Samstag, 2. März 2024

Fürdő nő (Károly Lotz, 1901)

La Fontaines La Laitière et le pot au lait … ein paar tagtraumanregende Verse trotz des schnöden Mammons, dem sie in ihrem Tagtraum nachjagte …
Perrette sur sa teste ayant un Pot au lait
Bien posé sur un coussinet,
Pretendoit arriver sans encombre à la ville.
Legere & court vestuë elle alloit à grands pas;
Ayant mis ce jour-là pour estre plus agile
Cotillon simple, & souliers plats.
Nostre Laitiere ainsi troussée
Comptoit déja dans sa pensée …
Man sah sie quasi vor sich, la jeune fille … Später dann sollte Hans Köberlin beim Lesen eines Eintrags von Edmond de Goncourt in nur noch seinem (denn der Bruder war bereits seit fast zwei Jahren tot) Journal, getätigt am Freitag, dem 13. Februar 1874, folgendes, das ihn an sein, Hans Köberlins, Milchmädchen und dessen (ihm nicht bekannten [es handelte sich um Károly Lotz (1833-1904), dessen Bild aus dem Jahre 1901 eigentlich auch Fürdõzõ nõ und nicht Tej lány hieß, Anmerk. des Verf.]) Maler erinnerte (aber wir greifen hier vor; zu diesem Milchmädchen, der Auslöserin dieses längeren Teils dieser Fußnote, siehe unten S. 292 und dort die Fußnote 1062 sowie die bereits in der Fußnote 888 auf S. 231 erwähnte Abbildung unten S. _ _ _ _), lesen: »Hier, j’ai passé mon après-midi dans l’atelier d’un peintre, nommé Degas. Après beaucoup de tentatives, d’essais, de pointes poussées dans tous les sens, il s’est énamouré du moderne, et dans le moderne, il a jeté son dévolu sur les blanchisseuses et les danseuses. Je ne puis trouver son choix mauvais […] En effet, c’est le rose de la chair, dans le blanc du linge, dans le brouillard laiteux de la gaze: le plus charmant prétexte aux colorations blondes et tendres. Et Degas nous met sous les yeux des blanchisseuses, des blanchisseuses, tout en parlant leur langue, et nous expliquant techniquement le coup de fer appuyé, le coup de fer circulaire, etc., etc. Défilent ensuite les danseuses. C’est le foyer de la danse, où sur le jour d’une fenêtre, se silhouettent fantastiquement des jambes de danseuses, descendant un petit escalier, avec l’éclatante tache de rouge d’un tartan au milieu de tous ces blancs nuages ballonnants, avec le repoussoir canaille d’un maître de ballets ridicule. Et l’on a devant soi, surpris sur la nature, le gracieux tortillage des mouvements et des gestes de ces petites filles-singes.« Und wo er, Hans Köberlin, schon beim Erinnern war, da fiel ihm noch ein von Ror Wolf beschriebenes Bild ein: »In einer der Türöffnungen, im gemaserten Braun des Rahmens, stand eine blasse wie aus einem lehmigen Schlaf aufgetauchte junge Frau, oder sie stand so als hätte sie sich aus einem vielleicht gallertartigen Stoff befreit, oder aus einer ungeheuren Umarmung, die ihre Spuren auf den wunden zerbissenen aufgeschwollenen Lippen zurückgelassen hatte, mit lang herabhängendem Haar, aufgähnend, irgend etwas Unsichtbares vom Körper abstreifend, sie stand in einem raschelnden spitzenbesetzten schleierartigen Bekleidungsstück, unter dem sich, während sie sich die Augen rieb und etwas ebenfalls Unsichtbares in der Luft zerriß oder beiseite schob, ihre kindlichen noch geradeverlaufenden, also ohne Ausbuchtungen oder Schwellungen verlaufenden, also ohne die eigentlichen weiblichen Brustformen und Hüftformen verlaufenden Körperlinien abzeichneten, das dunkle gleichschenklige Haardreieck an ihrem Leib, ihre großen scheibenförmigen Brustwarzenhöfe, ihre Rippen unter der Haut wie eine Schraffierung, sie verdrehte sich zu einer armeaufreckenden Pose und zeigte sich in halber Drehung einen Augenblick von der Rückseite, ich sah ihre matten oder vielmehr eigentlich schimmernden Hinterbacken, das Herabrutschen eines Trägers über eine magere Schulter bei dieser Bewegung, einen Augenblick danach, nach der Beendigung ihrer Bewegung trat sie wieder zurück auf kleinen Filzpantoffeln in ein anderes mir unbekanntes Leben, vielleicht mit rüschenbesetzten Federkissen zerwühlten Daunendecken kristallenen bequasteten Toilettengegenständen Parfümzerstäubern rosafarbenen Puderwölkchen seidenen Wäschestücken verschwebenden Frauengerüchen …« (Fortsetzung des Berichts, München 2011, S. 20f.). Egon Schiele fiel Hans Köberlin da, bei dieser Beschreibung der Mageren, ein (sein Milchmädchen dagegen war eher etwas (aber nicht zu) üppig, stand aber gleichfalls leicht »verdreht zu einer armeaufreckenden Pose«), und ihm kam der Gedanke, daß es stilistische Ähnlichkeiten und Entsprechungen gab zwischen der Prosa Ror Wolfs in Fortsetzung des Berichts und der Prosa Claude Simons, allerdings mit dem Unterschied, daß Simon in der Regel konkrete Bilder (Francis Bacon etwa, vgl. vom Verf. … du rissest dich denn ein., a. a. O., S. 495) beschrieb, wohingegen Wolf hier eher typische (falls es nicht doch ein Schiele oder etwas expressionistisches in der Art – die windspieligen weimarer Mädchen – sein sollte …), wie man sie aus dem Fernsehen und der Trivialliteratur kannte: der Epiphanie im Türrahmen mit dem »dunklen gleichschenkligen Haardreieck an ihrem Leib« (man sah es plastisch vor sich …) sollte die Vision eines Mordes aus Eifersucht, wie man ihn aus Kolportagen kannte, folgen … – Als Hans Köberlin dann ein wenig recherchierte – abgesehen von dem Fußballkram war ihm Ror Wolf (bis auf Danke schön. Nichts zu danken. Geschichten, Frankfurt am Main 1969) noch zu entdeckendes Neuland – kam er darauf, daß der nouveau roman über Peter Weiss zu ihm gekommen war, nämlich über Weiss’ Der Schatten des Körpers des Kutschers (»Am Ende steht immer der Schoß, in den man eindringen möchte«, sollte sich Hans Köberlin irgendwann später einmal dazu notieren), und wieder einmal verfluchte er, Hans Köberlin, daß er sich zu keinerlei systematischer Ausbildung hatte durchringen können. »Aber so gibt es bis zum Ende noch etwas zu entdecken …« Wir halten es nach diesem Vorgriff doch für angebracht, Károly Lotz’ Fürdõzõ nõ, deren Original unseres Wissens in der Magyar Nemzeti Galéria hängt, hier bereits abzubilden (siehe auch unten, S. 831ff.).

