Samstag, 29. Juni 2024

1991-07-01 Vienne [Freitags, der 14. Februar 2014]

Das Frühstück würde es wieder im leeren Wintergarten geben müssen und nach seinen Regeln blieb Hans Köberlin dazu nur jenes Konzert, das Miles Davis kurz vor seinem Tod 28. September 1991 am 1. Juli 1991 während des Jazzfestivals der Donaumetropole* gegeben hatte. Um es vorwegzunehmen: Hans Köberlin fand dieses Konzert überraschend – überraschend vor allem nach dem gestern Gehörten – gut, es war mit das Beste, was Davis in seiner letzten Dekade gemacht hatte. Aber der Reihe nach. Es begann mit Hannibal, Prince, aus dessen Feder auch zwei der an diesem Abend gespielten Stücke stammten, war als Orientierung an die Stelle von Jimi Hendrix getreten, über einem funkigen Baß spielte Miles Davis mit und ohne Dämpfer und Saxophon und E-Piano hatten ihre Soli, so ging es auch beim nächsten Titel, Human Nature, weiter, etwas wilder vielleicht, dann kam – zum dritten Mal während dieses Rituals – schön lang das Hans Köberlin an wunderbaren Sex erinnernde Time After Time und anschließend das Prince-Stück mit dem zu der Cindy-Lauper-Erinnerung passenden Titel Penetration. Wrinkle, ein sehr schnelles Stück mit dominierender Rhythmusgruppe, war das schwächste Stück des Konzerts, dann als Kontrast das ruhige Amandla und Jailbait, das zweite Stück von Prince, und schließlich, ohne Miles Davis – man hörte Pfeifen im Publikum –, das Finale, bei dem der Schlagzeuger sein Solo hatte.

* Erst irgendwann, lange nach seiner Rückkehr, fiel Hans Köberlin auf, daß er dieses Konzert falsch in seinem Musikarchiv katalogisiert hatte, und wir hatten ihm diesen Fehler auf S. 1107 durchgehen lassen. Das Jazzfestival hatte nämlich nicht in Vienna, sondern im französischen Vienne stattgefunden. Er hatte noch nie etwas von diesem Ort gehört und schaute auf der Landkarte nach, um dabei festzustellen, daß er im – von heute aus – vergangenen Herbst, genauer: am Freitag, dem 11. Oktober 2013, bereits durch den Ort gefahren, als er die Frau ein Stück auf ihrer Heimfahrt begleitet und sie ihn zum ersten Abschied von dem kleinen sympathischen Städtchen an der Rhône zu dem Flughafen der nach einer Kalbsfleischwurst benannten Großstadt gebracht hatte (siehe oben, S. 210ff.).

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1222).

1990-08-30 Chicago [Samstag, der 8. März 2014]

