Herbert Neidhöfer, homme de lettres
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Dienstag, 31. Mai 2016
Samstag, der 31. Mai 2014
[242 / 82]
Am Samstag, dem 31. Mai 2014, notierte Hans Köberlin nach dem Erwachen einmal wieder einen recht bizarren Traum: »Ich befand mich in einer Wohnung, die gerade renoviert wurde, als mich eine Museumsvereinigung anrief, die Museen von einer bestimmten Größe an unterstützte. Mein Museum war zu klein für eine Unterstützung, denn es umfaßte bloß die 47 Quadratmeter der Wohnung, in der ich mich befand. Ich sagte der Frau von der Museumsvereinigung, mein Vater habe im Hinterhof seine Werkstatt.
* Hans Köberlin vergaß die Traumsequenz zu notieren, die auf diese Miniaturmuseumstraumsequenz folgte und die schließlich zum Erwachen führte. Es war darin um die termingerechte Rückgabe einer DVD, dem ersten Teil einer zweiteiligen sogenannten Special Edition von The Wizard of Oz (1939), gegangen. Ein Eintreiber der Videothek machte Streß, Hans Köberlin konnte die DVD beschaffen, wollte den Eintreiber aber nicht in seine Wohnung lassen. Der bedrängte bis zum Erwachen …
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIX [Phase 8], 22. Mai bis 5. Juni 2014).
Montag, 30. Mai 2016
Ein Tod
In den Wald ging er wie zu einem Weib, da fand er sich im Dunkeln zurecht. Und im Wald ist er auch umgekommen.
(Arkadi & Boris Strugatzki, Die Schnecke am Hang; in: Werkausgabe, hrsg. von Sascha Mamczak und Erik Simon, München 2. Aufl. 2011, Bd. 3, S. 19).
Freitag, der 30. Mai 2014
[241 / 85]
Vor der ›Tango Bar‹ sonnencremte sich auf dem fast leeren Strand ein Paar gegenseitig ein, und zwar auf eine Art, die man schon fast nach dem Cocktail als ›Sex on the Beach‹ bezeichnen könnte. Sie sonnencremte ihm mit ihren bloßen Brüsten, auf der sie die Sonnencreme verteilt hatte, den Rücken ein und kniete anschließend vor ihm nieder, um ihm die Beine bis zum Schritt einzusonnencremen, als wollte sie ihm dabei einen blasen. Dann sonnencremte sie sich selber mit der dort von der eben geschilderten Szene verbliebenen Sonnencreme die Brüste ein … Alle alten Säcke auf der Promenade bleiben stehen und glotzen sabbernd und ihre alten Schachteln kicherten verlegen.
* Hans Köberlin erinnerte, als er das sah, einen Spruch aus einer jener unsäglichen Fernsehkrimiserien, man durfte es niemandem erzählen, aus Mord in bester Gesellschaft mit Fritz Wepper … der Spruch paßte aber hier, wie er, Hans Köberlin, fand: »Der größte Luxus ist das Leben.« Viel später dann, fast auf den Tag genau zwei Jahre später, als das Leben ihm über weite Strecken eine Last sein sollte, am Montag, dem 23. Mai 2016, sollte Hans Köberlin genau diesen Spruch auf dem Tagesblatt seines Zitatenkalenders lesen, sich dabei aber nicht an jenes wunderbar frivole Paar erinnern.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIX [Phase 8], 22. Mai bis 5. Juni 2014).
