Herbert Neidhöfer, homme de lettres
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Samstag, 30. März 2024
1983-07-07 Montréal [Mittwoch, der 5. März 2014]
Zum Frühstück hörte er jenes Konzert aus Miles Davis’ letzter Phase, daß jener am 7. Juli 1983 im Théâtre Saint-Denis in Montréal gegeben hatte. Die Stücke zu den Titeln waren Hans Köberlin bis auf Jean Pierre nicht präsent, es begann mit einem gefälligen Funk, Disco, aber wegen Miles Davis’ Spiel und John Scofields Gitarre – die bei dem gesamten Konzert herausragend war – annehmbar,* dann kam ein ruhiges Stück, Hans Köberlin schaute nach, es war Star People, das erinnerte fast an die Jack Johnson-Sessions. Auf dem dritten Stück, wieder einem Disco-Funk, war es Bill Evans’ Saxophonspiel, das an die guten Zeiten gemahnte. Das vierte Stück war wieder ruhig – generell gefielen hier Hans Köberlin die ruhigeren besser –, er schaute nach, It Gets Better. Dann ein Stück, das in der Manier des ersten begann, dann aber plötzlich langsam und interessant wurde, es hieß Hopscotch** und ging so, langsam und interessant, auch über in Stars on Cicely, was Hans Köberlin sehr gefiel, dann kam, auch vom Publikum gleich erkannt, immer wieder schön Jean Pierre, das in der gleichen Manier in ein Stück mit dem Titel Coda 3 überging, was Hans Köberlin nicht bemerkt hätte, wenn sein Blick nicht zufällig auf den Monitor des Laptops gefallen wär, und so klang es auch mit einem Stück namens Creepin’ In aus. Hans Köberlin fragte sich, ob Altersmilde sein Urteil, das nun auch Miles Davis’ Abkehr vom Radikalen goutierte, mitbestimmte …
* John Scofield in dem Begleitbuch zu That’s what happened 1982-1985 (The Bootleg Series, Vol. 7, Columbia Records 2022, S. 13): »We were playing funk, but he [Miles Davis] was playing something else on top of it that was very much jazz music. He wouldn’t play cliches ans stuff, he had extended his jazz vocabulary on the trumpet, and was playing it in the funk idiom of 1984.«
** In der Fußnote 3339 – die vierte Ziffer ist übrigens die Summe der drei vorherigen – oben auf S. 1239 hatten wir als ein Apropos zu der Unsterblichkeit qua Gutenberg (Tina) eine kurze Anmerkung zu Cortázars wunderbarer Erzählung Queremos tanto a Glenda gemacht, ohne auf die Fortsetzung oder besser das Nachspiel dieser Erzählung einzugehen. Nun, wegen des Titels Hopscotch und aus Anlaß einer Revision Hans Köberlins vom Sonntag, dem 27. Februar 2022 – auf den Tag ein Jahr lebte er da mit der Frau in der Mansarde an der Westküste – wollen wir dieses Versäumnis nachholen. Das Nachpiel zu Cortázars Erzählung Queremos tanto a Glenda war die Erzählung Botella al mar, eine Erzählung in Form eines offenen Briefes an die Schauspielerin Glenda Jackson, die als Glenda Garson camoufliert Gegenstand der Erzählung Queremos tanto a Glenda gewesen war. Glenda Jackson nun hatte – ohne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, um auch einmal diese abgedroschene Phrase zu benutzen, Cortázars Erzählung kennen zu können – 1980 unter der Regie von Ronald Neame in einem Film mit dem Titel Hopscotch, was auf spanisch ›Rayuela‹ hieß, mitgewirkt. Über dieses Zusammentreffen hinaus wurden in der Erzählung die Schauspielerin und in dem Film der Autor getötet, wobei hier eine Asymmetrie bestand, die Cortázar übergangen hatte: die Schauspielerin wurde in der Erzählung wirklich getötet, der Autor in dem Film aber nur zum Schein. Cortázar sah in all dem eine Kommunikation am Werk, die analog einer Flaschenpost funktionierte. Er rechnete damit, daß der Film in der spanischen Übersetzung unter dem Titel ›Rayuela‹ laufen würde, nun: im Land von Hans Köberlins Herkunft hatte man aus Hopscotch nicht ›Himmel und Hölle‹ gemacht – zurecht, denn das hätte wegen seines theatralischen Klangs nicht gepaßt –, und auch nicht ›Hinke Pinke‹ oder ›Hinkepott‹ – nebenbei: der Titel von Horst Janssens Memoiren –, sondern ›Agentenpoker‹. Hier nun noch aus Hans Köberlins Arbeitsjournal die kurze Anmerkung zu der Revision: »Ich sah den Film bereits vor langer Zeit einmal, jetzt natürlich in Hinblick auf Glenda Jackson und Julio Cortázar, der übrigens gemeint hatte, der Film tauge nichts. Ich würde ihm da widersprechen und weiß noch, daß ich beim ersten Sehen goutierte, daß bei der routiniert gemachten Komödie der Spaß nicht durch unnützes Bangen um den Protagonisten beeinträchtigt wurde, auch bei dem vorgetäuschten Tod nicht. Ein abservierter Agent mit Berufsethos rächte sich an seiner Behörde und den äquivalenten Behörden der Konkurrenz, indem er ein Enthüllungsbuch schrieb und publizierte. Bei der Musikauswahl, die angeblich Walter Matthau getroffen haben soll, hätte man auf die totgespielte kleine Nachtmusik verzichten können.« Wir möchten hier noch ergänzen, daß wir noch unseren Parker Westlake suchen.
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1427f.).
1981-10-11 Fukuoka [Freitag, der 10. Januar 2014]
Als Hans Köberlin seinen Dauerlauf absolvierte, bewölkte sich der Himmel und Wind kam auf, so daß er wieder einmal in dem leeren Wintergarten frühstücken mußte. Als er dazu die Liste seiner archivierten Miles-Davis-Konzerte durchging, da sah er, daß er heute noch nicht ganz so weit, also bis zum Juli 1988 in die Stadt bei den Mönchen, springen mußte, er hatte gestern ein Radiokonzert, das Davis am 11. Oktober 1981 in Fukuoka im Land der aufgehenden Sonne gegeben, übersehen. Es war zu Beginn Funk, was unabhängig von dem Spiel Davis’ – selbst wenn er seine Akzente so impulsiv wie sechs Jahre zuvor setzte – der Musik einen anderen Charakter als zuvor gegeben: sie war gefällig geworden. Man konnte hier sagen, daß nicht der Ton die Musik mache, sondern der Rhythmus. Erst bei My Man’s Gone und dem daran anschließenden Aida konnte man sich während der gelungenen Saxophonsoli und während Davis’ Soli davon etwas emanzipieren, die freigelassene Gitarre aber blieb brav artistisch. Die Ausflüge in spanische Melodien und die Zitation von Beginn the Beguine – natürlich durch das Saxophon, man denke zweiunddreißig Jahre zurück an Kind of Blue und an das betreffende Saxophonsolo in Flamenco Scetches – in Fat Time wurde aber wieder alles von dem Funk plattgemacht. Zum Abschluß kam der bereits erwähnte Ohrwurm Jean Pierre, der einen mit dem, was einem nicht so ganz gefiel, ein wenig versöhnte. – Es war natürlich auch das Kind seiner Zeit, das hier urteilte … Hans Köberlin hatte 1981 nicht diesen, damals aktuellen, Miles Davis gehört, er hatte ihn nicht bewußt nicht gehört, sondern weil er ihn nicht wahrgenommen, er hatte den Miles Davis von Bitches Brew gehört, den vor allem, und dann noch den von Sketches of Spain, von Porgy and Bess und natürlich den von Kind of Blue … Jack Johnson und On the Corner kamen später, und Agharta und Pangaea noch später, das großartige Quintett zwischen 1965 und 1968 und In a Silent Way waren nochmals eine Sache für sich …
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 928).