Montag, 9. März 2015

Milestones

Ian Carr hat in seiner Miles-Davis-Biographie über Milestones geschrieben (ich habe die Quelle momentan leider nicht zur Hand): »Das ganze Album scheint von dem Gefühl durchzogen, daß die Vergangenheit reich, die Gegenwart angenehm und die Zukunft vielversprechend ist.«

Differenziert indifferent

Seine Tage hier würden jetzt wohl einförmiger werden, da er alle sichtbaren Gipfel bestiegen und da er fast alle ›natürlichen‹ Straßen (was so viel hieß wie: alle außer den labyrinthischen Straßen der Urbanizaciónes) begangen und da er alle Playas und alle Calas und alle Puertos in seinem fußgängerischen Einzugsbereich besucht hatte, Abwechslung und Sensationen würden das Lesen und das Schreiben und die Musik- und manche Filmrezeption in sein Hiersein bringen, und natürlich die alltägliche Sensation seines selbstbestimmten (wir verwenden den Ausdruck weiterhin) Hierseins an einem idealen Ort und die wenn möglich permanente Reflektion der alltäglichen Irrationalität seines selbstbestimmten Hierseins an einem idealen Ort …: er hatte es so gewollt: die Sensation, die in der Einförmigkeit lag. Das stand allerdings in Kontrast zu etwas anderem: Hans Köberlin empfand es nämlich als seltsam, wenn er sich musikhörend in den Büchern versenkte und – egal was auch immer, geistreiche Einfälle oder Banalitäten – schrieb, er war dabei wie in einer Blase, indifferent gegenüber seiner Umwelt, wie er es auch in der Hauptstadt gewesen und wie er es auch in Puglia gewesen, wo – in der Hauptstadt oder in Puglia – er dann auch hätte sein können, an egal welchem Ort sein können … nun aber war er hier und er war jetzt hier. Sein Hier- und Jetztsein war also zugleich äußerst signifikant und zugleich äußerst indifferent, und seine Emotionen lagen seit dem Verschwinden der Frau in der Sicherheitszone des Aeropuerto blank … Es gab Hafen für die Luft wie für das Meer … Hafen also als Orte an der Schwelle zu Elementen, die dem Menschen nicht per se zukamen, es gab keine Erdhafen und es gab keine Feuerhafen … vielleicht konnte man Raumhafen als Feuerhafen bezeichnen … und Hans Köberlin fragte sich, ob ihm jetzt dieser Gedanke von den Elementen, die dem Menschen nicht per se zukamen, allein gekommen, oder ob eine vergessene Erinnerung an eine Sloterdijk-Lektüre sich zurückgemeldet hatte.
»Aber ich muß hier sein, um mich meiner Umwelt gegenüber indifferent verhalten zu können. Vielleicht könnte man mein Verhalten am Schreibtisch (striptease table) als ›differenziert indifferent‹ bezeichnen …«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel X [Phase IV – oder: modus vivendi], 7. bis 30. Januar 2014).

Im Kontext


Ironie des Schicksals

»Blind für wirkliche Schuld, kann das Schicksal doch unbarmherzig gegen die kleinsten Unachtsamkeiten sein«, zu dieser im Sinne des Wortes fatalen Einsicht kam der Erzähler in Borges’ El Sur (Der Süden; in: Fiktionen; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 5, Frankfurt am Main 1992, S. 154). Eine Illustration dieser Einsicht ist das Schicksal des Kunstfälscherehepaars Helene und Wolfgang Beltracchi, wie es Burkhard Müller in einem sehr lesenswerten Aufsatz berschreibt:

Die Stilkritik hat im Fall Beltracchis ein Fiasko erlebt, von dem sie sich so schnell nicht und vielleicht nie wieder erholen wird. Was die Provenienz angeht, also den möglichst lückenlosen Nachweis des Verbleibs eines Kunstwerks von seiner Entstehung bis zur Gegenwart, konnten die Beltracchis mit ihren frei erfundenen historischen Sammlungen straffrei ein Theater von erstaunlicher Unverfrorenheit abziehen. Es genügte an einem bestimmten Punkt, daß sie ein altes Wohnzimmer nachstellten, mit Fotokopien der von ihnen mittlerweile verkauften Gemälde schmückten (kam ja sowieso alles schwarzweiß rüber), Elena Beltracchi mit Rüschenbluse und Häubchen als Großmutter posierte (was offenbar keinem auffiel) und das Ganze mit einer altertümlichen Kamera festgehalten wurde.
Zum Verhängnis wurden den beiden schließlich Fehler beim Material: Eine Farbtube, auf der »Zinnweiß« stand, enthielt in Spuren ein Titanweiß, das zum fraglichen Zeitpunkt noch nicht auf dem Markt war. Sie fielen am Ende einer Fehldeklarierung zum Opfer. Man wird dieses Endes nicht recht froh. Es ist, als wäre Caesar, statt den Dolchen der Senatoren, einer Lebensmittelvergiftung erlegen. Sie sind über etwas gestürzt, was sich zu ihrem Können rein zufällig verhielt.

(Burkhard Müller, Beltracchi. Oder warum die Kunst den Zweifel braucht; in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, hrsg. v. Christian Demand, Heft 790, 69. Jahrgang, Stuttgart März 2015, S. 13).

Anders als Burkhard Müller allerdings werde ich dieses Endes recht froh (insofern es ein Ende geben mußte, damit es eine Geschichte werden konnte, ansonsten hätte ich den Beltracchis natürlich weiterhin ein frohes Schaffen gewünscht), denn eingedenk der Geschichten Poes und Borges’ oder eingedenk der zahlreichen Filme, die sich mit dem sogenannten perfekten Verbrechen beschäftigten, etwa Rififi (Jules Dassin, 1955) und L’ascenseur pour l’échafaud (Luis Malle, 1958), war dies ein angemessenes Ende, weil es angesichts der Komplexität des Falles von unglaublich banalem Charakter war, so daß es die sprichwörtliche Ironie des Schicksals aufblitzen ließ wie selten (und dem Schicksal eine Ironie zu unterstellen ist vielleicht eine bessere Wappnung gegen es als die Ergebenheit in es), und, wie Burkhard Müller gleichfalls anmerkte aber anders bewertete, weil es sich der Einflußnahme der Agierenden entzog. Gerade dies, so finde ich, tut der Überlegenheit der Beltraccis selbst in ihrem Scheitern keinen Abbruch, sie brauchten sich kein Versagen vorzuwerfen (daher paßt auch das einleitende Zitat nicht so ganz, denn es ist weit weniger denn eine Unachtsamkeit, nicht zu überprüfen, ob sich in einer Tube, auf der »Zinnweiß« stand, auch ja keine Spuren von »Titanweiß« befanden). Wäre Cäsar an einer Lebensmittelvergiftung gestorben, hätte das Shakespeare um eine Tragödie gebracht, Cäser jedoch wahrscheinlich nicht um seinen Nachruhm in der Historie, wie man am Beispiel seines Vorläufers Alexander III. von Makedonien sehen kann.

Eine Traumgraphik

Folgende Grafik, die wohl eine Art von Kreislauf der Reflexion illustrieren soll, erschien mir vergangene Nacht: