Er konnte dann tatsächlich einmal wieder auf der Dachterrasse frühstücken und ein wenig tomar el sol, wie man im hiesigen Idiom sagte, er würde aber zum Lesen und Schreiben an den Lese- und Schreibtisch gehen, obwohl es seinem Hals besser ging, denn der Hustenreiz war noch da. Zum Frühstück hörte er den Mittschnitt jenes Konzerts, das Miles Davis am 5. November 1971 in der Donaumetropole ‒ diesmal aber wirklich! ‒ gegeben hatte. Es begann – natürlich! – mit Directions, sehr percussionslastig und mit viel zu wenig Baß, es war von der Qualität her wohl wieder eine von den Aufnahmen, die früher als Bootlegs kursiert waren, obwohl diese Aufnahme hier vom ORF aufgezeichnet worden war. Oder lag es an der Qualität des kleinen blauen Lautsprechers? Hans Köberlin war fast so weit, sein Ritual zu unterbrechen und zurück zum ›Cellar Door Club‹ zu gehen, aber nach einer Weile versöhnte ihn Gary Bartz’ Saxophonsolo und Miles Davis’ anschließende etwas weniger verzerrte Übernahme des Soloparts und dann Keith Jarretts elektrisches Piano, das zu Honky Tonk überleitete. Es war eine etwas undramatische Interpretation des Stückes, aber weil er es auf der Dachterrasse hören konnte, ließ er es sich gefallen. Es bekam einen gewissen Groove als Vorspiel für das folgende What I Say. Das wurde ganz anders als üblich interpretiert, ohne die gewohnte Dynamik, und man hatte es am Mischpult immer noch nicht hinbekommen, den tragenden Baß adäquat herauszubringen. Jarrett spielte sehr gut, so gut wie in dieser Zeit mit Miles Davis sollte er nie wieder werden, aber das hatten wir ja schon des öfteren von Hans Köberlin gehört. Aber auch Miles Davis spielte sehr gut, die Minderung beim Hören dieses Konzerts kam allein von der Qualität der Aufnahme. Nach gut fünf Minuten gab es einen Tempowechsel hin zur gewohnten Interpretation, aber wahrscheinlich war auch die Unterteilung der durchgehenden Musik in ihre einzelnen, an den Motiven erkennbaren, Stücke mehr oder weniger willkürlich, und wo früher ein Thema die Stücke abgegrenzt, gab es nun diverse Themen in einem großen Stück, das dann das Set des Konzerts war. Er müßte sich unter diesem Aspekt alle Konzerte nach den Sessions in Washington DC nochmals anhören … neue Binnendifferenzierungen innerhalb der elektrischen Phase … Klar geschieden wurde dann natürlich Sanctuary, zunächst, dann klang das Motiv von Bitches Brew an, es folge eine Aus- und eine Einblende, Hans Köberlin konnte nicht sagen, ob etwas fehlte, wahrscheinlich aber schon, was dann kam … auf Hans Köberlins Version hieß es It’s About That Time und auf der Discographie im weltweiten Netz wurde ergänzt: »as Miles Run(s) The Voodoo Down / Selim« – letzteres würde es wohl explizit übermorgen zum Frühstück geben. Aber Hans Köberlin focht das alles nicht mehr an, er saß auf seiner Dachterrasse und hörte mit zunehmendem Wohlwollen und Wohlbefinden zu. Yesternow dann begann nach einem hörbaren Applaus wieder charakteristisch, lange Zeit über sehr angenehm minimalistisch, dann kam, provoziert vom Saxophon, die Füllung durch die Perkussionisten, ein weiterer hörbarer Applaus, dann eine paar Takte Inamorata, dann eine Improvisation Keith Jarretts, dann weiter mit Inamorata, das auch hier wieder Funky Tonk hieß, dann kam der Abschluß, nochmals mit Sanctuary, von dem es aber nur zwei Takte des Themas gab, nach denen das Konzert endete, wie es begonnen hatte, mit den Perkussionisten.
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Sechste Phase ‒ oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung] Vom 13. März bis zum 10. April 2014, S. noch offen).