Dienstag, 31. August 2021

1949-05-08-15 Paris [Montag, der 17. März 2014]

Er richtete sich also wieder im leeren Wintergarten ein. Die nachträglich entdeckten Konzertmitschnitte wollte er chronologisch durchgehen, also heute die, die zwischen dem 8. und dem 15. Mai 1949 in der Stadt der Liebe gemacht worden waren. Miles Davis hatte da mit dem Tadd Dameron Quintet gespielt. Diese in ihrer Zeit verhaftete Musik erschien Hans Köberlin heute zugänglicher als sonst, es schienen Rundfunkmitschnitte darunter zu sein, denn ab und an moderierte einer über die Musik hinweg. Tadd Dameron spielte balladenhaft, die schnellen Läufe kamen von Miles Davis. Dann, als Donʼt Blame Me wurde das Stück angekündigt, spielte auch Miles ruhig, nach dem Eröffnungsstück Rifftide hatte es auch nach zwanzig Minuten kein Wettrennen mehr gegeben. Hans Köberlin lauschte träge und schaute auf die Nebelschwanden im Umkreis von dreißig Metern und auf die weiße Wand dahinter. Hans Köberlin konnte sich zeitgenössische Hörerinnen und Hörer, die bei der Musik dieser Zeit stehengeblieben waren, nicht vorstellen … Er wollte es nicht mit einem Techno-Hörer, für den seine Vorliebe für den Jazz der siebziger Jahre unvorstellbar war, vergleichen … vielleicht besser mit jemandem, der den Miles Davis der Zeit nach seinem Comeback favorisierte und mit Erstaunen auf die Exzesse der siebziger blickte … Darüber überhörte er das Schlagzeugsolo auf Allenʼs Allay. Die nächsten beiden Stücke erkannte er, das sehr ruhige Embraceable You und den Charlie-Parker-Klassiker Ornithology, letzteres natürlich sehr flott vorgetragen und mit einem weiteren Schlagzeugsolo versehen. Dann fiel Hans Köberlin ein, daß nur fünf Jahre zuvor noch ganz andere Töne aus der Stadt der Liebe zu hören gewesen waren … Lover Man, das er von Billie Hollyday kannte, war sehr ruhig und auch das abschließende The Squirrel sprengte nicht den moderaten Rahmen.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Sechste Phase ‒ oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung] Vom 13. März bis zum 10. April 2014, S. noch offen).

1948-09-18 New York [Samstag, der 11. Januar 2014]

Das Wetter ließ wieder ein Frühstück auf der anderen Dachterrasse zu und Hans Köberlin beschloß, heute vom 11. Oktober 1981 nicht sieben Jahre weiter in die Stadt bei den Mönchen zu springen, sondern einunddreißig Jahre zurück zu jenem Konzert aus dem Birth of the Cool-Kontext, das Miles Davis mit seinem Nonett am 18. September 1948 in der Stadt, die niemals schlief, im ›Royal Roost‹ gegeben. Das war nach dem Miles Davis der achtziger Jahre nicht ein so arger Unterschied, wie es nach dem Miles Davis der siebziger Jahre gewesen wäre. Das Set begann wieder mit dem schnellen Move, gefolgt von dem langsamen Moon Dreams, dann kam wieder flott Hallucinations oder Budo und schließlich Darn That Dream, ein Song aus der Broadway-Version von Shakespeares A Midsummer Night’s Dream, bei dem Kenny ›Pancho‹ Hagood den Gesangspart übernommen hatte …

Darn that dream, I dream each night
You say you love me and you hold me tight
But when I awake, you’re out of sight
Oh, darn that dream

Ja, solches kannte unser Hans Köberlin hier in seinem Exil auch, und seit fünf Tagen kannte er es wieder …

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 937).