters ist nicht die einzige Welt. Es gibt mehrere Dichter.« (Bertolt Brecht, Schriften zum Theater 1; in: Gesammelte Werke, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1967, Bd. 15, S. 393).

Wird aktualisiert!

Sonntag, 6. August 2023

1971-10-22 Dietikon (Newport) [Dienstag, der 11.März 2014]

Es war bereits nach Mittag, als Hans Köberlin aufstand, um das Frühstück zuzubereiten und die Frau unter die Dusche stieg. Wenn Hans Köberlin das richtig im Blick hatte, was er nicht hatte, dann hatte er in seinem Archiv nur noch fünf wirkliche Konzertmitschnitte für sein Ritual über, dann kämen die Kompilationen diverser Auftritte und Teo Maceros aus den Cellar Door- und den Jack Johnson-Sessions zusammenmontiertes Phantasiekonzert LivE EviL. Alle die fünf Konzerte waren mit ähnlichen Sets aus der Zeit von Bitches Brew und Jack Johnson. Er entschied sich für ein Konzert, das Miles Davis am 22. Oktober 1971 im Rahmen einer Europatournee des Newport-Festivals im eidgenössischen Dietikon gegeben hatte. Es waren, wie gesagt, die üblichen Stücke mit Directions zum Auftakt, Hans Köberlin war einmal wieder erstaunt, daß Miles Davis dem so oft gespielten Stück stets neue Aspekte abgewinnen konnte, auch er stieg also niemals in den gleichen Fluß. Im Gegensatz zu dem Konzert gestern kam hier wieder der Baß seinen nötigen Spielraum, was dann wohl so bleiben würde. Übergangslos ging es dann mit What I Say weiter und Hans Köberlin bemühte sich, das entspannte bewußte Hören mit der Konversation mit der Frau unter einen Hut zu bringen. Bei dem Stück störte ihn, daß der schöne Groove durch ein Perkussionssolo abgewürgt wurde. Das Solo leitete nach ein paar Takten den vorherigen Themas über zu Sanctuary, eine seltsame Dramaturgie, wie Hans Köberlin fand. Auch das daran anschließende Itʼs About That Time wurde neu und sehr ansprechend interpretiert, vor allem mit Baß und E-Piano. Es folgte in einer knapp zwölfminütigen Version Bitches Brew, angenehm sehr langsam und quasi sortiert, aber mit einem abrupten Ende, denn plötzlich war man bei Funky Tonk, das sehr verhalten mit ein paar wunderschönen kristallenen Akkorden auf dem E-Piano, von der Stimmung fast wie I Love Him Madly, begann ‒ entweder war das Publikum sehr verständig gewesen, oder man hatte es herausfiltern können ‒, und plötzlich ‒ Hans Köberlin merkte, daß er dieses Konzert lange nicht mehr gehört hatte ‒ war es dann nicht mehr Funky Tonk, sondern Inamorata in einer sehr schönen langsamen Version ohne das Pathos der Cellar Door-Sessions. Zum Schluß kamen dann nochmals ein paar Takte Sanctuary mit dem Beifall des Publikums.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit] Vom 7. bis zum 12. März 2014, S. 1505f.).

1970-12-19 Washington 2nd Set [Montag, der 10. März 2014]

Zum Frühstück dann hörte Hans Köberlin, nun wieder turnusgemäß, das zweite Set jenes Konzerts, das Miles Davis am 19. Dezember 1970 in ›The Cellar Door‹‐Club, 34th and M Street NW in Washington, D. C., gegeben hatte und bei dem John McLaughlin wieder als Gastmusiker dabeigewesen war. Es begann, wie auch die anderen Sets, mit Directions, bei dem diesmal Jack DeJohnette eine etwas längere Vorgabe hatte, Miles Davis mit der elektrisch verzerrten Trompete den Orgasmus des Themas lange hinauszögernd, dafür dann aber lange zelebrierend, dann ein schönes Saxophon-Solo über der Rhythmus-Gruppe, dann McLaughlin und Jarrett, bei denen das Stück mehr oder weniger – das Thema wurde nochmals kurz aufgegriffen und Inamorata bereits angedeutet – zerfiel und in Jarretts Improvisation auf dem E-Piano überging, bei der sich Hans Köberlin gut vorstellen konnte, daß ein Soloalbum Jarretts auf dem E-Piano sicher einen größeren Reiz gehabt hätte, als die manchmal doch etwas zu sphärischen Studioalben und Live-Mitschnitte – am bekanntesten wohl der aus der Domstadt vom 24. Januar 1975 – auf dem Konzertflügel.* Dann kam endlich Inamorata, das diesmal allerdings nicht so groovte, weil der Baß nicht so zur Geltung kam, und eher unspektakulär in Sanctuary überging. Sehr schön war es dennoch. Das Konzert – und damit die Reihe der sechs dokumentierten Sets in ›The Cellar Door‹Club – endete, oder besser: klang aus oder verklang passend mit einer äußerst gelungenen abstrakt-minimalistischen Interpretation von It’s About That Time. Hans Köberlin räumte die Frühstücksutensilien weg und ging unter die Dusche.

* Der Satiriker Wiglaf Droste hatte in einer Polemik über das Konzert gereimt …
Schwarze Tasten, weiße Tasten
Töne, die das Herz belasten
Hände, die nicht ruhn noch rasten
Hasten über Tasten, Tasten
Junge Menschen wurden Greise
Wenn Keith Jarrett klimperte
Auf dem Flokati litt ganz leise
Wer vorher fröhlich pimperte
… und es damit auf den Punkt gebracht, seine Bezeichnung »kunstgewerblerisch« traf zu, und wenn man The Köln Concert mit dem verglich, was Miles Davis damals zeitgleich im Reich der aufgehenden Sonne gemacht hatte, dann hatte man den Wandel, der sich damals vollzog vor Augen beziehungsweise in den Ohren. Der Handke-Leser Hans Köberlin war Mitte der siebziger Jahre nicht frei von diesen Anfechtungen gewesen, hatte aber neben Handke auch Bukowski verschlungen.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit] Vom 7. bis zum 12. März 2014, S. 1498f.).

Samstag, 5. August 2023

1970-12-19 Washington 1st Set [Mittwoch, der 12. Februar 2014]

Der Himmel war tatsächlich wieder blau und Hans Köberlin machte sich auf zu seinem Dauerlauf und konnte anschließend – endlich! – auf der hinteren Dachterrasse unter dem wieder aufgestellten Sonnenschirm frühstücken. Es gab daher keinen der drei gestern erinnerten Filme, sondern Hans Köberlin hörte, sich auf Michael Hendersons Elektrobaß freuend, das erste Set jenes Konzerts, das Miles Davis am Samstag, dem 19. Dezember 1970 in ›The Cellar Door‹-Club, 34th and M Street NW in Washington, D. C., gegeben hatte. Wie gestern im ›Fillmore West‹ gab es drei Stücke, Directions, Honky Tonk und What I Say, die groovige Stimmung war wie bei den vier Sets zuvor,* nur daß hier noch John McLaughlin dazugestoßen war und eine seiner besten Perfomances gegeben hatte. Besonders beeindruckt – beeindruckt im Sinne der bereits mehrfach bemühten kleinen gelben Mauerecke – war Hans Köberlin diesmal von dem Einsetzen von Gary Bartz’ Saxophon bei Honky Tonk, nach Miles Davis’ – in dem Part nicht mit Wah-Wah-Pedal verzerrten – Trompete.

* Insgesamt waren zehn Sets mitgeschnitten worden und Hans Köberlin fragte sich, warum man bloß sechs ausgewählt hatte anstatt sie sämtlich zu publizieren. Wir wollen an dieser Stelle aus dem Beibuch zu dem Cellar Door-Box-Set noch Michael Henderson zitieren, wie er ein Erscheinen – wohl im Sinne von Epiphanie – von Miles Davis’ Frau oder damals bereits Ex-Frau – wir wissen es nicht –, beschrieb: »Betty [Mabry] comes in and she had on this see-through blouse with no bra … you know the era, free love and all that Jimi Hendrix kind of stuff, in 1969, 1970, you know.«

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014 Vom 31. Januar bis zum 9. Februar 2014, S. 1199).

