Sonntag, 3. Januar 2016

Freitag, der 3. Januar 2014


[94 / 230]
Hans Köberlin erinnerte sich beim Lesen, wie er die Frau kennengelernt, in der vorletzten oder der letzten Juniwoche des vergangenen Jahres, an den genauen Tag konnte er sich wegen der allgemeinen Auflösung damals nicht mehr erinnern,* bloß an den genauen Tag, zu dem er sie zum Essen eingeladen … man hatte gut gegessen und gescherzt in dem Restaurant, das nach einem Film von Visconti benannt worden war, und Hans Köberlin hatte von den Telos-Fragmenten, die er zu einem Ende bringen sollte, erzählt und man hatte sich zum Abschied an der U-Bahn-Station leidenschaftlich geküßt …: das war der Dienstag, der 2. Juli 2013, gewesen. – Hans Köberlin war also unterwegs in jenem Stadtteil in der Mitte der Hauptstadt, der der Einfachheit halber oder aus Kalkül einfach ›Mitte‹ hieß und früher der Westen des Ostens gewesen war, unterwegs um sich zur Klärung von Details über das Haus an der weißen Küste und der Übergabe der Miete für das erste Halbjahr und zum Anstoßen mit einem Glas Sekt mit seinem künftigen Landlord zu treffen. Er war aber wie immer viel zu früh dran und wollte in einem petit café, in dem man auch draußen sitzen konnte, noch ein Glas Rotwein trinken. Es gab allerdings draußen keinen freien Tisch, und Hans Köberlin tat, was er in solchen Fällen für gewöhnlich immer tat: er schaute nach dem Tisch, an dem die schönste Frau alleine saß … und er fragte sie also, ob er sich zu ihr setzen dürfe, was sie ihm mit einer Geste gewährte, um sich dann wieder in ihre Lektüre zu vertiefen. Die Bedienung kam, Hans Köberlin bestellte sich zur Einübung (als ob er das nötig gehabt hätte!) einen Rotwein aus dem Land seines künftigen Exils und betrachtete verstohlen die Frau beim Lesen und beim gelegentlichen Nippen an ihrem Café au lait. Sie las in dem monatlichen Organ einer internationalen Organisation für Bergewanderer, Bergsteiger und Kletterer. Hans Köberlin nahm einen Schluck, zapfte seinen Krafthorizont an und sagte …**
»Schade, ich leide leider unter Akrophobie.«
Die Frau blickte von ihrem Magazin auf, schaute ihn an, überlegte einen Moment und entgegnete dann …
»Ich habe auch noch andere Interessen …«
Tja, so hatte es angefangen …


* Wenn unsere Recherchen stimmen, dann war es der Donnerstag, der 27. Juni 2013, also bloß fünf Tage vor ihrem ersten gemeinsamen Essen, gewesen.
** Und hier ist Kevin Ayers’ Soundtrack dazu (wir habe die Version von Odd-Ditties zwar bereits einmal zitiert, aber Gutes kann man nicht oft genug und in jedem Idiom wiederholen …
I just came in off the street
Looking for somewhere to eat
I find a small cafe
I see a girl and then I say

»May I sit and stare at you for a while?
I’d like the company of your smile«

You don’t have to say a thing
You’re the song without the sing
The sunlight in your hair
You look so good just sitting there

»May I sit and stare at you for a while?
I’d like the company of your smile«
(Mai I, Shooting at the Moon, 1970).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IX [Der zweite Besuch der Frau], 20. Dezember 2013 bis 6. Januar 2014).