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Erste Phase – oder: Altlasten] Vom 13. Oktober bis zum 2. November 2013, S. 237f.).

Samstag, 24. Februar 2024

Empirie, 34. Update

¡Hans Koberlin vive! in Daten (der Stand von heute):
  • Stand des Manuskripts:
    • Seiten: S. 1.872 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 4.962
  • Stand der Bearbeitung:
    • Seiten: S. 1.606 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 4.154
    • Kapitel: XIV (= Phase 6 – oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung*) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Bearbeitung: Samstag, der 22. März 2014, der 172. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
  • Der Beginn der Handlung ist mit Analepsen der Sonntag, der 23. Oktober 4004 vor unserer Zeitrechnung, 9 Uhr vormittags,* ohne Analepsen der Herbst 2012.
  • Das Ende der Handlung fällt mit den Prolepsen mit dem Ende der (oder bloß einer?) Welt zusammen,** ohne Prolepsen mit dem Frühjahr 2016.
  • Beginn der Niederschrift: Mittwoch, den 2. Oktober 2013
  • Ende der Niederschrift: noch nicht abzusehen.
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen.

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seiten: S. 778 von 778 Seiten
    • Fußnoten: 2.280
    • Kapitel: VIII (= Dritte Phase – oder: Konsolidierung) von VIII Kapiteln nebst einem vorläufigen Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Donnerstag, der 19. Dezember 2013, der 79. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teils des zweiten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen (obwohl der erste Teilband noch nicht publiziert wurde – c’est la vie).