Sonntag, 29. Mai 2016
Donnerstag, der 29. Mai 2014
[240 / 84]
Hans Köberlin notierte also folgendes in sein Arbeitsjournal: »Ich war in einem Flugzeug, das bestand allerdings bloß aus einer kleinen Kabine und die war offen zum Cockpit hin. Ich hatte das Radio angemacht und die ganze Nacht über den hiesigen Klassiksender laufenlassen und war darüber eingeschlafen. Als ich wach wurde stellte ich Überlegungen zu dem Thema ›Druckverlust‹ an und ich sah, daß der Pilotenstuhl leer war. Sicher fliegt der Copilot, sagte ich mir. Dann spürte ich einen Luftzug, frische Luft von draußen, und ich sah, daß die Frau auf dem Gang zur Toilette das Fenster geöffnet hatte. ›Das ist unsere neue Dunkelkammer‹, sagte sie zu mir. Man sah die Landschaft vorbeiziehen, das Flugzeug flog tief und man sah alles wie aus einem Zugfenster. Ich sah die Filiale einer überseeischen Fast-Food-Kette und ich hielt nach einem Ortschild Ausschau, um zu wissen, wo wir waren. Dann bot ich jemandem einen Tee an und fragte, ob grüner oder schwarzer Tee gewünscht würde.«
* Das Kinoplakat von Pedro Almodóvars Los amantes pasajeros (2013) hatte auf der Innenseite der Tür von Hans Köberlins letzter vorexilianischer Bleibe gehangen, und in einem Film mit W. C. Fields, dessen Titel Hans Köberlin vergessen, hatte es ein Flugzeug mit einer Aussichtsterrasse gegeben.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIX [Phase 8], 22. Mai bis 5. Juni 2014).
Samstag, 28. Mai 2016
Mittwoch, der 28. Mai 2014
[239 / 85]
Und Edmond hatte heute vor 135 Jahren ‒ da war der 28. Mai gleichfalls ein Mittwoch gewesen ‒ von wunderbaren Spuren eines Rezeptionsverhaltens erfahren …
Mittwoch, 28. Mai ‒ Liesse sagte mir, daß sein Exemplar der Frères Zemganno ein hübsches Autogramm auf der letzten Seite hat: es ist signiert mit einer Träne eines jungen Mädchens, dem er es geliehen hatte.
* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 6, S. 500. Vergeblich hatte Hans Köberlin neulich beim Wiederlesen in seiner Goyert-Ausgabe des Ulysses ein bestimmtes Haar gesucht …
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIX [Phase 8], 22. Mai bis 5. Juni 2014).
Freitag, 27. Mai 2016
Dienstag, der 27. Mai 2014
[238 / 86]
»seine verletzlichkeit führt andauernd zu verletzungen«, hatte Brecht am 11. Dezember 1940 in seinem Arbeitsjournal über Hamlet geschrieben.* Hans Köberlin kannte dieses Dilemma …
* Bertolt Brecht, Arbeitsjournal. 2 Supplementbände zu den gesammelten Werken, Frankfurt am Main 1974, S. 159. Er hatte auch (ebd., S. 160) Shakespeares Theater als »unschuldigen surrealismus«, in dem »naivität und und komplexität« zusammengegangen seien, bezeichnet. Da hatte er recht: sicherlich konnte sich im Alltäglichen bloß der Naive den nichtkomplexen Umgang mit Komplexität erlauben.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIX [Phase 8], 22. Mai bis 5. Juni 2014).
Donnerstag, 26. Mai 2016
Montag, der 26. Mai 2014
[237 / 87]
Als er aus der ›Tango Bar‹ zurückkam, da fand er die versprochene CD von den Archäologen. Sie enthielt nicht bloß die Bilder von ihrer gemeinsam hier verbrachten Zeit, sondern auch Bilder von dem Nachmittag, den die beiden in der Hauptstadt der autonomen Region verbracht hatte, von den Markthallen, die Hans Köberlin ja auch mit der Frau besucht, und von dem Dom, den zu besichtigen der Frau und Hans Köberlin zu teuer gewesen war. Die Archäologen hatten zwei etwas befremdliche Steinfigurenensembles photographiert: zum einen eine griesgrämig dreinschauende alte Frau, die eine Katze gepackt und ihr den Schwanz hochhielt, damit ein gut bestückter lachender Teufel mit dem Blasebalg dem Tier in das Rectum (oder ins Geschlecht?)* Luft (oder ein Klistier?) pumpen konnte …
… und zum anderen eine nackte Putte mit Flügeln statt Armen, der ein Drache oder eine Echse zwischen den Beinen kroch und an der rechten Brust saugte. Das erinnerte ihn daran, was Mr Bloom im Bordell zu der Erscheinung seines Großvaters gesagt hatte: »Serpents too are gluttons for womanʼs milk. Wind their way through miles of omniv-orous forest to sucksucculent her breast dry.«**
* Hans Köberlin hatte irgendwo einmal gelesen, daß früher die Bauern ihren Kühen ins Geschlecht geblasen hätten, um deren Milchproduktion zu stimulieren.