Freitag, 4. August 2023

1970-12-18 Washington 2nd Set [Freitag, der 31. Januar 2014]

Hans Köberlin frühstückte, da noch in der Stimmung, als sei es ein Tag wie jeder andere, im leeren Wintergarten und hörte dazu das zweite Set jenes Konzerts, das Miles Davis am 18. Dezember 1970 in ›The Cellar Door‹-Club, 34th and M Street NW in Washington, D. C., gegeben hatte. Es war von der Auswahl der Stücke und von der Grundstimmung ihrer Interpretation her wie bei den vorigen drei Konzerten in dem Club, wobei die Stücke nach mehrmaligem aufmerksamen Hören ihren individuellen Charakter bekamen. Aber bei jedem jeweiligen Hören jedes der sechs Sets hatte Hans Köberlin den Eindruck, gerade dieses sei das beste Set, und man könnte wegen dieser Eindrücke Leopold von Rankes Wort abwandeln und – fast – in dessen Intention sagen, jedes Set war unmittelbar zu Hans Köberlin und seine Qualität beruhte gar nicht auf dem, was aus ihm hervorging, sondern in seiner Existenz selber, in seinem Eigenen selber.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur] Vom 31. Januar bis zum 9. Februar 2014, S. 1099).

Donnerstag, 3. August 2023

1970-12-18 Washington 1st Set [Dienstag, der 21. Januar 2014]

Beim Abrufen seiner elektronischen Post erfuhr er durch eine wohl gezielt lancierte Werbung im weltweiten Netz, daß im März ein neues Box-Set von Miles Davis aus der Bootleg-Serie erscheinen sollte, mit Aufnahmen aus der Bitches Brew- und Tribute to Jack Johnson-Zeit, und wenn Hans Köberlin wirklich in dieser sublunaren Welt weitermachen wollte, dann mußte er dieses Box-Set natürlich haben, egal wie leicht er sich machen wollte!
»Kein Glück ohne Fetischismus.«*
Aber zunächst hörte er zum Frühstück das erste Set jenes Konzerts, das Miles Davis am 18. Dezember 1970 in ›The Cellar Door‹-Club, 34th and M Street NW in Washington, D. C., gegeben hatte. Es dauerte gut eine Dreiviertelstunde und bestand aus Directions, Honky Tonk und What I Say. Diese Konzerte in Washington blieben, wie gesagt, während der vier Tage, in denen sie stattfanden, homogen und Hans Köberlin verlor sich gedankenleer im leeren Wintergarten wieder bei den durch Miles Davis Akzente möglich gewordenen Grooves von Jack DeJohnette, Keith Jarrett und Michael Henderson und bei dem schier endlosen Prolog, der Honky Tonk war, und bei dem schier endlosen Intro What I Say.

* Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben; in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 1986, Bd. 4, Auktion, S. 137. Wir haben dieses Diktum bereits oft zitiert.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 1016).

1970-12-17 Washington [Dienstag, der 7. Januar 2014]

Die Sonne schien und es war windstill, so daß er, als er seine Runde durch hatte, auf der anderen Dachterrasse frühstücken konnte. Dazu wollte er, um an das gestrige Frühstück mit der jetzt abwesenden Frau erinnert zu werden, das Konzert hören, das Miles Davis am Folgetag, dem 17. Dezember 1970 also, in ›The Cellar Door‹-Club, 34th and M Street NW in Washington, D. C., gegeben hatte, denn von der Atmosphäre her entsprachen sich diese sechs aufgezeichneten Konzerte. Dazu war übrigens der Umzug des ganzen technischen Equippments obsolet geworden, denn Hans Köberlin hatte – wir haben vergessen, das da zu berichten, als es geschah –, als er mit der Frau im Zentrum des Ortes gewesen, sich einen kleinen blauen portablen Lautsprecher gekauft, den er nun überall an den Laptop oder auch an das Taschentelephon anschließen konnte. Hans Köberlin hörte in seiner exponierten Lage auf dem Dach auch dieses Konzert nicht laut genug, aber das tat der Musik keinen großen Abbruch. Es begann mit What I Say, wozu Jack DeJohnette,* Keith Jarrett und vor allem Michael Henderson wunderbar den Rhythmus vorlegten, gefolgt von dem über zwanzig Minuten äußerst langsam zelebrierten Honky Tonk und dies wiederum gefolgt von einer Interpretation von Itʼs About That Time, die stark von der In a Silent Way-Fassung abwich. Dann, wie bei jedem der vier Konzerttage, Keith Jarretts Improvisation, die in Inamorata überging, an diesem Tag von etwas zurückgehaltenerer Intensität als am Vortag und mit ein paar Takten Sanctuary endend. Morgen würde er dann zwei Jahre weiter in die On the Corner-Phase springen.

* Miles Davis selber sprach von diesem Schlagzeugrhythmus als der kleinen rhythmischen Figur, die Jack DeJonette während des ganzen Stücks durchziehn sollte, und Davis wollte, daß diese Figur alles enthalte, aber sie sollte auch Feuer haben, was sie ja hatte. Für Davis war What I Say nach eigenem Bekunden der Grundstein für LivE-EviL (1970), jenes Album, das aus diesen Auftritten in Washington herausdestilliert werden sollte. Es enthalte, so Davis, die Stimmung und den Rhythmus, die er gewollt hatte. Und weiter erinnerte es sich, daß bei dieser Platte etwas Komisches passiert sei: er habe plötzlich Sachen in den oberen Registern gehört; bei What I Say habe er viele hohe Noten auf der Trompete gespielt, die er normalerweise deswegen nicht gebracht, weil er sie nicht gehört habe, aber nachdem er seine neue Musik gespielt, habe sich das geändert (vgl. Miles Davis und Quincy Troupe, Die Autobiographie, München, 42000, S. 426f.).

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 907f.).

SOAP Made in UK Cumbria Soap Limited, LA9 7RL www.cumbriasoap.co.uk

Mittwoch, 2. August 2023

1970-12-16 Washington [Montag, der 6. Januar 2014]

Ein melancholisches Frühstück, zu dem sie, wie von Hans Köberlin geplant, das Konzert hörten, das Miles Davis am 16. Dezember 1970 in ›The Cellar Door‹-Club, 34th and M Street NW in Washington, D. C., gegeben hatte. Hans Köberlin hatte dieses Konzert, wie gesagt, ausgewählt, weil da Keith Jarrett Chick Corea komplett abgelöst hatte, nachdem er bereits zuvor im Juni an der Ostküste ergänzend neben ihm gespielt hatte. An die publizierten Mitschnitte aus dieser Zeit, die sich (»Noch!«) nicht in seinem Musikarchiv befanden, wollte er jetzt garnicht erst denken –: egal! – Besonders schätzte Hans Köberlin an The Cellar Door Sessions Michael Hendersons elektrischen Baß, der den Groove dieser neuen Richtung vorgab. Das Repertoire bestand aus Directions, Yesternow, What I Say, einer Improvisation von Keith Jarrett und, als krönendem Abschluß: Inamorata, Hans Köberlins Favorit, ein Stück, das zu dem nichtmelancholischen Teil der Dramatik des heutigen Tages paßte. Man hörte das Konzert allerdings zu leise, hätte man es angemessen gehört, wäre es vielleicht zu Irrationalitäten gekommen, die komplizierte und ökonomisch empfindliche Folgen nach sich gezogen hätten, man hörte vernünftig zu leise also und man war mit seinen Gedanken nicht ganz dabei. Dann saß man auch schon im Auto Richtung Aeropuerto.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, IX [Der zweite Besuch der Frau] Vom 20. Dezember 2013 bis zum 6. Januar 2014, S. 893f.).