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seite: S. 1.534
    • Fußnoten: 3.986
    • Kapitel: XIV (= Phase 6 – oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung*) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Donnerstag, der 13. März 2014, der 163. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen


* (= die Fußnote 3970 auf S. 1512) Rainald Goetz, Word, Hamburg 1994.
** (= die Fußnote 5 auf S. 7) »Non in tempore sed cum tempore Deus creavit caela et terram.« (Augustinus).
Nun: »In der Schiffsbibel von Charles Darwin auf der ›Beagle‹, mit der er von 1831 bis 1836 die Welt bereiste, stand das Datum der Weltschöpfung eingetragen: 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt, 9 Uhr vormittags.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 47). Das war ein Sonntag, am folgenden Freitag war er, der Schöpfer, fertig, und auch das jüngste Gericht soll nach christlichen Vorstellungen auf einen Freitag fallen, ein Datum haben wir gerade nicht zur Hand.
»Soldats, quarante siècles vous regardent!«
»L’ouvrage que j’ai entrepris aura la longueur d’une histoire«, hatte Balzac stolz in seinen Avant-Propos de La Comédie humaine postuliert.
*** (= eine Anmerkung aus der fünften Nachlese) »Die Welt des Dichters ist nicht die einzige Welt. Es gibt mehrere Dichter.« (Bertolt Brecht, Schriften zum Theater 1; in: Gesammelte Werke, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1967, Bd. 15, S. 393).

Wird aktualisiert!

Fenster #397

Mittwoch, 21. Februar 2024

Samstag, 23. Dezember 2023

Avenida Gabriel Miró

Im Zentrum mußte Hans Köberlin feststellen, daß hier heute ein Feiertag war, und zwar ein kirchlicher Feiertag, man feierte den heiligen Joseph, den Schutzheiligen der Zimmermänner und der gehörnten Ehemänner, und deshalb gab es auch kein neues Volumen für den Surfstick und deshalb war es wohl auch heute morgen leerer als gewöhnlich auf den Straßen gewesen und deshalb würde er morgen wohl auch etwas später seinen Dauerlauf absolvieren, um dabei den heute kirchlich vereitelten Kauf von Volumen nachzuholen. Es war noch zu früh für den Pub, er ging also weiter die Haupteinkaufsstraße hoch zu dem Platz, an dem er zu Beginn des Exils mit der Frau die kuriose Beobachtung gemacht,* und bestellte sich dort in der Bar einen Rotwein. Der Blick war wie immer herrlich: die Straße hinab auf den Strand mit der Stirnseite des Peñón de Ifach als Akzent am Horizont, und zum ersten Mal seit er hier im Exil, kam ihm der Gedanke, daß man bei der Gründung des Ortes – der festen Gründung nach den organischen Ursprüngen – die Lage der Hauptstraße bewußt so angelegt hatte.


* Siehe oben S. 193. An dem Tag, dem Montag, dem 7. Oktober 2013, dem sechsten von 324 Tagen, hatte Hans Köberlin auch die hier wiedergegebene Aufnahme gemacht.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Sechste Phase ‒ oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung] Vom 13. März bis zum 10. April 2014, S. noch offen).

Samstag, 2. Dezember 2023

Empirie, 33. Update

¡Hans Koberlin vive! in Daten (der Stand von heute):
  • Stand des Manuskripts:
    • Seiten: S. 1.842 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 4.900
  • Stand der Bearbeitung:
    • Seiten: S. 1.574 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 4.082
    • Kapitel: XIV (= Phase 6 – oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung*) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Bearbeitung: Dienstag, der 18. März 2014, der 168. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
  • Der Beginn der Handlung ist mit Analepsen der Sonntag, der 23. Oktober 4004 vor unserer Zeitrechnung, 9 Uhr vormittags,* ohne Analepsen der Herbst 2012.
  • Das Ende der Handlung fällt mit den Prolepsen mit dem Ende der (oder bloß einer?) Welt zusammen,** ohne Prolepsen mit dem Frühjahr 2016.
  • Beginn der Niederschrift: Mittwoch, den 2. Oktober 2013
  • Ende der Niederschrift: noch nicht abzusehen.
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen.

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seiten: S. 778 von 778 Seiten
    • Fußnoten: 2.280
    • Kapitel: VIII (= Dritte Phase – oder: Konsolidierung) von VIII Kapiteln nebst einem vorläufigen Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Donnerstag, der 19. Dezember 2013, der 79. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teils des zweiten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen (obwohl der erste Teilband noch nicht publiziert wurde – c’est la vie).