** James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 453. Der Großvater übrigens »(… psalms in outlandish monotone.) That the cows with their those distended udders that they have been the known …« Ob sich das auf das bezog, was wir in der vorherigen Fußnote anmerkten?
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIX [Phase 8], 22. Mai bis 5. Juni 2014).
Mittwoch, 25. Mai 2016
Sonntag, der 25. Mai 2014
[236 / 88]
Und Hans Köberlin kam auf den Gedanken, er könne ja in den wahrscheinlich kommenden schwierigen Zeiten der Fron, wenn ihm die Zeit und die Kraft für seine eigenen Digressionen fehlen würde, ein Filmbuch nach einem bereits geschriebenen Roman schreiben, so wie es Handke mit Goethes Wilhelm Meister gemacht oder Goethe mit der Historia von D. Johann Fausten. Ad hoc fiel ihm der zweite Teil der Maxim-Kammerer-Trilogie der Gebrüder Strugatzki ein, Ein Käfer im Ameisenhaufen.* Der Plot hatte Analogien zu Blade Runner beziehungsweise zu Philip K. Dicks elf Jahre vor Ein Käfer im Ameisenhaufen erschienen Erzählung Do Androids Dream of Electric Sheep? Das machte aber nichts, denn Hans Köberlin würde eh versuchen, ein Filmbuch für einen Godardfilm zu schreiben.
* Als sich Hans Köberlin dann gestern in zwei Jahren tatsächlich eine Datei für das Projekt anlegen sollte, gab er ihm den ursprünglichen Arbeitstitel der Strugatzkis, nämlich Es standen die Tiere bei der Tür (vgl. Arkadi & Boris Strugatzki, Werkausgabe, hrsg. von Sascha Mamczak und Erik Simon, München 2010, Bd. 1, S. 878), der ihm enigmatischer erschien als die Metapher, die der schließlich genommene Titel sein sollte.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIX [Phase 8], 22. Mai bis 5. Juni 2014).
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Dienstag, 24. Mai 2016
Samstag, der 24. Mai 2014
[235 / 89]
Am Samstag, dem 24. Mai 2014, träumte Hans Köberlin vor dem Aufwachen ‒ unmittelbar vor dem Aufwachen, wie es ihm vorkam ‒, er sei wie hier in einem Haus, an dessen Außenwand mit Neonleuchtbuchstaben geschrieben stand: DISKRIMINIERT NICHT und noch ein oder zwei Worte (SICHTBARE glaubte er sich noch zu erinnern). Nun hatte der Zufall oder böse Absicht der Nachbarn das Licht bei dem NICHT ausgeschaltet.* Hans Köberlin suchte nach einem Schlüssel und nach dem Schalter für die Leuchtschrift, um entweder diesen Defekt zu reparieren oder um das DISKRIMINIERT auch noch auszuschalten. Darüber, so kam es ihm wie gesagt vor, erwachte er.
* Godards Wortspiel mit der flackernden Neonleuchtbuchstabenschrift in Alphaville …
piscine cine |
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIX [Phase 8], 22. Mai bis 5. Juni 2014).