Anschließend frühstückte man in der Küche mit Blick auf den um diese Jahreszeit noch kaum befahrenen Fluß, und da Hans Köberlin wußte, inwieweit die Frau zu der morgendlich anfälligen Gelegenheit dem Jazz zugänglich, hörte man nicht, wie das Ritual es vorgegeben, das zweite Set jenes Konzerts, das Miles Davis am 19. Dezember 1970 in ›The Cellar Door‹Club, 34th and M Street NW in Washington, D. C., gegeben hatte, sondern jenes Konzert vom 30. August 1990 auf dem Jazzfestival im Grant Park in der für ihre Schlachthöfe berüchtigten Stadt. Das begann zwar gleichfalls hektisch mit Perfect Way, aber nicht so radikal wie Directions es gewesen wäre, von den übrigen Titeln der Cellar-Door-Session ganz zu schweigen. Die Frau ließ sich den Discofunk gefallen, zumal es dann bei Star People ruhiger wurde. Sie erzählte von ihrer neuen Arbeit, die sie ja angetreten, als sie nach dem Transfer Hans Köberlins von der weißen Küste zurückgekehrt, und Hans Köberlin merkte, daß er heute nur nebenbei zu seinem bewußten Hören kommen würde, aber das war nicht so wichtig. Die Musik war nicht schlecht und ganz nett im Hintergrund und Hans Köberlin mußte sich dann doch bemühen, den Erzählungen der Frau zu folgen. Er dachte an Go Ahead John, die unbearbeitete Version der Jack Johnson-Sessions, nicht an das, was Teo Macero für Big Fun daraus gemacht hatte, da gefielen Hans Köberlin die Anordnung der Takes, der Einsatz der Echos bei Miles Davis’ Trompetenspiel und die willkürlich wirkenden Ausblendungen der Teile nicht.* Hier, bei Star People, war das Saxophonspiel beliebig, Miles Davis spielte gut, aber das Drumherum … Nicht er hatte nachgelassen, sondern die Zeiten, und da er stets auf der Höhe der Zeit hatte sein wollen … Hans Köberlin konzentrierte sich wieder auf die Erzählungen der Frau […] Auf Star People folgte Hannibal, was auch nicht besser war, und Hans Köberlins versöhnliche Einstellung zur letzten Phase, wie sie sich beim Hören des Montréal-Konzerts gezeigt hatte, schwand wieder. Die plötzlich auftauchende Ansage einer Radiomoderatorin ließ die Frau aufschrecken und Hans Köberlin erklärte ihr, daß dies eine Veröffentlichung aus der Zeit der Leichenfledderei war. Dann Miles Davis’ allein mit den ungekünstelten Läufen eines elektrischen Basses, das war gut. The Senate; Me And You war wieder Geblubber für den Hintergrund, Hans Köberlins Urteil über dieses Konzert wurde trotz netter Passagen zwischendurch immer ungnädiger, die Wahl gerade dieses Auftritts war keine gute Idee gewesen, morgen zum Frühstück würde er lieber – da aus der Gil-Evans, der Coltrane- und der zweiten-großen-Quintett-Phase schon alles gehört war – zu den Anfängen zurückgehen. Er kochte eine zweite Kanne Kaffee. Auch Human Nature gefiel Hans Köberlin nur da, wo Miles Davis mit einem der beiden Bassisten alleine spielte. Das dann einsetzende Saxophon mediterranisierte, was dann auch gut war. Dann kam Time after Time mit einem interessanten Intro, wieder nur Miles Davis und einer der Bassisten, dann setzte Miles Davis den Dämpfer auf und Hans Köberlin empfand diese Version des Cindy-Lauper-Stückes in diesem Augenblick als die Schönste. Und wieder erschreckte eine Radiostimme die Frau, diesmal war es ein Moderator, und Winkle war Disco-Funk. Es gab eine für die neue Welt typische Abmoderation von zwei Stimmen, offenbar war es eine Live-Übertragung gewesen, Hans Köberlin machte sich nicht die Mühe, die Stimmen aus ihrem Idiom zu translatieren.

* In der Anordnung der Sessions ergab sich in der Abfolge der Teile, die wahrscheinlich dem Ablauf der Session entsprachen, eine Steigerung im Groove. Man spielte sich quasi rein … und gerade diese klaren Trompetentöne durch Echoeffektes zu verwässern oder die Takes einfach auszublenden … man hätte sie, wenn man sie schon nicht so belassen wollte, was damals wahrscheinlich noch nicht dem Verständnis vor technisch reproduzierter Musik entsprach, wenigstens zu einem Stück zusammenschneiden sollen.
Ähnlich erging es ihm bei der Big Fun-Version von Lonely Fire, einem Stück aus den Bitches Brew-Sessions, zu viele Schnörkel hinzugefügt. Er räumte allerdings ein, daß es daran liegen konnte, daß sich ihm die Sessions-Versionen emphatisch ins Hirn gebrannt hatten.
»Aber Lonely Fire ist schon ein extrem fantastisches Stück!«

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit] Vom 7. bis zum 12. März 2014, S. 1479ff.).

