Mittwoch, 27. Mai 2015

Eine Topographie der Träume

Der geniale Jorge Luis Borges hatte im Vorwort zu seinem Libro de sueños die These aufgestellt (und sie als gefährlich attraktiv bezeichnet), daß Träume die älteste und komplexeste literarische Gattung seien. Clemens dachte darüber nach und fragte sich, ob diese These nur für Träume gelte, die man als Träume erlebe und in der wachen Erinnerung als Träume rezipiere, oder auch für die Träume, die man nicht für Träume sondern für himmlische oder sonstige Einflüsterungen halte. Man mußte das wohl unterscheiden, wie Borges die Träume der Nacht von den Träumen des Tages, die er als eine absichtliche Übung unseres Geistes betrachtete, unterschieden haben wollte, wobei dann Arno Schmidt bekanntermaßen die Träume des Tages von der absichtlichen Übung des Geistes unterschieden und letzteres als »längeres Gedankenspiel« beschrieben hatte. Eine andere Unterscheidung, die Borges dort anführte, war die zwischen trügerischen und der prophetischen, wobei er – und da ging Clemens, nicht zuletzt wegen des mit Lindsay Erlebten – mit Borges d’accord, wenn der die prophetischen als weniger wertvoll bezeichnete.
Borges machte ihn in seinem Vorwort auch auf einen Umstand aufmerksam, der Clemens sofort einleuchtete: die Eiländer jenseits des Kanals bezeichneten die ›Albträume‹ als ›Nachtstuten‹.
Und noch ein Fundstück aus dem Vorwort (wir müssen aufpassen, daß wir nicht das ganze Buch abschreiben) gab Clemens zu denken: Coleridge habe geschrieben, so Borges, daß im Wachen die Bilder Empfindungen inspirierten, während im Traum die Empfindungen die Bilder inspirierten. Sein Beispiel war der Tiger, der im Wachen Angst bereite, wobei aber die Angst im Traum den Tiger inspiriere. Es müsse aber nicht per se etwas Angstmachendes oder Grauenerregendes sein, es gäbe keine einzige Form im Weltall, die sich nicht vom Grauen verseuchen ließe. Auch hier sprach Borges Clemens aus dem Herzen, und Clemens ergänzte für sich, die Nachtstuten bedenkend: selbst der liebste Mensch, der ja bei Clemens stets weiblichen Geschlechts sein sollte.

(aus: Telos, Berlin 2013, S. 165f.).