Montag, 23. Mai 2016
Freitag, der 23. Mai 2014
[234 / 90]
Und Edmond hatte heute vor 132 Jahren folgende, während eines Diners gemachte Äußerungen notiert …
Dienstag, 23. Mai ‒ »Hugo hat zu allem Ideen«, sagt jemand an unserer Tafel. ‒ »Ideen, nein! nur Bilder!« wirft Berthelot ein.*Da bei einem Literaten Bilder Metaphern waren und da ihm, Hans Köberlin, jede Idee eine Metapher war, sah er Berthelots Einwurf als überflüssig an.
* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 7, S. 109.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIX [Phase 8], 22. Mai bis 5. Juni 2014).
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Sonntag, 22. Mai 2016
Donnerstag, der 22. Mai 2014
[233 / 91]
Hans Köberlin betrachtete sich manchmal als ein Produkt des Kapitalismus.*
* »In der Konsequenz wurden viele Menschen weniger geduldig, anspruchsvoller, kritischer. Insofern folgte die verstärkte Kritik am Kapitalismus aus seinen Erfolgen.« (Jürgen Kocka, Kritik und Verheißung in der Geschichte des Kapitalismus; in: Merkur, Heft 779, April 2014, S. 296). Aber das stimmte ja so nicht: die Ungeduld und die Anspruchshaltung und die Kritik resultierten ja aus den falschen Versprechungen, aus den Euphemismen, die verschleiern sollten, daß der Kunde ein notwendiges Übel beim Börsengang war …
»How could predicting market behavior be the same as predicting a terrible disaster?« fragte in Pynchons Bleeding Edge (New York 2013, S. 320) Horst Loeffler seine Ex-Frau Maxine, um von ihr die Antwort zu bekommen: »If the two were different forms of the same thing.«
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIX [Phase 8], 22. Mai bis 5. Juni 2014).
Samstag, 21. Mai 2016
Mittwoch, der 21. Mai 2014
[232 / 92]
Er saß müde und viel zu früh in der Baracke, die das Terminal C im Grunde war,* und hörte mit dem Taschentelephon Cassiber und dachte an die Orte, an denen er für gewöhnlich die diversen Titel bei seinen morgendlichen Dauerläufen gehört hatte und daß er morgen wahrscheinlich wieder dauerlaufen und schwimmen würde. Die Frau rief nochmals an, man versicherte sich gegenseitig seiner Gefühle und der Sehnsucht.
* Man erinnere sich, daß Hans Köberlin einmal in einem anderen Leben einen Essay über Borgesʼ La espera geschrieben hatte …
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XVIII [Drittes Intermezzo – oder: Der Geburtstag der Frau], 15. bis 21. Mai 2014).
Freitag, 20. Mai 2016
Dienstag, der 20. Mai 2014
[231 / 93]
Der Osten bliebe ihm äußerlich, hatte der Busenfreund gemeint – nun: Hans Köberlin blieb die Welt hüben wie drüben äußerlich, warum sich dann nicht in der Nähe seiner Liebsten einnisten? Ein Kellerlochbewohner, doch anders als bei Dostojewski, nämlich ein Kellerlochbewohner mit der Option, zum Abendessen ans Licht zu kommen und im Sommer zum Frühstück in den Garten ans Wasser.* Überhaupt das Wasser … ohne Seen und Flüsse zumindest in der Nähe wollte Hans Köberlin nicht mehr sein.
* Das Projekt ›Kellerlochbewohner‹ sollte sich zerschlagen, siehe unten im Epilog.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XVIII [Drittes Intermezzo – oder: Der Geburtstag der Frau], 15. bis 21. Mai 2014).
