Mittwoch, 11. März 2015

Die elektrische Phase

In der ehemaligen Hauptstadt schließlich – es war nicht bloß eine sentimentale, sondern ein wenig auch eine historische Reise …
Wenn das mal nicht dasselbe ist … Histourismus! Hysterismus!
… in die gute, alte ideologiekritische BeErDe der Achtundsechziger (freie Liebe) und der Ära Brandt (der Kniefall) und der Ära Fassbinder (Mein Traum vom Traum des Franz Biberkopf und, und, und …) –, in der ehemaligen Hauptstadt also war Clemens, soweit er sich erinnern konnte, bloß zweimal in seinem Leben gewesen, einmal (als er bereits in der Stadt der Narren lebte) mit seinem katholischen Cousin auf einer von dessen Kirchengemeinde organisierten Demonstration (er wußte nicht mehr wogegen, es müssen aber weltliche Belange gewesen sein – Kernkraftwerke oder Raketen –, sonst wäre er nicht mitgegangen), während deren Verlauf er mit einer kleinen Katholikin angebandelt und von ihr einige erstaunliche katholische Sexualpraktiken gelernt hatte (daß es so etwas gab … kaum zu glauben!), und ein andermal (vorher) als die dortige Universität ein kleines Jazzfestival veranstaltet und man sich das Contact Trio (Evert Brettschneider g, Alois Kott b, Michael Jüllich dr, perc) angehört und angeschaut hatte (regelmäßig hatte er über ein paar Jahre mit einem guten Freund die Jazzfestivals weiter oben am Strom auf dessen anderer Seite besucht, und später dann, als er in der Kurstadt lebte, mit anderen Freunden zwei- oder dreimal ein eher avantgardistisches Jazzfestival im Kohlenpott). Das (während der Jazzfestivals weiter oben am Strom auf dessen anderer Seite) war die Zeit, in der sich Miles Davis nach seiner elektrischen Periode zurückgezogen hatte, nachdem er vielleicht das Beste geschaffen hatte, was in derartiger Musik zu schaffen war, natürlich Bitches Brew, aber vor allem die – auch von Karlheinz Stockhausen beeinflußten – später als On the Corner Sessions publizierten Stücke, vor allem seine Referenz an den Duke, He Loved Him Madly, dann noch Dark Magus, das Konzert am 30. März 1974 in der newyorker Carnegie Hall … und am 1. Februar 1975 die beiden Konzerte in Osaka: Agharta und Pangaea … (unglaublich, die letzten Klänge von Pangaea, dieses sanfte Verschwinden nach dem Heftigen vorher …,* und Clemens hoffte, daß das eine oder andere, was es da an Mitschnitten von Konzerten, die damals (1974 und 1975, da war er, Miles Davis, ungefähr so alt gewesen wie Clemens jetzt … und auf was konnte der da nicht alles zurückblicken …!) meist aus sehr langen spontan improvisierten Stücken mit nur gelegentlichen Anleihen bei den bekannten Kompositionen der Studioalben bestanden, noch in irgendwelchen Archiven geben mußte, irgendwann publiziert werden würde), also jene Zeit von Miles Davis’ Rückzug und die Zeit, in der sich in der alten Welt der typische ECM-Sound (der seit einigen Jahren auch den Soundtrack zu dem Spätwerk Godards lieferte), vor allem von hiesigen Musikern und welchen aus dem Norden des Kontinents,** oft ein wenig sphärisch und esoterisch, zu etablieren begann, so jedenfalls charakterisierte der Dilettant Clemens, der ECM-Langspielplatten erst ab den späteren siebziger Jahre rezipierte (Staircase von Keith Jarrett war 1977 seine erste gewesen, der folgte Terje Rypdals After the Rain und schließlich kam die bereits 1973 entstandene LP The Colours of Chloë von Eberhard Weber), für sich das allgemeine Produktions- und Rezeptionsverhalten in der Jazzszene, dabei einteilend in die afrikanische und die europäische (weniger riskante) Richtung, was aber – wie uns jeder Kenner bestätigen wird – eine ziemlich unterkomplexe Erklärung war und so sicher auch nicht ganz stimmte.


