Donnerstag, 31. März 2016

Nochmals Jena

»Ach, schau dir das an, einen Prospekt, den ich im deutschen Pavillon [der Exposition Internationale des Arts et Techniques dans la Vie Moderne, Paris 1937] mitgenommen habe.«
Bourrelier liest ihn laut:
»Komitee für die deutsch-französische Verständigung. Abteilung Tourismus. Die napoleonischen Schlachtfelder in Deutschland zu ermäßigten Preisen in luxuriösen Autobussen. Ausschließlich die französischen Siege: Ulm. Eckmühl. Lützen. Auerstädt. Jena.«
»Das werde ich mir eines Tages leisten«, sagte Valentin. »Das Dumme ist nur, daß mich einzig und allein Jena interessiert.«

(Raymond Queneau, Sonntag des Lebens, Frankfurt am Main 1986, S. 150; siehe auch Jena).

Fenster #2

Montag, der 31. März 2014


[181 / 143]
Und die Brüder heute vor 153 Jahren …
… all dies, was sich hastend vor uns abspielt, vergällt es einem, das Leben ernst zu nehmen. Alles erscheint einem wie ein Spiel auf der Bühne. Menschen und Dinge scheinen an einem vorbei zu defilieren und weder zu handeln noch zu sein. Man ist geneigt, das, was einem widerfährt, das Leben für eine Art Kasperletheater zu halten, bei dem es albern wäre, sich allzusehr dafür zu interessieren, mit Hampelmännern, die kommen und gehen, ohne Persönlichkeit, und Geschehnissen, die nur geschehen, damit die Bühne nicht leer ist. Der Geist, das Herz ermüden davon, berührt zu sein, und nehmen nur noch so viel auf, wie das von zu schnell vorüberziehen der Gegenstände müde gewordene Auge.
Wenn Hans Köberlin die Welt derart, in einem solchen Modus, erlebte, dann ging es ihm gut, denn dann entsprach die Welt dem Marginalen seines eigenen Daseins. Aber wehe, wehe, er nahm das alles, die Politik, die Ökonomie …: diesen ganzen Betrieb ernst …*


* Der Eintrag, den Edmond heute vor 140 Jahren in seinem Journal getätigt hatte, war gleichfalls interessant, in Bezug nämlich auf Hans Köberlins exilbedingte Stimmung des ausgeklappten Rasiermessers …
Dienstag, 31. März – In diesen ersten Frühlingstagen, diesem Weckruf der Sonne, wo die grünen Triebe aus dem Holz der Sträucher sprießen, ist mir unbegreiflich, was für venerische Knospen durch die alten Häute zu dringen versuchen, was für Spermatierchen die alten Felle zwicken. Eine brutale Satyriasis randvoll von schmutzigen Phantasien bricht in einem aus, und das eigene Hirn ist nur noch eine finstere Kammer mit obszönen Halluzinationen. Dann sieht es wirklich so aus, als treibe die primitive Tierhaftigkeit eines Satyrs sein unzüchtiges Wesen im Mann. In der Jugend ist das nicht so: in dieser Zeit ist die körperliche Liebe fast elegisch.
Über all das, worüber sich Edmond sich anscheinend geärgert hatte, über die »brutale Satyriasis randvoll von schmutzigen Phantasien«, über die »obszönen Halluzinationen« und über »die primitive Tierhaftigkeit eines Satyrs«, darüber war Hans Köberlin, erlebte er all das bei sich, erfreut, zeigten diese Erscheinungen ihm doch an, daß er noch lebte.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Mittwoch, 30. März 2016

Fenster #1

Sonntag, der 30. März 2014


[180 / 144]
Ein alter Freund hatte Hans Köberlin eine Marginalie zu ein paar Versen von Borges* geschickt: »In Santa Fe wird alljährlich im Herbst eine Figur namens Zozobra verbrannt. Da erschließt sich eine neue Bedeutung des Scheiterhaufens!« – Hans »Que Sera, Sera« Köberlin antwortete: »… ›zozobra‹ … ein weites Wortfeld...: es mag wohl Sinn machen, die Sorge zu verbrennen, das Scheitern beziehungsweise Kentern verbrennen zu wollen, das erscheint mir allerdings als Hybris.«


* Aus Rosas; in: Fervor de Buenos Aires; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Frankfurt am Main 1991ff., Bd. 1, S. 36 …
creo que fue como tú y yo
un hecho entre los hechos
que vivió en la zozobra cotidiana
Wie sich die Leserin oder der Leser sicher erinnern wird, haben wir diese Verse exponiert als drittes Motto vor unsere Langzeitdokumentation gestellt.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Dienstag, 29. März 2016

