Mittwoch, 25. November 2015

Ein ›Ja.‹ und ein ›Nein.‹

»Hatten Sie Gelegenheit zu Ihrem ersten sexuellen Kontakt, bevor es zu Ihrem tatsächlichen ersten sexuellen Kontakt kam? Ihnen war aber gar nicht klar, daß es eine Gelegenheit zu Ihrem ersten sexuellen Kontakt war? Würden Sie, wenn Sie könnten, zu dieser ersten Gelegenheit zurückkehren und alles entfernen, was Sie daran gehindert hat, diese Gelegenheit klar zu erkennen? Oder, wenn Ihnen damals klar war, daß es eine Gelegenheit war, es aber andere Hindernisse gab, die dem Zustandekommen des Kontakts im Wege standen, würden Sie diese Hindernisse beseitigen und diesen ersten sexuellen Kontakt früher knüpfen als den ersten sexuellen Kontakt, zu dem es dann tatsächlich kam? Wenn es in Ihrer Vergangenheit einen verpaßten ersten sexuellen Kontakt gibt, erinnern Sie sich, wie die Person hieß, um die es bei diesem Kontakt vielleicht gegangen wäre?« (Padgett Powell, Roman in Fragen, übersetzt von Harry Rowohlt, Berlin 2. Aufl. 2012, S. 91).

Ja.

»Wären Sie bereit, mir den Namen sowie weitere Einzelheiten mitzuteilen?« (ebd.).

Nein.

Montag, der 25. November 2013


[55 / 269]
… heute vor 133 Jahren, während jenes für beide Seiten fatalen Kriegs mit Preußen und seinen Verbündeten, schrieb Edmond (Jules war im vorhergegangenen Sommer bloß 39jährig verstorben) …
Freitag, 25. November – Nie, scheint mir, war die Herbststimmung so schön wie dieses Jahr. Das rührt vielleicht daher, daß ich mehr denn je darauf achte und stets den Blick auf den preußischen Horizont gerichtet habe.
Heute abend konnte ich nicht genug davon bekommen, dieses bis ins Blaue reichende, sonnenbeschienene Gestrüpp zu betrachten, zwischen jenen Trümmern und toten Krummhölzern im Rosaton der Heidekräuter; die Anhöhe von einem heftigen Violett; die Häuser von Saint-Cloud in unbeschreiblichem bläulichen Weiß, hervorgerufen durch die Rauchschwaden des ewigen Brandes, der dort seit Monaten schwelt.
Und diese Landschaft eines Farbenkünstlers hatte als Himmel einen Feuerhimmel in Kirschrot, der in kreisförmigen Höfen zwei oder drei wundersame Flecken von blassem Blau umschloß, von einem Blau, das Lessore auf die Fayence seiner Teller tupft.
Edmunds Beschreibung der Kriegsereignisse aus einer ästhetischen Perspektive, als ob er ein Bild oder eine Zeichnung beschriebe, zog sich durch die ganze Zeit der preußischen Belagerung der Stadt der Liebe, manchmal sogar damit die Not der Bevölkerung denunzierend.* Überhaupt beklagte sich er, der sich selber nicht zu den Nationalgardisten gemeldet, über die Feigheit der Armeen und den mangelnden Heroismus der Arbeiter, siehe etwa seinen Eintrag vom Donnerstag, dem 29. Dezember 1870.** Auch Hans Köberlin würde sich unter Berufung auf Pred 9.4 für keine Fortsetzung mit anderen Mitteln einer per se verfehlten Politik abschlachten lassen, und für irgendwelche Vaterländer schon gar nicht.*** Er verglich Edmonds Kriegsimpressionen aus den Jahren 1870 und 1871 mit denen Prousts, der beschrieben hatte, wie sich Charlus während des ersten Weltkriegs, als erneut die Hunnen im Land gewesen und seine Hauptstadt bedroht hatten, in dubiosen Katakomben ficken ließ …**** Edmonds Patriotismus … ohne Jules würde, so befürchtete Hans Köberlin, das Journal mangels Frivolitäten an Reiz verlieren, oder anders gesagt: mangels nacktem Fleisch an Geist …*****