Dienstag, 1. August 2023

1970-08-29 Isle of Wight [Freitag, der 7. März 2014]

Also: aufstehen und nur mit dem Kimono bekleidet im leeren Wintergarten frühstücken, wie gestern vorgenommen mit jenem Konzert, das Miles Davis am Samstag, dem 29. August 1970, während des Festivals auf der Isle of Wight nach einem Hans Köberlin nicht bekannten Tiny Tim und vor Ten Years After – später sollten an dem Tag noch hintereinander Emerson, Lake & Palmer mit Pictures at an Exhibition, The Doors und The Who mit der kompletten Tommy-Oper auftreten – gegeben hatte. Hans Köberlin hatte das Konzert für diesen Aufbruchstag gewählt, weil es nur gut über eine halbe Stunde ging. Es war von den Stücken des Sets her ein für diese Zeit typisches Konzert, Directions, Bitches Brew, It’s About That Time, Sanctuary, diesmal nur ganz kurz, und Spanish Key. Zuerst horchte Hans Köberlin wegen Dave Hollands E-Baß auf, dann wegen Keith Jarretts Orgel bei Bitches Brew … aber wie bei den meisten Live-Interpretationen kam auch hier der Moment, wo das Stück ein wenig zerfiel. Dann wieder der E-Baß … Es groovte sehr angenehm bis zum Schluß, Miles Davis war einmal wieder das Gravitationsfeld, das dies alles möglich machte … aber Hans Köberlin war, wie schon gesagt, mit den Gedanken bereits woanders […] Während des Duschens mußte er nochmals an Miles Davis denken, und zwar im Kontext der vorherigen Lektüre in Schultz’ Buch über die Gnosis. Miles Davis war, soweit er wußte, stets von jeglichem spirituellen Kram unbeleckt geblieben, im Gegensatz zu den meisten Musikern um ihn herum in der Zeit, das Ehepaar Coltrane zum Beispiel, bei denen die hohe Qualität ihrer Musik – auch später bis zu einem gewissen Punkt die Musik von Alice Coltrane allein – in einem eklatanten Gegensatz zu den Titeln stand, den sie ihren Stücken – und sich selber! – gaben, oder John McLaughlin oder Santana, deren gemeinsames Coltrane-Album Love ꞏ Devotion ꞏ Surrender trotz des Titels und trotz des Gurus auf der Rückseite des Covers von Hans Köberlin sehr geschätzt wurde. Miles Davis war stets westlich urban modern geblieben, und wenn er außermusikalische Bezüge hergestellt, dann keine spirituellen, sondern, wie bei Jack Johnson, politische zu Afrika und zu der Diskriminierung, die die Menschen, die dort ihre Wurzeln hatten, durch die WASPs erfuhren. »Aber«, so schloß Hans Köberlin dieses Thema ab, »was solls, ich höre ja auch die Messen und Kantaten von Bach …«

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit] Vom 7. bis zum 12. März 2014, S. 1466f.).

1970-06-20 New York [Montag, der 3. März 2014]

Zum Frühstück hörte er heute jenes Konzert, das Miles Davis am 20. Juni 1970 im Fillmore East gegeben hatte. Was den Stil und die Stücke betraf, da ähnelte es sehr den anderen Konzerten dieser Reihe, weshalb es Hans Köberlin schwerfiel, sich auf die Besonderheiten zu konzentrieren, weil er ja erst vor vier Tagen das Konzert vom 19. Juni 1970 gehört hatte. Directions hatte in diesem Moment in seinen Ohren keine und war so gut wie immer, dann The Mask, das nach vier Minuten Tohuwabohu interessant wurde, als Trompete und Baß Tohu von Bohu schieden, bei It’s About That Time kamen die neuen Aspekte vor allem von Jack DeJohnette, I Fall In Love Too Easily war quasi das Intro von Sanctuary, der Titel war bei Hans Köberlin seit 2010 für immer verknüpft mit Faulkners düsterer Südstaatenballade, heute kamen ihm die Trompetenschreie noch heftiger als sonst vor, dem folgte Bitches Brew, bei dem nach drei Minuten der Baß plötzlich vom Trockenen ins Weiche wechselte, er dachte, weil er sich darüber erschreckte, an Adornos großen musikalischen Irrtum, den Jazz betreffend, und daran, daß er sich schon lange vorgenommen, sich einmal mit dessen Beckett-Rezeption zu beschäftigen, bei dem es ihm, Hans Köberlin, um den Sinn im Absurden ging,* Bitches Brew drohte mittlerweile zu zerfallen, bis Miles Davis es mit seinem Spiel wieder zusammenfügte und zu dem wunderbar unverwüstlichen Willie Nelson überleitete, bei dem Dave Holland erneut aus heiterem Himmel die Stimmung wechselte. Willie Nelson war zweifellos der Höhepunkt der heutigen Matinée.

* Hans Köberlin hatte Adornos Versuch, das Endspiel zu verstehen, noch nicht gelesen, er hatte nur eine Passage aus der ästhetischen Theorie im Sinn: »Becketts Stücke sind absurd nicht durch Abwesenheit jeglichen Sinnes – dann wären sie irrelevant – sondern als Verhandlung über ihn. Sie rollen seine Geschichte auf […] Kunstwerke, die des Scheins von Sinnhaftigkeit sich entäußern, verlieren dadurch nicht ihr Sprachähnliches. Sie sprechen, mit der gleichen Bestimmtheit wie die traditionellen ihren positiven Sinn, als den ihren Sinnlosigkeit aus […] Alles hängt daran, ob der Negation des Sinns im Kunstwerk Sinn innewohnt oder ob sie der Gegebenheit sich anpaßt; ob die Krise des Sinns im Gebilde reflektiert ist, oder ob sie unmittelbar und darum subjektfremd bleibt. Schlüsselphänomene mögen auch gewisse musikalische Gebilde wie das Klavierkonzert von Cage sein, die als Gesetz unerbittliche Zufälligkeit sich auferlegen und dadurch etwas wie Sinn: den Ausdruck von Entsetzen empfangen. Bei Beckett allerdings waltet parodische Einheit von Ort, Zeit und Handlung mit kunstvoll eingebauten und ausgewogenen Episoden, und mit der Katastrophe, die nun darin besteht, daß sie nicht eintritt. Wahrhaft eines der Rätsel von Kunst, und Zeugnis der Gewalt ihrer Logizität ist, daß jegliche radikale Konsequenz, auch die absurd genannte, in Sinn-Ähnlichem terminiert.« (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie; in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 1986, Bd. 7, S. 230f.) Zu einer der »Gewalt der Logizität« analogen Annahme war für die Musik Christian Wolff gegenüber dem auch von Adorno erwähnten John Cage gekommen, siehe oben (¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Erster Teil. Vom 2. Oktober bis zum 19. Dezember 2013, [Dritte Phase – oder: Konsolidierung] Vom 19. November bis zum 19. Dezember 2013, S. 751).** Von Beckett hatte Hans Köberlin in diesem Kontext vor allem folgende Passage aus LʼInnommable im Gedächtnis, wir zitieren aus der Ausgabe in seinem, Hans Köberlins, Idiom: »Ich glaubte, es stünde mir frei, etwas x-beliebiges zu sagen, solange ich nicht schwieg. Dann sagte ich mir, daß es letzten Endes vielleicht nicht etwas x-beliebiges wäre, was ich sagte, daß es sehr wohl das sein könnte, was man von mir verlangte, vorausgesetzt, daß man etwas von mir verlangte.« (Samuel Beckett, Der Namenlose; in: Drei Romane. Molloy. Malone stirbt. Der Namenlose, Frankfurt am Main 2005, S. 541). Und auf die Frage, qui parle?, war die Antwort: »das ist es vielleicht, was ich fühle, daß es ein Draußen und ein Drinnen gibt und ich in der Mitte, das ist es vielleicht, was ich bin, das Ding, das die Welt in zwei teilt, einesteils das Draußen, andernteils das Drinnen, es kann dünn sein wie ein Blatt, ich bin weder einerseits noch andererseits, ich bin in der Mitte, ich bin die Scheidewand, ich habe zwei Seiten und keine Dichte, das ist es vielleicht, was ich fühle, ich fühle, wie ich schwinge, ich bin das Tympanon, einerseits ist der Schädel, andererseits die Welt, ich gehöre weder zum einen noch zum anderen« (ebd., S. 522f.). Hans Köberlin dachte dabei natürlich sofort an Luhmann … Dem ging es ja um den Fortbestand der Systeme, hier: »… man muß weitermachen, ich kann nicht weitermachen, ich werde weitermachen.« (ebd., S. 566). Nun: Hans Köberlin, der sein Studium mit einer Arbeit über das Weitermachen des Mannes ohne Eigenschaften abgeschlossen, wollte mittlerweile wieder weitermachen …
** Dabei fiel ihm noch etwas aus John Cages Indeterminacy-Geschichten ein, nämlich daß Christian Wolff zu ihm, Cage, gesagt habe (Hans Köberlin erinnerte sich, daß er diese Passage kurz vor Ende eines Dauerlaufs gehört hatte, vor jenem Hotel, das wie ein Schlachtschiff aus der Urbanisazión auf der anderen Seite der Ausfallstraße herausragte), nämlich: egal was man mache, am Ende würde alles auf eine (oder die?) Melodie herauslaufen. Die Rezeption in der Zeit … die wiederholte Rezeption … der Mensch sei Rhythmus, hatte Gérard Genette prägnant postuliert … (Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Reihe Aesthetica, hrsg. von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt am Main 1993, S. 307).

