Freitag, 2. Oktober 2015

Mittwoch, der 2. Oktober 2013


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Der Transfer ging am ersten Tag bis zu der Stadt, aus der Alfred Dreyfus gekommen (näheres zu der Affäre ist (exemplarisch für die Lektüre unseres Hans Köberlin) mit der richtigen Haltung bei Proust und mit der falschen Haltung bei Edmond de Goncourt nachzulesen), hinter der Grenze (die eigentlich keine wirkliche Grenze mehr war …: es gab sie noch, die gut angewandte Vernunft … manchmal …), in einer Region gelegen, die in der Zeit, als es hier noch Kriege gab, abwechselnd mal hübenzu und mal drübenzu gehört hatte. Man sah nichts von der Stadt, denn man übernachtete in einem dieser befremdlichen portierlosen Automatenhotels in einem Industriegebiet direkt an der autoroute, eines jener Etablissements, wie man sie aus diversen Filmen bestimmter Regisseure, die ihre Protagonisten dort übernachten ließen, wenn sie eine melancholisch-trostlose Atmosphäre vermitteln wollten, kannte, oder, wie Jules de Goncourt geschrieben hatte, er sei im Hotel in einem dieser Zimmer, in denen man aus Versehen auf Reisen sterbe …: also ein Etablissement gerade recht für rites de passage …
»Eine Schlafschublade«, so die Frau, aber sie durfte auch maulen, mußte sie doch allein fahren, weil Hans Köberlin so ein weltuntauglicher Mensch war.*
Man wollte nach dem personallosen Einchecken per Kreditkarte noch irgendwo um die Ecke ein Glas Wein trinken, um die Ecke gab es aber bloß irgendwelche großen Hallen, mittelständische Betriebe, Supermärkte, Bastlermärkte und Gartenmärkte … es provozierte eine eigentümliche Stimmung in Hans Köberlin, durch dieses nächtlich-verlassene Industriegebiet zu flanieren, er hoffte, sich daran zu erinnern, wenn er in die Hauptstadt zurückkehren würde. Man ging vorbei an einer Gendarmerie in eine angrenzende Siedlung, doch das war ein gespenstisches Neubaugebiet mit in einem eklektizistischen Stil gebauten drei- und vierstöckigen Wohnhäusern, in denen sich die Bewohner verbarrikadiert hatten, bloß ab und an sah man jemanden, der nochmals mit dem Hund raus mußte, hier herrschte offensichtlich kein Bedarf an Gelegenheiten zu sozialer Praxis, sprich: an Gelegenheiten zum öffentlichen Konsum eines Glases oder mehrerer Gläser Rotwein …
Hans Köberlins Gedanken, wie es wäre und was für eine Geschichte er hätte, wenn er hier lebte …
»Wie in einem Film von Chabrol.«
»Oder von Haneke.«
»Oder von Seidel.«
Irgendwann sah der vor lauter Verlangen auf ein Glas Wein scharfsichtig gewordene Hans Köberlin in der Ferne zwischen zwei Häusern ein beleuchtetes Schild, das auf eine Lokalität hinzuweisen schien, man ging durch ein Tor in einen Hof, tatsächlich schimmerte es rot aus ein paar Fenstern, man sah Menschen an einer Bar sitzen, aber es war ein Privatclub, es war ein Swingerclub, vermutete man …
»Warum aber machte man auf einen Privatclub mit einem beleuchteten Schild aufmerksam?«
Also kehrte man zurück in seine Schlafschublade und vögelte noch etwas herum, solange wie die Müdigkeit dies zuließ.


* Manchmal dachte Hans Köberlin, sein Leben wäre in toto anders verlaufen, wenn er in seinen jungen Jahren wie fast alle in seinem Alter, quasi als Initiationsritus, eine Fahrerlaubnis erworben hätte (vgl. für ähnliche Gedanken des Clemens Limbularius vom Verf. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 19f. und S. 21). Unter seinen engsten Freunden waren überdurchschnittlich viele, die keine Fahrerlaubnis erworben, und bloß zweie von ihnen hatten sich angeschickt, den Erwerb später nachzuholen. Übrigens, bloß nebenbei bemerkt, auch Arno Schmidt hatte nie eine Fahrerlaubnis erworben.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel II [Exodus], 2. bis 4. Oktober 2013).