* Hier ein Beispiel vom nächsten Tag, dem Samstag, dem 26. November 1870: »Dort bricht eine Bande von Kindern, Frauen und Männern an diesen armen Bäumen herum, die, wenn sie vorüber sind, mit hel-len Rissen, auf den Boden hängenden Ästen und verdrehten Zweigen widerspenstigen Holzes zurückbleiben – eine Plünderung, die empört und die Zerstörungswut der Pariser Bevölkerung entlarvt.« (Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 5, S. 274f.). Die Leute brauchen halt Brennholz.
** Ebd., S. 306ff. Aber dann später, während der Tage der Commune, am Mittwoch, dem 12. April 1971, machte er folgende Feststellung: »Pourquoi cet acharnement dans la défense, que n’ont pas rencontré des Prussiens? Parce que l’idée de la Patrie est en train de mourir! Parce que la formule ›les peuples sont des frères‹, a fait son chemin, même en ce temps d’invasion et de cruelle défaite. Parce que les doc-trines d’indifférence de l’Internationale, au point de vue de la nationalité, ont filtré dans les masses. Pourquoi encore cet acharnement dans la défense? C’est que, dans cette guerre, le peuple fait, lui-même, la cuisine de sa guerre, la mène lui-même, n’est pas sous le joug du militarisme. Cela amuse ces hommes, les intéresse. Alors, rien ne les fatigue, rien ne les décourage, rien ne les rebute. On obtient tout d’eux – même d'être héroïques.« (vgl. ebd., S. 393f.).
*** Er käme auch nicht weit, selbst wenn er es gewollt, denn um ihm war es wie um seinen Namensvetter Hans Castorp bestellt: »Abenteuer im Fleische und Geist, die deine Einfachheit steigerten, ließen dich im Geist überleben, was du im Fleische wohl kaum überleben sollst.« (Thomas Mann, Der Zauberberg, Frankfurt am Main 1986, S. 994).
**** Edmond wurden am Mittwoch, dem 18. Mai 1871 ähnliche Geschichten bezüglich Victor Hugo während der Belagerung zugetragen, Details, die von Madame Meurice stammten: Hugo sei der Typ des von heftigem Priapismus befallenen Sechzigjährigen, ein wahrer Balzac’scher Hulot, jeden Abend gegen zehn Uhr habe er das Hôtel Rohan, wo er Juliette, unter dem Vorwand, seine Enkel zu hüten, kaserniert gehabt, verlassen und sei zurück in das Haus Meurice, wo ihn ein, zwei, drei Frauen, über die auf der Treppe die verschreckten Mieter gestolpert, erwartet hätten, und diese Frauen seien alle möglichen gewesen, von den Erlauchtesten bis zu den letzten Drecksgestalten, und durch die Fenster des Erdgeschosses, in dem sich Hugo sein Schlafzimmer ausgesucht habe, hätte das Dienstmädchen von Madame Meurice morgens oder abends, wenn sie im Garten umherging, unverhohlene Szenen obszöner Unzucht gesehen (vgl. Journal, a. a. O., Bd. 5, S. 437).
***** Edmond hatte wohl auch nicht so das Geschick dazu wie sein Bruder, siehe den Eintrag vom Neujahrstag 1872, wo er bekannte, er habe in der Nacht vergeblich versucht, in der Brutalität tierischer Wollust die erste Stunde des neuen Jahres zu verleugnen (vgl. ebd., S. 515). Und wenn er am Mittwoch, dem 17. Juli 1872 schrieb, er koitiere viel, dann gab er gleich zu, er täte es, wie andere Leute trinken würden, aus Gram und um zu vergessen (vgl. ebd., S. 580f.).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).