(¡Hans Koberlin vive!, a. a. O., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014 Vom 31. Januar bis zum 9. Februar 2014, S. 1409).

1970-06-19 New York [Donnerstag, der 27. Februar 2014]

Anschließend frühstückte er wie gehabt mit Miles Davis, und zwar mit jenem Konzert, daß der am 19. Juni 1970 in der Stadt, die niemals schlief, gegeben hatte. Auch der Ablauf innerhalb dieser Konzertreihe variierte, wie gesagt, kaum, es begann schnell mit Directions, in der der Hälfte des Stückes ein Tempowechsel, dann abstrakt-langsam The Mask – sehr schön, was da über den Baßläufen passierte –, in einem ähnlich abstrakten Stil weiter mit It’s About That Time, wobei hier das Schlagzeug anfangs die strukturgebende Rolle des Basses übernahm, dann stimmte Miles Davis, der sehr klar spielte, allein die Melodie von I Fall In Love Too Easily an und leitete über zu Sanctuary, das hier in Verkehrung der üblichen Reihenfolge vor dem abschließenden Bitches Brew kam. Hans Köberlin überlegte … er hatte in seiner Sammlung keinen einzigen Live-Mitschnitt von Pharaoh’s Dance, dem Auftakt des Studioalbums … vielleicht war das eine spontane und nicht reproduzierbare Session gewesen … irgendwo, glaubte er, Joe Zawinul als den Komponisten angegeben gelesen zu haben, aber es war ja jetzt nur so ein Nebengedanke zu Bitches Brew gewesen, und also rührte er sich nicht, außerdem gab es da ja noch Teo Macero … Terje Rypdals Ghostdancing von dem Album Vossabrygg aus dem Jahr 2006 hatte sicherlich seine Referenzen zu Pharaoh’s DanceBitches Brew selber bot bei diesem Konzert gegenüber den anderen Live-Versionen keine Überraschungen, und dann kam auch schon The Theme.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014 Vom 31. Januar bis zum 9. Februar 2014, S. 1376f.).

Dienstag, 25. Juli 2023

1970-06-18 New York [Sonntag, der 23. Februar 2014]

Zu diesem Frühstück mit Spiegelei hörte Hans Köberlin jenes Konzert, das Miles Davis am 18. Juni 1970 at the Fillmore East gegeben hatte. Die Sets waren fast identisch gewesen in jenen Tagen und Hans Köberlin nahm sich einmal wieder vor, das Vertraute der Stücke zu transzendieren und sehr genau zuzuhören und auf die den Augenblicken der Aufführung entsprungenen Nuancen zu achten, und wir bemühen uns einmal wieder mehr oder weniger dilettantisch, dieses Unterfangen einigermaßen in Worte zu fassen. – Zum Auftakt natürlich Directions, das Stück hatte hier nicht für es charakteristisch mit Baß und Schlagzeug begonnen, sondern ein kleines Willie Nelson-Vorspiel außerhalb des üblichen Grooves bekommen, zu dem es auch nicht – wie bei Interpretationen vorher und nachher, etwa in einem halben Jahr in Washington – wieder fand, sondern eher in einem mittlerweile bereits ein Jahr lang hin zu der Jack Johnson-Zeit gereiften Stil von Bitches Brew blieb. Dem entsprechend folgte The Mask, dem Hans Köberlin bei jedem Hören mehr abgewinnen konnte. Bei dem Auftritt gestern aus der Zeit unmittelbar nach Bitches Brew war die Band mit dem Bitches Brew-Repertoir  n o c h  n i c h t  w i e  Bitches Brew aufgetreten, und jetzt schon  n i c h t  m e h r  w i e. Wenn Heraklit recht hatte, dann bei Miles Davis. Es folgte It’s About That Time, noch erkennbar, aber schon sehr weit entfernt von In A Silent Way. Geführt von den Baßläufen hatte Hans Köberlin keine Mühe, genau zuzuhören. Es verlief sich dann und die Trompete erfüllte den Raum eine kurze Weile, um auf Bitches Brew überzuleiten, das – wie auch sonst?! – charakteristisch begann, so blieb es eine Weile, dann kam es zu einer bemerkenswerten Reduktion auf Trompete und Orgel, die – wie am Vortag Chick Corea mit dem E-Piano – die Stelle des Baß einnahm, damit sollte es ausklingen, aber das Publikum bekam noch seine Zugabe, Spanish Key, das nahe an der Version der Studiosession blieb, und Hans Köberlin fühlte sich einmal wieder wie ein Faun.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014 Vom 31. Januar bis zum 9. Februar 2014, S. 1341f.).

1970-06-17 New York [Dienstag, der 18. Februar 2014]

Frühstück im leeren Wintergarten mit Miles Davis, diesmal mit jenem Konzert, das der am 17. Juni 1970 at the Fillmore East gegeben hatte. Er hatte hier neben Chick Corea am elektrischen Klavier noch Keith Jarrett – erstmals live dabei, zumindest in Hans Köberlins Sammlung – an der elektrischen Orgel, was für eine gewisse, von Hans Köberlin goutierte, Komplexität im Rhythmus sorgte. Es begann, wie damals üblich, mit Directions bei dem es plötzlich einen Bruch gab, der Hans Köberlin ein Mißverständnis in der Band vermuten ließ: alle hatten wohl gedacht, man sei mit dem Stück durch, als Miles Davis das Thema nochmals aufgriff, man setzte also das verbleibende Drittel wesentlich langsamer bis zu dem wirklichen Ende fort. Aus der Stille folgte, bereits in Richtung Jack Johnson, The Mask, das war in den ersten drei Minuten vor allem eine Improvisation Jarretts, dann, sehr schön, Baß und Trompete beziehungsweise Baß und Saxophon. Anschließend näherte man sich mit It’s About That Time wieder ein wenig dem schnellen Auftakt, es wurde groovy und schließlich kam, nach einem wunderbaren Übergang, Bitches Brew, dem Hans Köberlin, wie bei jedem Konzertmitschnitt, wieder neue Aspekte abgewann, diesmal den stockhausenen Aspekt, als der für das Stück charakteristische Baßlauf pausierte und Chick Chorea das Spiel vorgab, diesmal ohne dabei das Ganze zerfallen zu lassen. Hans Köberlin war sehr zufrieden mit dem, was er da gerade gehört hatte.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014 Vom 31. Januar bis zum 9. Februar 2014, S. 1280).