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seite: S. 1.525
    • Fußnoten: 3.986
    • Kapitel: XIV (= Phase 6 – oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung*) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Donnerstag, der 13. März 2014, der 163. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen


* (= die Fußnote 3970 auf S. 1512) Rainald Goetz, Word, Hamburg 1994.
** (= die Fußnote 5 auf S. 7) »Non in tempore sed cum tempore Deus creavit caela et terram.« (Augustinus).
Nun: »In der Schiffsbibel von Charles Darwin auf der ›Beagle‹, mit der er von 1831 bis 1836 die Welt bereiste, stand das Datum der Weltschöpfung eingetragen: 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt, 9 Uhr vormittags.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 47). Das war ein Sonntag, am folgenden Freitag war er, der Schöpfer, fertig, und auch das jüngste Gericht soll nach christlichen Vorstellungen auf einen Freitag fallen, ein Datum haben wir gerade nicht zur Hand.
»Soldats, quarante siècles vous regardent!«
»L’ouvrage que j’ai entrepris aura la longueur d’une histoire«, hatte Balzac stolz in seinen Avant-Propos de La Comédie humaine postuliert.
*** (= eine Anmerkung aus der fünften Nachlese) »Die Welt des Dichters ist nicht die einzige Welt. Es gibt mehrere Dichter.« (Bertolt Brecht, Schriften zum Theater 1; in: Gesammelte Werke, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1967, Bd. 15, S. 393).

Wird aktualisiert!

Sonntag, 26. November 2023

1972-09-29 New York [Mittwoch, der 22. Januar 2014]

Nach dem Dauerlaufen frühstückte Hans Köberlin witterungsbedingt wieder im leeren Wintergarten und hörte dabei jenes Konzert, das Miles Davis am 29. September 1972 in der Philharmonic Hall der Stadt, die niemals schlief, gegeben hatte; man befand sich nun wieder in der stockhausigen On the Corner-Zeit, es waren anscheinend zwei Sets, weil es zweimal The Theme gab, aber Hans Köberlin behandelte sie, da es zu keinen Wiederholungen kam, wie eines, es konnte ja auch sein, daß es nur eine Pause innerhalb eines Sets gegeben hatten. Die Aufnahme begann mit Rated X, ein teuflischer Groove, der auf M’tumes Perkussion und kurzen Riffs einer per Wah-wah pedal verzerrten elektrischen Gitarre basierte, akzentuiert von Miles Davis’ gleicherart verzerrten Trompete, bis sich nach gut fünf Minuten Hendersons elektrischer Baß mit ein paar heftigen Schlägen meldete und, gefolgt von dem Saxophon, in das Treiben einstieg, ein geniales Gewusel, das Hans Köberlin anscheinend dazu verleiten wollte, zur angemessenen Rezeption unangemessen auf nüchternen Magen irgendeinen hochprozentigen Alkohol zu trinken – in die Jahre gekommen gab er freilich dieser Versuchung aus Vernunftsgründen nicht nach.* Es folgte Honky Tonk, wobei der Bruch nicht so arg war, wie sich das hier vielleicht liest, man erkannte das Stück am Baß, aber die Trompete wies schon auf die kommenden drei Jahre; wunderbar das Saxophon! Hans Köberlin schaute nach: Carlos Garnett … den Namen hatte er noch nicht bewußt wahrgenommen … er durfte nicht vergessen, daß er heute Nachmittag einen Termin mit Carlos Metafonía hatte … Es folgte Theme from Jack Johnson, es klang diesmal wie das Intro von Moja (Dark Magus) oder Zimbabwe (Pangaea) und nicht wie das gleichnamige Stück von Agharta, dem folgte Black Satin, durch eine leichte Akzentverschiebung des Baßlaufs etwas kommoder als im Studio, dann, nach einem Applaus, gut eine halbe Stunde Ife, in der ersten Viertelstunde ruhige Meditationen der Musiker auf einem monotonen Baß, dann wurde es kurz hektisch wie bei der Studiosession, wieder ruhig und ging schließlich in ein modifiziertes Right Off über. Es war ein sehr anregendes Frühstück. Hans Köberlin überlegte, wie das wäre, mit einem Wah-wah pedal verzerrt zu schreiben … Aber es war ja nicht die Verzerrung der Klänge, die diese Musik ausmachte, sondern der spezifische Rhythmus, M’tumes Perkussion vor allem … Und für sein Schreiben wäre das Wah-wah pedal wohl nicht die angemessene Metapher.

* »Meine Kompositionen waren schon lange Zeit kreisförmig angelegt und durch Stockhausen wurde mir jetzt klar, daß ich nie wieder zu dem alten Achttakteschema zurückkehren will, denn meine Stücke sind nie zu Ende; sie können immer weitergehen […] Stockhausen regte mich dazu an, Musik als einen Prozeß von Addition und Subtraktion zu betrachten. Genau wie ein ›Ja‹ nur nach einem ›Nein‹ Sinn bekommt. Ich experimentierte viel. Beispielsweise sagte ich meiner Band, sie solle den Rhythmus spielen, ihn halten und auf nichts reagieren, was passiert; das Reagieren wollte ich übernehmen.« (Miles Davis und Quincy Troupe, Die Autobiographie, München, 42000, S. 442f.).

