Mittwoch, 14. Oktober 2015

Über den Umgang mit objets trouvés

Höchst liebevoll und aufmerksam muß der, der spaziert, jedes kleinste lebendige Ding, sei es ein Kind, ein Hund, eine Mücke, ein Schmetterling, ein Spatz, ein Wurm, eine Blume, ein Mann, ein Haus, ein Baum, eine Hecke, eine Schnecke, eine Maus, eine Wolke, ein Berg, ein Blatt oder auch nur ein armes weggeworfenes Fetzchen Schreibpapier, auf das vielleicht ein liebes gutes Schulkind seine ersten ungefügen Buchstaben geschrieben hat, studieren und betrachten. Die höchsten und niedrigsten, die ernstesten und lustigsten Dinge sind ihm gleicherweise lieb und schön und wert.

(Robert Walser, Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Jochen Greven, Zürich und Frankfurt am Main 1985, Bd. 5: Der Speziergang, S. 51).

Fritz Lang über Hölderlin in Jean-Luc Godards »Le mépris«


Montag, der 14. Oktober 2013


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Um sein Dachterrassenfrühstück in größerer Ruhe zelebrieren zu können, nahm Hans Köberlin den kleineren seiner beiden Laptops und sein Exemplar des Lord Jim mit nach oben. Er machte das, wie gesagt, bewußt nur deswegen, um mehr Ruhe in seine Absichten zu bringen, nicht also mit einer konkreten Absicht, zu lesen und oder oder zu schreiben, sondern bloß um dann, wenn er es wollte, lesen und oder oder schreiben zu können und dadurch, mit diesem Bewußtsein der Möglichkeit, ruhiger auf der Dachterrasse sein Frühstück einnehmen zu können, also Kontemplation durch Potentialität, seltsam, das.
Auf dem aktuellen Filmkalenderblatt war anläßlich Udo Kiers Geburtstag am 14. Oktober 1944* Hanna Schygulla (»Die Schygulla!«, wie Gerhard Polt eindringlich zu sagen pflegte) in Fassbinders Lili Marleen (1981) zu sehen.**


* Die weiteren Geburtstage waren der von Lillian Gish im Jahre 1896 – Hans Köberlin kannte sie nur als resolute ältere Dame, nämlich als Rachel Cooper in Charles Laughtons The Night of the Hunter (1955) – und der im Jahre 1927 von Lord Brett Sinclair und James Bond No 2 (1973-1985), also der von Roger Moore.
** »Man kann es sich nicht immer aussuchen wie man leben will, wenn man überleben will.« So Willie oder Lili. – Wie weit in Richtung Affirmation kann man mit dieser Haltung gehen? Fassbinder zeigte seine Willie oder Lili als eine Frau, die sich angesichts des Führers, der sie hofierte, ihre Unschuld bewahrte, den Liebesverrat beging dagegen Robert, der an ihr zweifelte und eine Andere heiratete. Um das Ungleichgewicht ›NS-Star – Geliebte eines Juden‹ etwas zu mildern, ließ Fassbinder Lili Dokumente über Konzentrationslager aus Polen in die Schweiz schmuggeln. Er hätte auf diese Abmilderungen verzichten sollen und die Unschuld in der Hölle mit dem Verrat in den sicheren Gefilden ungemildert konfrontieren und kein Historienstück machen sollen, sondern eine Tragödie. Das Ganze geriet so ein wenig zum Kostümschinken (wie auch ein wenig Lola (1981); mit seinen beiden Filmen danach, Die Sehnsucht der Veronika Voss (1982) und Querelle (1982) kam Fassbinder aus dieser Sackgasse – wobei er nie wirklich schlecht war; er konnte nicht wirklich und auch nicht bloß annähernd wirklich schlecht sein – wieder heraus), es war nicht eigentlich sein Weg, der da gegangen wurde, war unser Eindruck. Am Ende gab es einen Verweis auf den zuvor gedrehten Berlin Alexanderplatz (1980), der quasi der gelungene Endpunkt dieses Stils hätte sein müssen. Mit dem von der Gestapo inhaftierten Robert teilte man als Zuschauer während des Films die Folter, ständig das titelgebende Lied hören zu müssen. – Godard nahm übrigens die Szene, in der der Nazikulturbonze (Karl-Heinz von Hassel, der Darsteller eines späteren Tatortkommissars aus der Bankstadt, der in der Hansestadt das gleiche Café wie Hans Köberlin zu besuchen pflegte) mit Lili zu einer Audienz beim Führer die Treppe der Reichskanzlei hochstieg, in seine Histoire(s) du cinéma (1988-2000) auf. – Ein älteres Kalenderblatt aus Hans Köberlins Filmkalenderblattsammelkiste zu diesem Datum zeigte My Son, My Son, What Have Ye Done in dem wohl Udo Kier auch mitgespielt hatte, wie Hans Köberlin (zurecht) vermutete. Er kannte den Film nicht und hatte das Blatt wegen des Titels und eines eindrucksvoll blickenden jungen Mannes aufgehoben. Neugierig geworden schauten wir nach und sahen mit Erstaunen, daß es sich um einen Film von niemand anderem als Werner Herzog, dessen Schaffen wir doch verfolgen, aus dem Jahr 2009 handelte. Das Gesicht gehörte Michael Shannon, der in dem Film einen Sohn spielte, der den Kontakt mit der Realität verloren und seine Mutter niedergemetzelt hatte.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).