Sonntag, 15. November 2015

In dieser großen Zeit

In dieser großen Zeit

die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht –; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Mißdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfucht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen der Phantasiearmut, wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, muß das, was nicht gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird, unaussprechlich. Erwarten Sie von mir kein eigenes Wort. Weder vermöchte ich ein neues zu sagen; denn im Zimmer, wo einer schreibt, ist der Lärm so groß, und ob er von Tieren kommt, von Kindern oder nur von Mörsern, man soll es jetzt nicht entscheiden. Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal verächtlich. Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!

(Karl Kraus, Die Fackel, 5. Dezember 1914, Nr. 404, 16. Jg., S. 1f.).

Freitag, der 15. November 2013


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Dann duschte Hans Köberlin ausgiebig und rasierte sich wie Buck Mulligan* und nahm etwas mehr eau de toilette als üblich, zog sich dem sehr warmen Nachmittag und dem zu erwartenden kühleren Abend entsprechend an und machte sich, den kleineren Laptop, Bücher und eine Flasche Wasser im Rucksack, nicht wie zuvor eingeübt durch das Hinterland, sondern, weil er noch viel Zeit hatte,** über die Strandpromenaden der Playa La Fossa-Levante und der Playa Arenal-Bol und dann die Haupteinkaufsstraße hoch und dann rechts flanierend auf den Weg zu dem Omnibusbahnhof. Und als Hans Köberlin beruhigt nach dem erfolgreichen Erwerb eines Tickets und der Bestätigung, daß das weltweite Netz und das Anzeigenblättchen die richtige Zeit der Abfahrt des Omnibusses genannt, dort wartend saß, begann er damit, quasi als Nachlese zu den Forschungen eines Hundes, Elias Canettis Essay Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice zu lesen, und wie immer, wenn Hans Köberlin Canetti las, stieß er gleich auf eine Passage, die er exzerpieren mußte. Er packte also sein Laptop aus und exzerpierte …
Für das Entsetzen des Lebens, dessen sich die meisten zum Glück nur manchmal, einige wenige aber, von inneren Mächten als Zeugen eingesetzt, immer bewußt sind, gibt es nur einen Trost: seine Einbeziehung in das Entsetzen vorangegangener Zeugen.
»… von inneren Mächten als Zeugen eingesetzt …«: Hans Köberlin fragte sich natürlich, was das für Mächte sein sollten … vielleicht die, die das Leben sein Leben spüren ließen (das ging wohl in Richtung einer ontischen Verzweiflung) … Bei Hans Köberlin galt das – die »Einbeziehung vorangegangener Zeugen« – allerdings für das Leben generell und nicht bloß für dessen Entsetzen, für das Leben und für seine eigenen Introspektionen: es beruhigte ihn (nicht immer brauchte man gleich Trost,*** manchmal auch bloß, wie Canetti wußte, Beruhigung, und Bändigung**** und manchmal auch bloß, wie Hans Köberlin wußte, ein Fläschchen Rotwein), Zeugen vergangenen Lebens und Akteure vergangener Introspektionen miteinzubeziehen. Und nicht zuletzt darum führen auch wir hier alle die uns und Hans Köberlin entsprechenden Zeugen vergangener Leben und alle dementsprechenden Akteure vergangener Introspektionen, denen wir habhaft werden, in unseren Einschüben und in unseren Fußnoten an. Seinesgleichen kommen zusammen, The Usual Suspects (Bryan Singer, 1995) …


* »He shaved evenly and with care, in silence, seriously.« (James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 5).
** Vielleicht war das eine Methode …: so zu früh sein, daß man langsam sein konnte … Borges hatte in einem Essay über die Karren seines Viertels geschrieben, der langsame Karren werde dauernd überholt, aber gerade dieses Zurückbleiben werde ihm zu Sieg, als wäre die Eile der anderen das furchtsame Hasten von Sklaven, die eigene Weile dagegen vollkommener Besitz der Zeit, beinahe der Ewigkeit, und dieser Besitz der Zeit sei das unendliche Kapital des criollo, die Weile könne man zur Unbeweglichkeit erhöhen, zum Besitz des Raums (vgl. Jorge Luis Borges, Evaristo Carriego; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 2: Kabbala und Tango, Frankfurt am Main 1993, S. 86). Freilich würde Hans Köberlin gleich auf dem Aeropuerto vor dem Ausgang der Gelandeten in Erwartung der Frau stehend den Besitz der Weile nicht zu schätzen wissen.
*** Am 18. Februar 1920 schrieb Kafka in sein Tagebuch: »Er will keinen Trost, aber nicht deshalb weil er ihn nicht will – wer wollte ihn nicht – sondern weil Trost suchen heißt: dieser Arbeit sein Leben widmen, am Rande seiner Existenz, fast außerhalb ihrer immer zu leben, kaum mehr zu wissen, für wen man Trost sucht und daher nicht einmal imstande zu sein, wirksamen Trost zu finden (wirksamen, nicht etwa wahren, den es nicht gibt).« So, dachte sich Hans Köberlin, so war es vielleicht auch Lysa ergangen, die der Suche nach Heilung ihr Leben gewidmet hatte und darüber chronisch krank geworden war.
Und auch in dem unseres Wissens letzten erhaltenen Tagebucheintrag Kafkas, dem vom 12. Juni 1923, ging es um Trost, aber diesmal um seine Möglichkeit: »Immer ängstlicher im Niederschreiben. Es ist begreiflich. Jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister – dieser Schwung der Hand ist ihre charakteristische Bewegung – wird zum Spieß, gekehrt gegen den Sprecher. Eine Bemerkung wie diese ganz besonders. Und so ins Unendliche. Der Trost wäre nur: es geschieht ob Du willst oder nicht. Und was Du willst, hilft nur unmerklich wenig. Mehr als Trost ist: Auch Du hast Waffen.«
**** »Es ist kaum zu glauben, wie der geschriebene Satz den Menschen beruhigt und bändigt.« (Elias Canetti, Dialog mit einem grausamen Partner; in: Das Gewissen der Worte. Essays, Frankfurt am Main 1981, S. 54, vgl. auch vom Verf. Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius. Fragment, Berlin 2013, S. 152 und dort die Fußnote 466).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VII [Der erste Besuch der Frau], 15. bis 18. November 2013).