1989-07-21 Montreux [Dienstag, der 25. Februar 2014]

Zum Frühstück im leeren Wintergarten sah Hans Köberlin einen lange vor seinem Exil aus dem weltweiten Netz heruntergeladenen Filmmitschnitt jenes Konzerts, das Miles Davis am 21. Juli 1989 –
»Ein heißer aber auch fataler Sommer!«
– auf dem Jazzfestival in Montreux gegeben hatte. Mit den Titeln konnte Hans Köberlin nur teilweise etwas anfangen, es war hektischer Disco-Funk, zu dem Miles Davis Melodien oder kurze Läufe beisteuerte, nur manchmal kam ein längerer Groove auf. Auf der Bühne war ein einziges Gewusel, was durch die Kameraführung noch verstärkt wurde. Es gab zwei Bassisten, von den einer den Baßpart und der andere den des Gitarristen übernahm, zwei Keyboarder, die den typischen achtziger-Jahre-Synthesizer-Sound produzierten, einen Drummer und einen Saxophonspieler, bei Human Nature trat Chaka Khan als Gastvokalistin auf. Einer der Bassisten, der mit dem Gitarrenpart, der Hans Köberlin mit seiner überdimensionierten Latzhose, seiner Frisur und seiner Brille an Whoopie Goldberg erinnerte, stellte sich immer wieder ganz dicht an Miles Davis, beobachte ihn und seine rote Trompete und spielte dann ein paar Tackte dazu, was wohl ein ›Dialog‹ sein sollte. Hans Köberlin war nicht einverstanden mit dem, was er da sah, und nur in wenigen Momenten mit dem, was er da hörte. Aber, so sagte er sich, ähnlich war es wahrscheinlich auch den Hörerinnen und Hörern zwei Generationen zuvor ergangen, als es elektrisch und rockig wurde … und wie bei den alten Tatort-Episoden fragte sich Hans Köberlin nach dem objektivierbaren Anteil seines ästhetischen Urteils, ob er nicht einfach irgendwo trotzig stehengeblieben war, während die Musik sich allgemein verändert hatte … »Bei Onkel Pö spielt ne Rentnerband seit zwanzig Jahren Dixieland …« Hing das damit zusammen, ob man das Ganze als eine teleologische Entwicklung – korrespondierend mit einer Verfallsgeschichte – betrachtete oder ob man dabei ein arbiträres einander Abwechseln der Moden mit ihren späteren Reprisen sah? Eine andere Frage war, wie sich Miles Davis ohne die fünf Jahre des Abtauchens nach Agharta und Pangaea kontinuierlich weiterentwickelt hätte – ›weiter‹ ersteinmal nur temporär, Miles Davis wollte immer etwas Neues, und nicht qualitativ verstanden – oder wenn ihn ein anderer Musiker als Marcus Miller aus der Versenkung geholt hätte … zum Beispiel Bill Laswell oder Henry Kaiser …

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1361f.).

1988-07-10 München [Samstag, der 1. Februar 2014]