Montag, 24. Juli 2023

1970-04-11 San Francisico [Dienstag, den 11. Februar 2014]

Zum Frühstück hörte Hans Köberlin jenes Konzert aus Miles Davis’ elektrischer Phase, das der am 11. April 1970 im ›Fillmore West‹ gegeben hatte. Es war wohl kein kompletter Mitschnitt, denn es begann und endete in medias res und es waren bloß drei Stücke, Paraphernalia, Footprints und Miles Runs The Voodoo Down. Diese Zusammenstellung – ohne Gitarre und ohne Stücke aus Jack Johnson – wirkte so wie aus einer Gelenkzeit zwischen Bitches Brew und On the Corner, mit Verweisen zurück in die Zeit des ›klassischen‹ Quintetts. Miles Davis war sehr präsent, ließ aber auch – wie am Vortag – großen Raum für Corea und Grossman.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014 Vom 31. Januar bis zum 9. Februar 2014, S. 1190).

1970-04-10 San Francisco [Sonntag, der 5. Januar 2014]

Zum Frühstück gab es das Konzert, das Miles Davis am 10. April 1970 – etwa die Zeit, als Hans Köberlins aleatorische Knabenspiele begannen – im ›Fillmore West‹ in der Stadt, zu der man mit einigen Blumen im Haar reisen sollte, gegeben hatte, er hatte es ausgewählt, weil hier das von ihm höchstgeschätzte Willie Nelson aus der von ihm höchstgeschätzten Jack Johnson-Zeit zum ersten Mal in seiner Sammlung von Mitschnitten auftauchte* –: ein geniales Konzert! Die Stücke von Bitches Brew wurden mit dem neuen Jack Johnson-Groove, bei dem eigentlich Jimi Hendrix als Gitarrist vorgesehen war, interpretiert, interessant war in diesem Kontext auch die gut eineinhalbminütige Anspielung auf I Fall In Love Too Easily – Hans Köberlin war es gleichfalls immer zu leicht gefallen, was aber, wie er fand, für ihn sprach – nach Willie Nelson. Masqualero überließ Davis weitgehend Steve Grossman und Chick Corea, war aber abwesend anwesend, weil die beiden ohne ihn nie wieder zu solcher Virtuosität gelangen sollten, der nächste Zeitsprung wäre wohl der zu der Live/eviL-Phase, bei der Keith Jarrett Chick Coreas Part übernehmen sollte. Den Abschluß dieses Frühstücks bildeten Spanish Key und The Theme, Hans Köberlin hatte nie gewußt, wie er das für sich adäquat übersetzen sollte – mit ›Erkennungsmelodie‹ wohl nicht … »Erkennen Sie / die Melodie / da-da / da-da …« im präpubertären elterlichen Wohnzimmer –, The Theme jedenfalls war wohl ein Relikt aus der klassischen Zeit der Jazzkonzerte, das bei Miles Davis bald wegfallen sollte. Black Beauty hatte man die Publikation dieses genialen Mittschnitts** unglücklicherweise betitelt, unglücklicherweise deshalb, weil das, was im ursprünglichen Kontext wohl an die emanzipatorische Kraft einer ›schwarzen‹ Ästhetik gemahnte, hier oder zumindest bei Hans Köberlins Sozialisation eine Serie für pubertierende Mädchen mit einem schwarzen Hengst als Protagonisten assoziierte, wobei man durch ›mit einem schwarzen Hengst als Protagonisten‹ komplett in der Fehlleistung saß.*** Aber Anna Sewells Pferderoman aus dem Jahr 1877 mußte doch allen bei der Namensgebung Beteiligten bekannt gewesen sein … Jedenfalls: Hans Köberlin hätte diese Musik noch stundenlang weiterhören können, aber: der Berg rief!

* Hans Köberlin übersah hier das zweite Set des Konzerts im ›Filmore East‹ in der Stadt die niemals schlief am 7. März desselben Jahres.
** »Zum Exempel: als in den 70er Jahren Miles Davis (und Gruppe) seine 3. Häutung als Musikkünstler durchgemacht hatte und mit Bitches Brew, mit Black Beauty / Fillmore West u. a. auf der Klangfläche erschien, wurde der nachwachsenden Generation der verstreuten kulturintellektuellen Szene schlagartig klar: Ja, diese Musik versteht uns (und: die Musik mehr noch als ›der Mann‹!). Sie tritt in die öffentliche Szene, sie drückt mit aller gebotenen Insistenz die zeitgenössische Daseinsbefindlichkeit aus. Sie arbeitet es durch – das Desaster wie das ausstehende Glück in zeitgenössischer Existenz. Sie versteht ganz offenbar das existenzial Prekäre von Erfahrungen in dieser hochziselierten ›Zeitgenossenschaft‹ von Kreaturen, und sie macht es offenbar, sie fängt es musizistisch ein, arbeitet es kriselnd durch on stage / aufführend, gestisch – haptisch – gymnasisch, und sie gibt es durchgearbeitet nach Draußen, in einem disziplinierten Ausbruch, expressiv und ostinat. Was in Musik, was im kunsthaften Werkprozeß zugleich sich ereignen muß: die Anreicherung durch eine Portion gelungener Insistenz, ein passionshaftes Antidotum gegen das durchgearbeitete Desaster. Dies muß zeitgenössisch kontraversal-stilistisch präzise sein, um dem angeregten Verstehen zugleich Spuren seiner ›Lösung‹ in Emphase zu verleihen, Moment der cura, Kurierung. In diesem Moment des ostinaten Verstehens als verarbeiteter Gegengabe im Ausdruck ist ein Moment des Lösens enthalten, ein Quentchen momentaner absolutio, ein Moment des ›Vergebens und Vergessens‹ (Lethe, moments musicaux / Schubert). ›Miles and more‹: Passabel durcharbeiten und emphasieren kann man nur, wenn man das Nötigende durchgemacht hat. Sujet: Der Mann (Miles Davis) hat die Hölle gekannt und das Paradies geahnt …; und das Werk kündet davon in all seinen Fibern. Ex cathedra wird sich nie eine Spur von Authentizität einstellen! Die akademischen Intellektuellen machen etwa ›Musikanthropologie‹, die existenzialen Musiker aber machen Anthropognosie durch die Musik hindurch, was das Durcharbeiten in den Gymnopädien ernötigt, deren Stilistik letztlich spricht und die erfahrene Gnosie so zum Verstehen gibt.« (Hans Peter Weber, MEDIA RELEASE MEDIA. Eine PROGRAMMVORSCHAU. ROAD MAP (zum Frieden); in: Essays, Berlin 2008, Bd. 2: Große beruhigte Automaten. suprem, S. 251 und dort die Fußnote 281).
*** Vgl. vom Verf. HannaH & SesyluS oder Eine Reise aus der Welt in drei Tagen. Der erste Teil der Clemens Limbularius Trilogie, 2., ein wenig verbesserte Auflage, Berlin 2012, S. 295.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, IX [Der zweite Besuch der Frau] Vom 20. Dezember 2013 bis zum 6. Januar 2014, S. 889f.).

1970-04-09 San Francisco [Mittwoch, der 12. März 2014]

Er döste anschließend nochmals ein, stand dann auf, zog sich den Bademantel wieder an und bereitete sein vorerst letztes Frühstück hier. Dazu wollte er jenes Konzert hören, das Miles Davis am 9. April 1970 in jener Stadt gegeben, in die man, wenn man zu ihr komme, mit einigen Blumen im Haar kommen sollte, natürlich im Fillmore West. Das Set bestand aus den üblichen Stücken der Konzerte jener Zeit, sie kamen Hans Köberlin aber hier noch rauher vor, vor allem Dave Hollands Baß, Directions als Auftakt, dann kam es zu einem wunderbaren Übergang zu einer relativ langsamen Interpretation von Miles Runs the Voodoo Down, mit dem gleichen Monsterbaß. Der Groove des Stückes verlor sich allerdings nach siebeneinhalb Minuten, um in eine Improvisation Chick Coreas auf dem E-Piano überzugehen. Es folgte jenes ominöse This, von Schlagzeug und Baß begleitet E-Piano und Trompete ziemlich frei, wobei Miles Davis bald seine bekannten Läufe spielte, nach der Hälfte übernahm das Saxophon. Dann kam Itʼs About That Time, auch dies am Anfang ziemlich frei gestaltet, dann aber vom Baß in einen schönen Groove getrieben. Aber auch der brach abrupt wieder ab, diese Wechsel waren eigentlich nichts für Hans Köberlins Abschiedsstimmung, dann, nach I Fall In Love Too Easyly, kam aber unverwüstlich Sanctuary, gefolgt von Spanish Key, so wie Hans Köberlin es hören wollte, dann schwächelte der Groove, aber Baß und Schlagzeug holten Corea wieder in die richtige Richtung. Zum Abschluß kam, erneut eine Dramaturgie, die Hans Köberlin verwunderte, Bitches Brew. Das war eine sehr schöne Version, sehr linear, am Ende dominierte aber wieder Corea und brachte das Ganze zu einem plötzlichen Ende. Na gut … beim nächsten Hören würde es vielleicht ganz anders klingen, Stimmungen …

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit] Vom 7. bis zum 12. März 2014, S. 1513f.).