* In der neuen Welt, so wird kolportiert, wurde einmal ein Mann verhaftet, als er eine von ihm gestohlene Limousine wieder vor dem Haus des Besitzers abstellen wollte. Als man ihn fragte, wieso er denn dieses Risiko auf sich genommen habe und da aufgetaucht wäre, habe er berichtet, er sei mit der Limousine ziellos durch die Nacht gefahren und habe irgendwann die Musikanlage eingeschaltet. So etwas habe er noch nie gehört, das sei unglaublich gewesen, kaum noch von dieser Welt, ihm seien die Tränen gekommen und er sei so lange herumgefahren, bis er alle CDs, die in dem Wagen gelegen, durchgehört. Dann habe er sich den Menschen vorgestellt, der solche Musik höre, und sich gedacht, daß er einem Menschen, der solche Musik höre, keinen unnötigen Ärger machen wolle. – Da der Mann wegen ähnlicher Delikte aktenkundig war, bekam er fünf Jahre ohne Bewährung, es gab also kein happy end, aber der Besitzer der Limousine soll ihm für seine Zelle einen Minihifianlage und eine Zusammenstellung aller wichtigen CDs von Miles Davis geschenkt haben. Deleuze hatte einmal in einer Vorlesung über Leibniz (am 15. April 1980) gesagt, ein Musiker sei jemand, der dem akustischen Strom, der die Welt durchquere und selbst die Stille umfasse, etwas entnehme.
** Merkwürdig, diese regionale Kumulation dort oben von sphärischem Jazz, Kriminalromanen mit grausamen Tötungsarten, Tennisspielern, Preßspanmöbeln, Kreuzworträtseln, Kinderbüchern und pornographischen Heftchen … Wie hatten The Stranglers 1978 auf Black and White noch gesungen: »Too much time to think too little to do« …

(aus: Telos, Berlin 2013, S. 64f.).

Sketches of Spain

Nach dem Abendessen – aus den bereits angesprochenen Zeitersparnisgründen gab es Spaghetti mit Pesto alla Genovese fertig aus dem Glas mit viel frisch gemahlenem Pfeffer und Parmesankäse, sehr wohlschmeckend, das sollte zu einem der beliebtesten Gerichte Hans Köberlins werden – blieb Hans Köberlin noch auf der anderen Dachterrasse und betrachtete den Sonnenuntergang und den Mondaufgang und später dann den unglaublichen Sternenhimmel und hörte dazu – wie billig an diesem Ort – Miles Davis’ Sketches of Spain. Hans Köberlins Favorit war nicht das Adagio aus dem Concierto de Aranjuez (obwohl er das auch immer wieder gerne hörte), sondern seine Favoriten waren Miles Davis’ Solo in Saeta und natürlich Solea, und um diesen wunderbaren Moment der lauen mediterranen Nacht und der Musik, die als ›göttlich‹ zu bezeichnen Hans Köberlin nicht umhin kam, zu verlängern, hörte er sich diese beiden Stücke (Saeta und Solea) noch einmal an. Danach mußte er etwas umständlich die aufwendige Installation, die diesen magischen Moment möglich gemacht – er hatte die beiden Lautsprecher hochgetragen, er hatte mit einer sogenannten Kabeltrommel eine Stromquelle auf der anderen Dachterrasse schaffen müssen, weil er vergessen hatte, den Akku des Laptops aufzuladen, und er mußte, als er alles installiert hatte, wieder heruntergehen, um unten die Lampen im Patio und dem Hof vorne, die die Stimmung gestört hätten, auszuschalten, und er mußte, als er wieder oben war, nochmals heruntergehen, weil er vergessen hatte, den Stecker der Kabeltrommel einzustecken –, er mußte also dies alles wieder deinstallieren.
»¡Vieran lo que me asombra este aparato!«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VI [Phase II – oder: post Telos], 3. bis 14. November 2013).