Donnerstag, 19. Mai 2016
Montag, der 19. Mai 2014
[230 / 94]
Zwischendurch begann Hans Köberlin mit der Lektüre von Peter Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht. Er war darauf gekommen, das bereits in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erschienene Buch zu lesen, weil er sich plötzlich, vor einigen Wochen bereits, an den Titel erinnert hatte, denn auch er verbrachte ja quasi (fast) ein Jahr in einer Art von Niemandsbucht, und nicht bloß in einer metaphorischen Bucht (in der westlichen Peripherie der Stadt der Liebe), sondern in einer reellen Bucht, der Playa La Fossa-Levante, und er hatte sich das Buch bestellt und an die Adresse der Frau schicken lassen. Auch Handke war, wenn Hans Köberlin die Andeutungen nicht bloß in seinem eigenen Kontext las, anscheinend einmal von seiner Frau verlassen worden oder hatte eine Trennung hinter sich und hatte dies als seine erste »Verwandlung« verbucht. »Die neue Verwandlung möchte ich ohne Qual«, hatte er dann geschrieben.* Hans Köberlin hoffte, sich an den Differenzen seiner »Niemandsbuchten« abarbeiten und dadurch mehr eigene Klarheit gewinnen zu können. Aber waren ›Klarheiten‹ nicht noch dumme Relikte aus seinem alten, überholten Leben? Um Uneigentlichkeiten und Mehrdeutigkeiten ging es doch, um Als-obs …
* Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt am Main 2007, S. 13.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XVIII [Drittes Intermezzo – oder: Der Geburtstag der Frau], 15. bis 21. Mai 2014).
Mittwoch, 18. Mai 2016
Sonntag, der 18. Mai 2014
[229 / 95]
In Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän tauchte das Buch Die Welt in der wir leben auf, ein Buch, das auch Hans Köberlins Kindheit begleitet hatte. Er hatte aber nie darin gelesen, er hatte sich immer bloß die Bilder angeschaut und von denen immer bloß bestimmte, die mit den Sauriern und den Urmeeresbewohnern und die mit dem heimischen Sonnensystem und dem Kosmos und der wie ein Kürbis aufgeschnittenen Erde mit ihrem glühenden Kern. Hans Köberlin gelangte, als er sich wegen seiner Max-Frisch-Lektüre an Die Welt in der wir leben erinnerte, zu der Einsicht, daß er wohl ein ziemlich oberflächliches Kind gewesen sein mußte. War er ja manchmal auch noch heute …*
* Das einzige Bild in dem ganzen Bilderbuch mit seinen ausklappbaren Bildertafeln, das Spuren von menschlichem Eingriff in jene Welt, in der er, der Mensch, und auch er, Hans Köberlin, lebte, zeigte, war, wenn sich Hans Köberlin richtig erinnerte, ein kleines Schwarzweißbild von Le Mont-Saint-Michel in dem Abschnitt, in dem es um Gezeiten ging. Das zweite Buch in der Art, das Hans Köberlin besessen – Unsere Welt. gestern, heute, morgen. 1800-2000 –, hatte dagegen explizit das Wirken des Menschen thematisiert. Die beiden Bücher hätten sich also ganz gut ergänzt, hätte der vorpubertäre und frühreif pubertierende Hans Köberlin sie nicht bloß so oberflächlich rezipiert, das letztgenannte Buch allerdings in einer anderen Art der Oberflächlichkeit, einer Art, die in dem späteren Leben des postpubertären Hans Köberlin seine Tiefe werden sollte: der postpubertäre Hans Köberlin erinnerte nämlich noch gut jene Photographie einer Theaterinszenierung in dem Kapitel, das den Schock der modernen Kunst auf das bürgerliche Publikum behandelt hatte (so reimte er sich das jetzt zurecht); man sah darauf vor einer Hebbel- oder Wagnerkulisse eine üppige dunkelhaarige Schauspielerin mit einem üppigen Speer, also keine drahtige mit einer mediterranen Lanze … eine Brunhilde? – jedenfalls: sie war nackt gewesen und hatte schöne Brüste gehabt man hatte auf der Photographie ihr gleichschenkelig üppiges Schamhaardreieck und ihre unrasierten Achselhöhlen gesehen …: »… but what should a poor boy do …?«
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XVIII [Drittes Intermezzo – oder: Der Geburtstag der Frau], 15. bis 21. Mai 2014).