Mittwoch, 12. Juli 2023

Dienstag, 11. Juli 2023

Sonntag, 25. Juni 2023

Empirie, 31. Update

¡Hans Koberlin vive! in Daten (der Stand von heute):
  • Stand des Manuskripts:
    • Seiten: S. 1.782 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 4.787
  • Stand der Bearbeitung:
    • Seiten: S. 1.525 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 3.986
    • Kapitel: XIV (= Phase 6 – oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung*) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Bearbeitung: Donnerstag, der 13. März 2014, der 163. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
  • Der Beginn der Handlung ist mit Analepsen der Sonntag, der 23. Oktober 4004 vor unserer Zeitrechnung, 9 Uhr vormittags,* ohne Analepsen der Herbst 2012.
  • Das Ende der Handlung fällt mit den Prolepsen mit dem Ende der (oder bloß einer?) Welt zusammen,** ohne Prolepsen mit dem Frühjahr 2016.
  • Beginn der Niederschrift: Mittwoch, den 2. Oktober 2013
  • Ende der Niederschrift: noch nicht abzusehen.
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen.

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seiten: S. 778 von 778 Seiten
    • Fußnoten: 2.280
    • Kapitel: VIII (= Dritte Phase – oder: Konsolidierung) von VIII Kapiteln nebst einem vorläufigen Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Donnerstag, der 19. Dezember 2013, der 79. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teils des zweiten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen (obwohl der erste Teilband noch nicht publiziert wurde – c’est la vie).

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seite: S. 1.525
    • Fußnoten: 3.986
    • Kapitel: XIV (= Phase 6 – oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung*) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Donnerstag, der 13. März 2014, der 163. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen


* (= die Fußnote 3970 auf S. 1512) Rainald Goetz, Word, Hamburg 1994.
** (= die Fußnote 5 auf S. 7) »Non in tempore sed cum tempore Deus creavit caela et terram.« (Augustinus).
Nun: »In der Schiffsbibel von Charles Darwin auf der ›Beagle‹, mit der er von 1831 bis 1836 die Welt bereiste, stand das Datum der Weltschöpfung eingetragen: 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt, 9 Uhr vormittags.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 47). Das war ein Sonntag, am folgenden Freitag war er, der Schöpfer, fertig, und auch das jüngste Gericht soll nach christlichen Vorstellungen auf einen Freitag fallen, ein Datum haben wir gerade nicht zur Hand.
»Soldats, quarante siècles vous regardent!«
»L’ouvrage que j’ai entrepris aura la longueur d’une histoire«, hatte Balzac stolz in seinen Avant-Propos de La Comédie humaine postuliert.
*** (= eine Anmerkung aus der fünften Nachlese) »Die Welt des Dichters ist nicht die einzige Welt. Es gibt mehrere Dichter.« (Bertolt Brecht, Schriften zum Theater 1; in: Gesammelte Werke, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1967, Bd. 15, S. 393).

Wird aktualisiert!

Montag, 8. Mai 2023

Empirie, 30. Update

¡Hans Koberlin vive! in Daten (der Stand von heute):
  • Stand des Manuskripts:
    • Seiten: S. 1.766 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 4.764
  • Stand der Bearbeitung:
    • Seiten: S. 1.512 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 3.970
    • Kapitel: XIV (= Phase 6 – oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung*) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Bearbeitung: Donnerstag, der 13. März 2014, der 163. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
  • Der Beginn der Handlung ist mit Analepsen der Sonntag, der 23. Oktober 4004 vor unserer Zeitrechnung, 9 Uhr vormittags,* ohne Analepsen der Herbst 2012.
  • Das Ende der Handlung fällt mit den Prolepsen mit dem Ende der (oder bloß einer?) Welt zusammen,** ohne Prolepsen mit dem Frühjahr 2016.
  • Beginn der Niederschrift: Mittwoch, den 2. Oktober 2013
  • Ende der Niederschrift: noch nicht abzusehen.
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen.

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seiten: S. 778 von 778 Seiten
    • Fußnoten: 2.280
    • Kapitel: VIII (= Dritte Phase – oder: Konsolidierung) von VIII Kapiteln nebst einem vorläufigen Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Donnerstag, der 19. Dezember 2013, der 79. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teils des zweiten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen (obwohl der erste Teilband noch nicht publiziert wurde – c’est la vie).

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seite: S. 1.464
    • Fußnoten: 3.857
    • Kapitel: XIII (= Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit des Exils) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Freitag, der 07. März 2014, der 157. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen


* (= die Fußnote 3970 auf S. 1512) Rainald Goetz, Word, Hamburg 1994.
** (= die Fußnote 5 auf S. 7) »Non in tempore sed cum tempore Deus creavit caela et terram.« (Augustinus).
Nun: »In der Schiffsbibel von Charles Darwin auf der ›Beagle‹, mit der er von 1831 bis 1836 die Welt bereiste, stand das Datum der Weltschöpfung eingetragen: 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt, 9 Uhr vormittags.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 47). Das war ein Sonntag, am folgenden Freitag war er, der Schöpfer, fertig, und auch das jüngste Gericht soll nach christlichen Vorstellungen auf einen Freitag fallen, ein Datum haben wir gerade nicht zur Hand.
»Soldats, quarante siècles vous regardent!«
»L’ouvrage que j’ai entrepris aura la longueur d’une histoire«, hatte Balzac stolz in seinen Avant-Propos de La Comédie humaine postuliert.
*** (= eine Anmerkung aus der fünften Nachlese) »Die Welt des Dichters ist nicht die einzige Welt. Es gibt mehrere Dichter.« (Bertolt Brecht, Schriften zum Theater 1; in: Gesammelte Werke, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1967, Bd. 15, S. 393).

Wird aktualisiert!

Freitag, 10. März 2023

Empirie, 29. Update

¡Hans Koberlin vive! in Daten (der Stand von heute):
  • Stand des Manuskripts:
    • Seiten: S. 1.754 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 4.732
  • Stand der Bearbeitung:
    • Seiten: S. 1.491 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 3.934
    • Kapitel: XIII (= Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit des Exils) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Bearbeitung: Montag, der 10. März 2014, der 160. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
  • Der Beginn der Handlung ist mit Analepsen der Sonntag, der 23. Oktober 4004 vor unserer Zeitrechnung, 9 Uhr vormittags,* ohne Analepsen der Herbst 2012.
  • Das Ende der Handlung fällt mit den Prolepsen mit dem Ende der (oder bloß einer?) Welt zusammen,** ohne Prolepsen mit dem Frühjahr 2016.
  • Beginn der Niederschrift: Mittwoch, den 2. Oktober 2013
  • Ende der Niederschrift: noch nicht abzusehen.
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen.

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seiten: S. 778 von 778 Seiten
    • Fußnoten: 2.280
    • Kapitel: VIII (= Dritte Phase – oder: Konsolidierung) von VIII Kapiteln nebst einem vorläufigen Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Donnerstag, der 19. Dezember 2013, der 79. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teils des zweiten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen (obwohl der erste Teilband noch nicht publiziert wurde – c’est la vie).

