Dienstag, 19. Januar 2016

Sonntag, der 19. Januar 2014


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Nach dem Frühstück setzte er sich mit dem Gasofen an seinen Schreibtisch, da keine Sonne den leeren Wintergarten wärmte. Bei Kierkegaard, den er nach einer längeren Pause einmal wieder zur Hand nahm, fand Hans Köberlin überraschend, denn er hatte dies vollkommen vergessen, eine Metaästhetik der ›Posse‹. Von Possen konnte ja Hans Köberlin mittlerweile auch ein Lied singen, oder hätte gekonnt, wenn er gewollt. – Kierkegaard begann seine Ausführungen mit der Feststellung, daß wenn man bei der Darstellung von etwas »schlechthin« oder »überhaupt« mit der (einzig notwendigen) Abstraktion nicht zu Rande komme, es auch durch das Gegenteil erreichen könne, nämlich durch eine zufällige Konkretion, denn: »Dicht hinter dem Ideal kommt nämlich das Zufälliges als das Nächste.« Darauf folgte eine Beschreibung des ständigen Gelächters des Publikums als integralem Bestandteil der Aufführung – die Posse war also der Vorläufer der Sitcom mit ihrem Dosenlachen – und mit der Feststellung, daß die Posse ihre Sujets aus den unteren Sphären nehme, ein Tatbestand, der das dementsprechende Publikum seinen Status als Publikum vergessen ließe. Dann differenzierte er das Lachen des dementsprechenden Publikums von anderem, davon verschiedenen Lachen und schloß daraus, daß die Wirkung der Posse individuell produziert sei und damit das Publikum »von allen ästhetischen Verpflichtungen, zu bewundern, befreie. Es gab bei der Posse keine Rezeptionsvorschriften wie in der kanonisierten Kunst, die durch ihre Kanonisierung der Überraschung beraubt sei: »Man kann sich da nicht verlassen auf die Aussagen der Nachbarn, des Gegenübers und der Zeitungsblätter, ob man sich amüsiert hat oder nicht.«* Kierkegaard sprach der Posse jegliche Ironie ab und bezeichnete sie als naiv, doch diese Naivität sei für den, der nicht wie das dementsprechende Publikum von der Handlung involviert werde, illusorisch, was die Möglichkeit zu authentischen Stimmungen biete. Unter dem Ensemble einer Posse, so Kierkegaard weiter, dürften sich höchstens zwei oder drei Genies befinden, die das nicht durch Erlernen einer Kunst, sondern durch ihr Wesen wären (als »Lyriker« bezeichnete er sie)** – Henry Vahl fiel Hans Köberlin ein, und Willy Millowitsch –, der Rest der Truppe sei – wegen des eingangs erwähnten Umstands – am besten zufällig zusammengewürfelt und mit Mäkeln behaftet,*** das untergeordnete Personal wirke durch jene abstrakte Kategorie »überhaupt«. Diese zufällige Konkretion verweise den nicht involvierten Rezipienten auf die Wirklichkeit und er »sieht diese Zufälligkeit die Forderung erheben, die Idealität zu sein, welches sie dadurch tut, daß sie in die Kunstwelt der Szene eintritt.« Daß die Zufälligkeit die Idealität sein sollte, das gefiel Hans Köberlin, und er fragte sich, ob man betreffs des Unterlaufens der Erwartung der Rezipienten Kierkegaards Überlegungen zur Posse auch auf den Begriff des ›Genres‹ übertragen könne, etwa auf das Genre des Kriminalfilms … in den Grenzen des Genres bleiben und sie gleichzeitig transzendieren … der frühe Godard hatte das gemacht … Bande à part (1964) … Hans Köberlin mußte an seine Lieblingsunterscheidung denken, nämlich die von Lévy-Strauss in La pensée sauvage gemachte in Ingenieure, die eine Idee oder ein Ideal hatten, daß sie der Welt aufzwingen wollten, und in Briccolateure, die nahmen, was zufällig da war und dann schauten, was man damit machen konnte.****


* Weiter unten merkte Kierkegaard an: »Die Luft im Theater ist auch ziemlich rein, nicht infiziert von dem Schweiß und den Ausdünstungen eines kunstempfindenden und kunstbegeisterten Publikums.«
** Von einem meinte Kierkegaard: »Er kann nicht bloß gehen, er kann auch gegangen kommen.«
*** Eine Ausnahme sollte – natürlich! – die Liebhaberin bilden, bei ihr müsse man darauf achten, daß sie anmutig wäre und ihre Wirkung freundlich und wohltuend.
**** Vgl. vom Verf. HannaH & SesyluS oder Eine Reise aus der Welt in drei Tagen, Berlin 2. ein wenig verbesserte Auflage 2012, S. 350ff.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel X [Phase IV – oder: modus vivendi], 7. bis 30. Januar 2014).