Herbert Neidhöfer, homme de lettres
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Sonntag, 7. August 2016
Donnerstag, der 7. August 2014
[310 / 14]
Und Jules hatte heute vor 150 Jahren einen geglückten Abend gehabt …
7. August – Heute abend war Ball im Casino. Sie hatte ein tief ausgeschnittenes Mieder angezogen, jene hübsche Entblößung, die den zarten Zwischenraum der Brüste zeigt.
Wir sind zusammen ausgegangen. Sie war halb glücklich über ihre Aufmachung wie ein Kind, halb verwirrt, wie jemand, der sich nackt fühlt. Sie bemühte sich mit der freien Hand eine kleine Jacke zu schließen, die sie darüber trug, damit man nicht zu viel sehen sollte, ohne sie jedoch ganz zu schließen. Als wir auf der Straße gingen, rief sie nach einer ihrer Freundinnen, die im Erdgeschoß am Fenster saß und bat sie um eine Nadel, wobei sie leise zu mir sagte: »Peinlich, seine Haut auf der Straße zu zeigen …«
Wir tranken im Salon eine Tasse Kaffee, währenddessen die Nadel, ich weiß nicht wie, aufging. Sie trug ein weißes Mieder mit blauen Verzierungen. Ein Leibchen aus Batist unter dem das Rosige des Fleisches sichtbar wurde, verbarg noch das Bißchen an sichtbarem hellen Fleisch. Eine Kette aus vergoldetem Filigran, die in der Halsgrube hing, lief zwei oder drei Mal darüber hin. Zwischen ihre beiden Brüste hatte sie eine hellrosafarbene, purpurrot geäderte Nelke gesteckt, die das blühende Leben ihres Fleisches hervorhob und die Nelke wie eine künstliche Blume erscheinen ließ.
Sie roch an der Nelke, indem sie den Kopf senkte und die Grube zwischen den Brüsten vertiefte. Von Zeit zu Zeit hatte sie jenes träge Händeverschränken, das unter dem Rosigen ihrer Finger das matte Weiß ihrer Haut zeigte und verbarg. Einmal zog sie die Nelke aus ihrem Busen, roch lange mit geweiteten Nasenflügeln daran, reichte sie mir dann wie etwas, das sie nicht mehr wollte, und sagte zu mir: »Riechen Sie mal, ich liebe diesen Duft. Zu der Zeit, als ich künstliche Blumen machte, für Kirchen, wissen Sie, habe ich immer eine getrocknete Nelke in meine Nelkenblüten gesteckt.«
Es ist erstaunlich, wie wir, die Männer, obwohl wir nichts von einer Frau verlangen oder ersehnen, doch glücklich sind, daß die Freundschaft dieser Frau irgendwie an Liebe erinnert.*
* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 4, S. 95f.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
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