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seite: S. 1.463
    • Fußnoten: 3.850
    • Kapitel: XIII (= Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit des Exils) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Freitag, der 07. März 2014, der 157. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen


* (= die Fußnote 5 auf S. 7) »Non in tempore sed cum tempore Deus creavit caela et terram.« (Augustinus).
Nun: »In der Schiffsbibel von Charles Darwin auf der ›Beagle‹, mit der er von 1831 bis 1836 die Welt bereiste, stand das Datum der Weltschöpfung eingetragen: 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt, 9 Uhr vormittags.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 47). Das war ein Sonntag, am folgenden Freitag war er, der Schöpfer, fertig, und auch das jüngste Gericht soll nach christlichen Vorstellungen auf einen Freitag fallen, ein Datum haben wir gerade nicht zur Hand.
»Soldats, quarante siècles vous regardent!«
»L’ouvrage que j’ai entrepris aura la longueur d’une histoire«, hatte Balzac stolz in seinen Avant-Propos de La Comédie humaine postuliert.
** (= eine Anmerkung aus der fünften Nachlese) »Die Welt des Dichters ist nicht die einzige Welt. Es gibt mehrere Dichter.« (Bertolt Brecht, Schriften zum Theater 1; in: Gesammelte Werke, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1967, Bd. 15, S. 393).

Wird aktualisiert!

Mittwoch, 1. Februar 2023

1970-03-07 New York 2nd Set [Donnerstag, der 30. Januar 2014]

Das Wetter ließ frühstücken und lesen und schreiben auf der anderen Dachterrasse bis gegen drei Uhr am Nachmittag zu, es war ein Abschied, denn Hans Köberlin hatte sich, wie bereits erwähnt, vorgenommen, nach seiner Rückkehr aus der Hauptstadt wieder auf die hintere, dann mit einem Sonnenschirm versehene, Dachterrasse umzuziehen, und morgen, an seinem Reisetag, würde keine Ruhe für die Schlepperei der Frühstücks- und Konzertutensilien haben. Als Dachterrassenabschiedskonzert hörte er das zweite Set, das Miles Davis am 7. März 1970 im ›Fillmore East‹ gegeben hatte. Von Bitches Brew gab es das titelgebende Stück, Miles Runs the Voodoo Down und Spanish Key, es begann mit Directions und zum Schluß kamen It’s About That Time sowie – die Jack Johnson-Sessions hatten gerade begonnen – Willie Nelson. Miles Davis’ Trompete und Steve Grossmans Saxophon –
»Nein, es war noch Wayne Shorter!«
– waren sehr präsent und Chick Corea hatte ein wunderbares Solo in Spanish Key. Die Musik hob Hans Köberlin in sich auf, sie war Zeit und wurde Raum und verschmolz mit seiner unmittelbaren Umwelt, es würden Zeiten kommen, dessen war Hans Köberlin sich sicher, in denen er sich mit einer schier unerträglich schmerzhaften Sehnsucht auf diesen Platz zurückwünschen würde.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 1081f.).

Montag, 16. Januar 2023

Aus gegebenem Anlaß [Der kürzeste Weg zum Strand]

Hans Köberlin verließ das Haus durch das untere Tor, überquerte die Ausfallstraße, ging sie ein paar Meter hinab, bog dann links in eine Gasse, dann gleich wieder rechts bis zu einer größeren Straße, überquerte diese, ging dann rechts – nicht ohne dabei stets an Gina Lollobrigida zu denken1109 – am ›Hotel Esmeralda‹ vorbei entlang eines kleinen Parkplatzes und kam dann schon an der Promenade heraus, gleich auf der Höhe, wo die ›Tango Bar‹ lag.