Zum Frühstück wollte sich Hans Köberlin das bisher für einen besonderen Anlaß aufgesparte erste Set jenes Konzerts gönnen, das Miles Davis heute auf den Tag genau vor 39 Jahren in Osaka gegeben und das als Agharta publiziert worden war, aber der Frau war der Auftakt zum ersten Frühstück mit Hans Köberlin seit sonstwann zu radikal. Bei dem zweiten Set, bekannt als Pangaea, wäre es nicht anders, also blieb Hans Köberlin nur noch, wollte er seine selber aufgestellten Regeln nicht brechen, jenes Konzert, das Miles Davis am 10. Juli 1988 auf dem Klaviersommer der Stadt bei den Mönchen gegeben hatte, oder jenes das er nur knapp drei Monate vor seinem Tod am 1. Juli 1991 in der Donaumetropole* gegeben hatte. Hans Köberlin entschied sich für das Konzert in der Stadt bei den Mönchen, da die Donaumetropole in diesem Jahr ihn an eine andere Frau erinnerte … [das betreffende Erlebnis war aber zehn Jahre früher, also im Sommer 1981, gewesen – Mensch, Hans Köberlin: bei nur fünf Dezennien sollte man doch den Überblick behalten, außerdem war er im Verlauf der gleichen Reise mit dieser Frau auch in der Stadt bei den Mönchen gewesen; Anmerk. des Verf.]. Diese Musik war nicht schlecht, aber in Hans Köberlins Ohren viel zu glatt, erst nach einer Viertelstunde brachte das Saxophon etwas Schwung hinein. Beim dritten Stück, Tutu, gab es ein passables Gitarrensolo und Miles Davis spielte ohne Dämpfer, was kraftvoller klang, dann plätscherte die Musik hinter dem Frühstück und seinen Zärtlichkeiten vor sich hin, bis der Perkussionist Hans Köberlin bei Heavy Metal Prelude und anschließend bei Heavy Metal aufhorchen ließ. Höhepunkte waren für Hans Köberlin New Blues und Code M. D., die in ihrer Art teilweise an die Zeit der Jack Johnson-Sessions erinnerten – Portia geriet dem Saxophonisten ein wenig zu pathetisch –, Jean Pierre, das Hans Köberlin, hätte es den Titel nicht gegeben, so schnell gespielt nicht als solches erkennen würde, und natürlich wegen der positiven Besetzung durch das bei-der-Musik-von-Cindy-Lauper-Vögeln, das Schmachtstück Time After Time.

* Erst irgendwann, lange nach seiner Rückkehr, fiel Hans Köberlin auf, daß er dieses Konzert falsch in seinem Musikarchiv katalogisiert hatte, und wir hatten ihm diesen Fehler auf S. 1107 durchgehen lassen. Das Jazzfestival hatte nämlich nicht in Vienna, sondern im französischen Vienne stattgefunden. Er hatte noch nie etwas von diesem Ort gehört und schaute auf der Landkarte nach, um dabei festzustellen, daß er im – von heute aus – vergangenen Herbst, genauer: am Freitag, dem 11. Oktober 2013, bereits durch den Ort gefahren, als er die Frau ein Stück auf ihrer Heimfahrt begleitet und sie ihn zum ersten Abschied von dem kleinen sympathischen Städtchen an der Rhône zu dem Flughafen der nach einer Kalbsfleischwurst benannten Großstadt gebracht hatte (siehe oben, S. 210ff.).

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur] Vom 31. Januar bis zum 9. Februar 2014, S. 1107).

1986-07-12-20 Nice [Freitag, der 28. März 2014]

Dann bereitete er sich sein Frühstück, zu dem er den letzten verbliebenen Konzertmittschnitt Miles Davisʼ hören wollte, ab morgen würde es dann die drei Kompilationen geben, aus dramaturgischen Gründen in umgekehrter chronologischer Reihenfolge, also mit Teo Maceros Mixtur LivE EviL, bestehend aus den Liveaufnahmen der Cellar Door Sessions und Studioaufnahmen der Sessions zu Jack Johnson, als Abschluß dieses Rituals. Der Mittschnitt für heute war einer von Stücken jener Konzerte, die während eines Jazzfestivals zwischen dem 12. und dem 20. Juli 1986 im Jardin des Arênes de Cimiez in Nice stattgefunden hatten. Es gab zu Beginn tatsächlich ein paar Anklänge an Jack Johnson, doch dann wurde es nur hektisch und Hans Köberlin war kurz davor, sein Ritual zu verfluchen, fragte sich, warum er einer Musik, die nicht die seine war, etwas abgewinnen wollte, nur weil der Musiker an einem früheren Punkt seiner Vita ein Genie und maßgeblich für Hans Köberlins éducation musicale gewesen war … Es kamen einzelne Passagen, die Hans Köberlin gefielen, aber alles blieb weitgehend ein Brei in seinen Ohren, bis Time after Time kam, wie immer schön, nicht nur wegen der Erinnerung, es war leider nicht der Abschluß. Es war schon eine durchwachsene Zeit gewesen, die späten siebziger, die achtziger und die frühen neunziger Jahre …

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Sechste Phase ‒ oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung] Vom 13. März bis zum 10. April 2014, S. noch offen).