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Dienstag, 17. Mai 2016
Samstag, der 17. Mai 2014 (der Geburtstag der Frau)
[228 / 96]
… nachdem man um Mitternacht den Geburtstag der Frau angemessen zelebriert hatte.*
* Es war aber auch im Jahre 1936 der Geburtstag von Dennis Hopper gewesen, weshalb das Filmkalenderblatt vom 17. Mai 1996 ihn in Lynchs Blue Velvet (1985) und das Kalenderblatt des Jahres 2012 nicht ihn, aber Bruno Ganz, in Wenders Der amerikanische Freund (1977) präsentiert hatte.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XVIII [Drittes Intermezzo – oder: Der Geburtstag der Frau], 15. bis 21. Mai 2014).
Montag, 16. Mai 2016
Freitag, der 16. Mai 2014
[227 / 97]
An der Sicherheitskontrolle sah er, als einer von diesen alten fetten Säcken seinen Koffer aufmachte, daß der sämtliche Kleiderbügel seines Hotelzimmers geklaut hatte.
* Hans Köberlin fiel, als er das sah, eine Anekdote ein … Jean Baudrillard hatte, so glaubte er sich zu erinnern, jene Erzählung von Nasreddin überliefert (oder war es Žižek gewesen?), jene Anekdote also, in welcher man ihn täglich mit schwerbeladenen Maultieren die Grenze überqueren sah, und jedesmal seien die Säcke durchsucht worden, aber man habe nie etwas finden können, und als Nasreddin später danach gefragt wurde, was er denn nun geschmuggelt habe, da habe er geantwortet: Maultiere.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XVIII [Drittes Intermezzo – oder: Der Geburtstag der Frau], 15. bis 21. Mai 2014).
Sonntag, 15. Mai 2016
Donnerstag, der 15. Mai 2014
[226 / 98]
Sein aktuelles Manuskript (fast hätte Hans Köberlin es versäumt, es auf seiner Reise dabei zu haben) hatte jetzt soviel Seiten, wie Telos am Ende gehabt hatte, nämlich 422 Seiten. »Ich habe«, so Hans Köberlin, »noch nie mit so großer Souveränität und noch nie mit so großen Zweifeln an meinem Tun gearbeitet.«*
* »Das Bild des Definitiven ist der Tod«, las er kurz nach dieser Feststellung (siehe Helmut Heißenbüttel, Projekt Nr. 1: DʼAlemberts Ende, Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1981, S. 287).
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XVII [Phase 7 – darin: Besuch von Freunden], 28. April bis 15. Mai 2014).
Samstag, 14. Mai 2016
Mittwoch, der 14. Mai 2014
[225 / 99]
Miles Davis hatte 312 West 77th Street zwischen West End Avenue und Riverside Drive gelebt, und der Block, so erfuhr Hans Köberlin, hieß jetzt ›Miles Davis Way‹. In der Ecke war auch Hans Köberlin damals, während seines Besuches der Stadt, die niemals schlief, gewesen.
* »Warum«, fragte Hans Köberlin sich, »habe ich mich in einer der teuersten Ecken der Welt so heimisch gefühlt?«
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XVII [Phase 7 – darin: Besuch von Freunden], 28. April bis 15. Mai 2014).
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Freitag, 13. Mai 2016
Dienstag, der 13. Mai 2014
[224 / 100]
Jetzt blieben ihm also bloß noch 100 Tage des Exils – also ein ›Hektocalpe‹ in seiner Währung –, wobei Hans Köberlin, wie gesagt, da noch von 98 Tagen ausging.*
* Wegen der 100 sollte ihm in zwei Tagen Pasolini einfallen, aber da betrog ihn seine Erinnerung, denn der Film (1975) hatte den Titel Salò o le 120 giornate di Sodoma gehabt. – Zwanzig Tage mehr hier …
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XVII [Phase 7 – darin: Besuch von Freunden], 28. April bis 15. Mai 2014).
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