  1. Wegen Jean Delannoys Verfilmung von Hugos Notre­-Dame de Paris aus dem Jahr 1957, in der Anthony Quinn den Quasimodo spielte und Gina Lollobrigida … hier das eben bei Sophia Loren ausgelassene (siehe oben die Fußnote 984 und dort auf S. 266): »… wie sie als schöne Zigeunerin Esmeralda als ein ›natürlicher Mensch‹ inmitten einer bizarren, besessenen und erstickenden (Männer-)Welt erschienen war, der die mühsam unterdrückten Triebregungen wieder erweckt, zugleich aber auch die Fähigkeit zu reiner Liebe schafft« (Georg Seeßlen, Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Marburg 31996, S. 84). Wie bei der Adaption von Ecos Roman, so blieb auch bei dieser Hugo-Verfilmung der weiblichen Protagonistin der im Roman vorgesehene Tod auf dem Scheiterhaufen erspart, vielleicht aus ähnlichen Motiven, die Schiller dazu veranlaßt hatten, seine Johanna nicht verbrennen, sondern enthaupten zu lassen. Die gleiche Wirkung wie als schöne Zigeunerin Esmeralda erzielte sie auch als la donna più bella del mondo in Robert Z. Leonards gleichnamigem Film aus dem Jahr 1955. Wir zitieren aus Hans Köberlins Arbeitsjournal vom Samstag, dem 5. Oktober 2019: »Da gab es einiges, von Aschenbrödel bis Hamlet (»Die Kunst fliegt um die Wahrheit, aber mit der entschiedenen Absicht sich nicht zu verbrennen. Ihre Fähigkeit besteht darin in der dunklen Leere einen Ort zu finden, wo der Strahl des Lichts, ohne daß dies vorher zu erkennen gewesen wäre, kräftig aufgefangen werden kann.« (Franz Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer; in: Gesammelte Werke, in zwölf Bänden nach der kritischen Ausgabe hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main 22014, Bd. 6, S. 196)): ein einfaches Mädchen schaffte aus Liebe über den Umweg des Tingeltangels den Sprung zur Diva in der italienischen Oper. Auf dem Weg dorthin gab es drei Männer: den bösen Verehrer, den guten Verehrer und die wahre Liebe, ein russischer Prinz, der plötzlich wegen eines Mißverständnisses (wegen der Wette mit den Kameraden: Reitstall vs. Verführung der Unnahbaren, als er Lina noch nicht wiedererkannt hatte) außenvor war. Der gute Verehrer war der Tenor, der während einer Tosca-Aufführung von einem Schergen des bösen Verehrers erschossen wurde. Wie in der Opernhandlung entdeckte Tosca den vermeintlich nur zum Schein erschossenen Cavaradossi wirklich tot auf dem Dach der Engelsburg. Lina verdächtigte die wahre Liebe und mied seitdem ihn und weitere Tosca-Inszenierungen. Als sie ihn dann nach Jahren auf Einladung des Zaren doch noch mit der Tosca brüskieren wollte, entlarvte sich der wahre Täter während der Wiederholung der Schlüsselszene, und sie konnte endlich der wahren Liebe in die Arme fallen. Es ging offensichtlich vor allem darum, das Dekolleté von Gina Lollobrigida in Szene zu setzen, was ganz gut gelungen und wogegen nichts zu sagen war.« Irgendwann, bei einer seiner fast täglichen Passagen des ›Hotel Esmeralda‹, hatte Hans Köberlin noch eine weitere Assoziation, allerdings eine vom gleichen Kaliber, wenn man das einmal so lax formulieren darf: »Ich schelle, die Thür geht von selber auf, und auf dem Flur kommt mir eine geputzte Madam entgegen […] und begrüßt mich […] wie einen Langerwarteten, komplimentiert mich danach durch Portieren in ein schimmernd Gemach mit eingefaßter Bespannung, einem Kristall-Lüster, Wandleuchtern vor Spiegeln, und seidnen Gautschen, darauf sitzen dir Nymphen und Töchter der Wüste, sechs oder sieben, wie soll ich sagen, Morphos, Glasflügler, Esmeralden, wenig gekleidet, durchsichtig gekleidet, in Tüll, Gaze und Glitzerwerk, das Haar lang offen, kurzlockig das Haar, gepuderte Halbkugeln, Arme mit Spangen, und sehen dich mit erwartungsvollen, vom Lüster gleißenden Augen an […] Ich stand und verbarg meine Affecten, sehe mir gegenüber ein offen Klavier, einen Freund, geh über den Teppich drauf los und schlage im Stehen zwei, drei Akkorde an, weiß noch, was es war, weil mir das Klangphänomen gerade im Sinne lag, Modulation von H- nach C-Dur, aufhellender Halbton-Abstand wie im Gebet des Eremiten im Freischütz-­Finale, bei dem Eintritt von Pauke, Trompeten und Oboen auf dem Quartsextakkord von C. Weiß es im Nachher, wußte es aber damals nicht, sondern schlug eben nur an. Neben mich stellt sich dabei eine Bräunliche, in spanischem Jäckchen, mit großem Mund, Stumpfnase und Mandelaugen, Esmeralda, die streichelt mir mit dem Arm die Wange. Kehr ich mich um, stoß mit dem Knie die Sitzbank bei Seite und schlage mich über den Teppich zurück durch die Lusthölle, an der schwadronierenden Zatzenmutter vorbei, durch den Flur und die Stufen hinab auf die Straße, ohne das Messinggeländer nur anzufassen.« (Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, Frankfurt am Main 1986, S. 190f.). Es war jene Esmeralda, bei der sich ein Jahr später der Tonsetzer Adrian Leverkühn mit vollem Bewußtsein (»Sie erfuhr auch aus seinem Munde, daß er die Reise hierher um ihretwillen zurückgelegt habe, und sie dankte es ihm, indem sie ihn vor ihrem Körper warnte.« (ebd., S. 206) die Syphilis holen sollte, Manns immanente Variante des transzendenten Teufelspakts. Und Leverkühn setzte seiner Esmeralda nach seiner Art ein Denkmal: »So findet sich in den Tongeweben meines Freundes eine fünf- bis sechsköpfige Notenfolge, mit h beginnend, mit es endigend und mit wechselndem e und a dazwischen, auffallend häufig wieder, eine motivische Grundfigur von eigentümlich schwermütigem Gepräge, die in vielfachen harmonischen und rhythmischen Einkleidungen, bald der, bald jener Stimme zugeteilt, oft in vertauschter Reihenfolge, gleichsam um ihre Achse gedreht, so daß bei gleichbleibenden Intervallen die Abfolge der Töne verändert ist, darin ihr Wesen treibt […] Es bedeutet aber diese Klang-Chiffre h e a e es: Hetaera esmeralda.« (ebd., S. 207). Noch zu erwähnen wäre jene Esmeralda, die nach einem Zirkusbesuch des siebenjährigen Ingmar Bergman in dessen Leben eine große Rolle gespielt hatte: »Jemand flüsterte, in einer dunklen Nische unter der Zirkuskuppel habe sich ein Löwe gezeigt, die Clowns waren furchterregend und böse, ich schlief vor Gemütsbewegung ein und wachte bei wunderbarer Musik wieder auf: Eine junge Frau in Weiß ritt auf einem gewaltigen schwarzen Hengst. Mich ergriff Liebe zu der jungen Frau. Ich schloß sie in meine Phantasiespiele ein und nannte sie Esmeralda (vielleicht hieß sie wirklich so). Meine Phantasien vollzogen am Ende den allzu gefährlichen Schritt in die Wirklichkeit hinaus, als ich meinem Klassenkameraden Nisse unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute, meine Eltern hätten mich an den Zirkus Schumann verkauft, man werde mich bald zu Hause abholen und mich zusammen mit Esmeralda, der schönsten Frau der Welt, zum Akrobaten ausbilden. Am nächsten Tag war meine Phantasie in aller Munde und geschändet […] Ich selbst rächte mich an meinem ehemaligen Freund, indem ich ihn mit dem Dolch meines Bruders über den Schulhof jagte. Als eine Lehrerin dazwischenging, versuchte ich, sie umzubringen. Ich wurde vom Schulbesuch ausgeschlossen und bezog reichlich Prügel. Später bekam mein falscher Freund Kinderlähmung und starb, was mir große Freude machte. Die Klasse wurde wie üblich drei Wochen lang beurlaubt, und alles geriet in Vergessenheit. Ich phantasierte jedoch weiterhin von Esmeralda. Unsere Abenteuer wurden immer gefährlicher, und unsere Liebe immer leidenschaftlicher. Unterdessen schaffte ich es aber noch, mich mit einem Mädchen aus der Klasse zu verloben, das Gladys hieß. Mit der betrog ich Tippan, meine treue Spielgefährtin.« (Ingmar Bergman, Mein Leben, Berlin 21989, S. 16f.). Diese Erlebnisse fanden ihren Niederschlag unter anderem auch in Gycklarnas afton (1953), wir zitieren auch zu diesem Film aus Hans Köberlins Arbeitsjournal vom Mittwoch, dem 19. November 2008: »Es tat wohl, wieder einmal einen Bergman zu sehen. Die Gauckler zogen am Horizont auf, wie dann fünf Jahre später Max von Sydow in Det sjunde inseglet (siehe unten S. 579f.). Und die stärkste Szene des Films folgte auch alsbald: die Frau des Clowns trieb harmlos-frivole Spielchen mit den Offizieren eines Manövers. Einer von denen machte sich einen Spaß daraus, seinen Burschen zu dem Clown zu schicken, um dem das mitzuteilen. Der Clown machte sich auf, holte seine mittlerweile nackte Frau da heraus und trug sie – nachdem man ihre Kleider versteckt hatte – unter dem Gelächter sowohl der Soldaten als auch seiner Kollegen vom Zirkus nach Hause (zum Lager des Zirkus), wieder am Horizont. Die Frau lachte mittlerweile nicht mehr, und der Clown trug sie derart unter der Last leidend, wie Jesus unter der Last des Kreuzes, auch stürzte er wie jener mehrmals (Liebe als Passion), bis er selbst davongetragen werden mußte. Bergman hatte gewollt, daß man diese Assoziation zog, das merkte man, daß er dies gewollt hatte. Die eigentlichen Protagonisten des Films waren der Zirkusdirektor Albert Johansson, seine Geliebte Anne, der Schauspieler Frans, der Anne verführte, und Alberts verlassene Ehefrau Agda. Albert und Anne versuchten vom Zirkus wegzukommen, je für sich mit Frans und Agda (Agda war froh, daß sie Albert los war), doch es haute nicht hin, und Albert erlebte dabei durch Frans eine Demütigung, die ihn fast zum Selbstmord trieb (er war soweit, aber die Pistole versagte). Am Ende folgten Albert und Anne gemeinsam den Zirkuswagen, und es steckte ein Trost in diesem Bild. Agdas Welt war die sichere Welt der Mutter, die in sich ruhte, und Frans war bloß ein kultivierter Laffe. Der Theaterdirektor Sjuberg sprach das aus, nämlich daß bloß Kultivierung und Seßhaftigkeit ihn und seinesgleichen von den Artisten unterscheide, Kunst und Kunstfertigkeit, wobei da die Grenzen zwischen Theater und Zirkus verschwammen, was Bergman sehr schön zeigte, in der Art, wie Frans seinen Bühnenmonolog hielt. Die Überlegenheit der Kultur zeigte sich darin, daß der schwächere Frans mit seiner Kampftechnik Albert verprügeln konnte (ich merke, meine Sympathien gehören – wenn ich denn wählen muß – den Plebejern, zumindest in diesem Fall).« Und last but not least gab es noch jene von Angela Jones gespielte Esmeralda Villalobos, die als Taxifahrerin in Pulp Fiction (1994) Butch nach seinem fatalen Boxkampf ‒ »So what does it feel like to kill a man with your bare hands? It’s a topic I’m very interested in.« ‒ zu seiner Fabienne brachte. Apropos Quentin Tarantino: bei dem fallen uns noch Santa Esmeralda ein und deren Version des Klassikers Don’t Let Me Be Misunderstood, die in Kill Bill – Vol. 1 (2003, siehe die Fußnote 1951 unten auf S. 634f.) als Overtüre zu dem im Schnee und mit Samuraischwertern ausgeführten Duell zwischen the Bride und O-Ren Ishii zu hören war. Und falls noch weitere Esmeralden auftauchen, werden wir darüber in den Nachlesen berichten.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Erster Teil., Vom 2. Oktober bis zum 19. Dezember 2013, V [Erste Phase – oder: Altlasten] Vom 13. Oktober bis zum 2. November 2013, S. 312ff.).