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 1025f.).

1972-09-14 Boston [Mittwoch, der 19. Februar 2014]

Zum Frühstück im leeren Wintergarten hörte er heute jenes Konzert, das Miles Davis am 14. September 1972 für den Rundfunk in der Pauls Mall in Boston gegeben hatte. Es war die On the Corner-Zeit und als erstes gab es, nicht so filigran wie bei der Studiosession, Black Satin, dann Honky Tonk, gleichfalls im On the Corner-Stil interpretiert, wie auch das anschließende Right Off und die abschließenden drei Takte Sanctuary. Die Aufzeichnung ging nur über fünfunddreißig Minuten, so daß sich Hans Köberlin im Anschluß noch On the Corner selbst anhörte. Dieses Album war ihm – wie Bitches Brew – durch unzähliges Hören so vertraut geworden, daß seine Form sich quasi in ihrem Medium auflöste und Hans Köberlins Gedanken, so sehr er sie auch dabei behalten wollten, abschweiften, verströmten, dabei aber doch, irgendwie anders als im Modus des Hörens, bei der Musik blieben … ›hörend überhören‹, hätte Kafka vielleicht geschrieben … ach … Hans Köberlin kam es jetzt vor, als sei bereits eine Ewigkeit vergangen, seit er sich mit den Forschungen des Hundes auseinandergesetzt hatte.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014 Vom 31. Januar bis zum 9. Februar 2014, S. 1289f.).

Sonntag, 19. November 2023

1971-11-08 København [Sonntag, den 16. März 2014]

Zum Frühstück nun gab es – wenn Hans Köberlin nichts in seinem Musikarchiv übersehen hatte,* den letzten regulären noch nicht gehörten Miles-Davis-Konzertmitschnitt, nämlich den vom 8. November 1971 aus dem Tivoli in der Stadt von Kirkegaard und Hans Christian Anderson beziehungsweise von dessen kleiner Meerjungfrau. Das Cover von Hans Köberlins nur digital zuhandenen Version dieses Mitschnitts, war, wenn er sich nicht täuschte, von Mati Klarwein und zeigte eine tropische und keine skandinavische Szene mit einer reizvollen üppigen Frau im Zentrum. Es war ein längerer Mitschnitt, über eineinhalb Stunden, es gab das übliche Programm aus der Zeit, beginnend mit Dircetions, die Titelfolge war die gleiche wie gestern in der Donaumetropole,** aber das Konzert hatte in toto einen etwas anderen Charakter, es kam Hans Köberlin homogener vor. Auch hier war die Qualität der Aufnahme durchwachsen, dafür gab es einen schönen Groove und Hans Köberlins fand seinen die Themen betreffenden Eindruck von gestern bestätigt. Der Höhepunkt war für Hans Köberlin Keith Jarretts Solo auf dem E-Piano zum Beginn des abschließenden Funky Tonk.

* Später am Tag fiel ihm aus heiterem Himmel ein, daß er noch einen sehr frühen Mitschnitt aus dem Mai des Jahres 1949 hatte, wo Miles Davis als Teil des Tadd Dameron Quintets spielte. Als er sich den raussuchte, fand er noch einen Mitschnitt vom 8. Dezember 1957 aus Amsterdam, einen Mitschnitt vom 9. September 1958 aus dem Plaza Hotel in New York, einen Mitschnitt von einem Konzert im Oktober 1964 in Helsinki und einen vom 23. Oktober 1983 aus Warsaw. Und dabei schließlich stieß er auf einen Datenordner, der bei dem Transfer von seinem alten Computer auf das große Laptop vor dem Aufbruch in sein Exil wohl verschollen gegangen war. Er enthielt vier Mittschnitte von insgesamt sechs Sets der zweiten Europatournee des Jahres 1960, auf der Sonny Stitt John Coltrane ersetzt hatte.
** Hans Köberlin wußte noch von einem Mitschnitt vom 6. November 1971 aus der Philharmonie der Hauptstadt, der sich aber zu seinem Bedauern nicht in seiner Sammlung befand.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Sechste Phase ‒ oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung] Vom 13. März bis zum 10. April 2014, S. noch offen).