Samstag, der 29. März 2014


[179 / 145]
Und er las also: »Was uns als natürlich vorkommt, ist vermutlich nur das gewöhnliche einer langen Gewohnheit, die das Ungewohnte, dem sie entsprungen, vergessen hat. Jenes Ungewohnte hat jedoch einst als ein Befremdendes den Menschen angefallen und hat das Denken zum Erstaunen gebracht.«* Nun, wir haben ja bereits oft genug erwähnt, daß Hans Köberlin schon lange nichts mehr an seinem Zustand »als natürlich« vorkam und daß das Ungewohnte hier ihm zur Gewohnheit geworden war, trotz Dauerlauf und Promenade und ›Tango Bar‹ und ›striptease table‹, auch trotz Zahnpflege und Körperpflege und Mahlzeiten und Stuhlgang. Ihn hatte dieser Ort, so, Heideggers Begriffe weiter umkehrend und vertauschend, sagte er sich jetzt – und wir können das nur bestätigen! – wie ein Vertrautes angefallen. Und um sein Denken machte er sich keine Gedanken, denn Gedanken konnte man nicht lesen.


* Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 1960, S. 16. Die Wanderschuhe (bei der Frau gab es gemalte auf einer alten Truhe), erinnerte Hans Köberlin …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Montag, 28. März 2016

Freitag, der 28. März 2014


[178 / 146]
Und die Brüder heute vor 148 Jahren …
28. März – Das Dessertgespräch bei der Prinzessin ist immer ein Gespräch über die Liebe. Gautier, der über die hortensienfarbenen Brustwarzen junger Mädchen sehr in Fahrt ist …*

* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 4, S. 341.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Sonntag, 27. März 2016

Donnerstag, der 27. März 2014


[177 / 147]
Später erinnerte Hans Köberlin: »Ergänzungen zum Naturschönen aus der Diskussion in der Bibliothek und über das Telegramm, das Stephen Dedalus von seinem Vater bekommen hat.«


* Bei Borges las er dann, daß der, beziehungsweise sein Erzähler, jetzt ‒ wann dieses ›jetzt‹ war können wir momentan nicht sagen –, jetzt also mochte er sich an die Zukunft erinnern, nicht an die Vergangenheit. Dort auch, das heißt: im gleichen Text, den wir jetzt nicht zur Hand haben, schrieb er, Borges, daß die Literatur die einzige Kunst sei, die an sich selbst verzweifeln könne. Wir haben das ‒ das mit der Verzweiflung der Literatur an sich selber ‒ eventuell bereit zuvor erörtert, wir erinnern uns jetzt gerade nicht.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Samstag, 26. März 2016

Underwater

Mittwoch, der 26. März 2014


[176 / 148]
In der Nacht zum Mittwoch, dem 26. März 2014, beschäftigte sich der träumende Hans Köberlin in seinem Traum mit drei skandinavischen Wörtern, deren Bedeutung nicht klar, die zu kennen aber äußerst wichtig war. Dann war er auf einem gigantischen Eisbrecher, der nachts durch die Straßen seines Geburtsortes ‒ das Bild ›Lennigstraße Ecke Kronenbergstraße‹ träumte er sehr realistisch* ‒, die anscheinend zu zugefrorenen Kanälen geworden waren, fuhr. Hans Köberlin stand bei dem Steuermann und dem Kapitän und einigen Mitpassagieren ganz vorne am Bug. Dann beschloß er, an das Heck zu gehen, um sich die Fahrrinne, die der Eisbrecher aufgebrochen, anzuschauen. Mühsam hangelte er sich an der Rehling entlang, denn es lag überall Schnee und es war glatt. Hinten saß ein Mann mit zwei Kindern, der Mann saß trotz der Kälte bloß in seinem weißen Feinrippunterhemd da. Hans Köberlin ging bis ganz an das Ende des Schiffes, bis an den Fahnenmast (also quasi »bis ans Ende der Fahnenstange«, wie man so sagte), wo er sich auf eine Ausbeulung dieses Mastes, ihn dabei umklammernd, stellte. Das erwies sich als keine gute Idee, das Schiff schwankte arg und Hans Köberlin sah in die Tiefe hinab, wo die riesigen Schrauben des Schiffes das Wasser schäumten und wo die dicken aufgerissenen und scharfkantigen Eisschollen trieben. Hans Köberlin wollte zurück, schaffte es aber nicht, weil er Bedenken hatte, sich zu rühren. Ein Matrose kam und Hans Köberlin bat ihn um Hilfe. Der aber war mit der Situation überfordert, meinte, er könne da auch nichts machen und gab bloße dumme Ratschläge. Hans Köberlin verlor darüber plötzlich den Halt, seine Hände rutschten an dem vereisten Holz des Mastes ab und er wurde wach, bevor er fiel. Seltsam, sagte er sich, und er fragte sich, wie er dazu gekommen, im mediterranen Frühling von Kälte, Schnee und Eis zu träumen.


* Hans Köberlin, dem beim Notieren dieses Traums der Auftakt von Heimito von Doderers Ein Mord den jeder begeht (München 5. Aufl. 1986, S. 5) einfiel ‒ Clemens Limbularius hatte in seinem Kommentar zu Hans Köberlins Idiosynchrasie-Essay auf diese Passage hingewiesen (vgl. vom Verf. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 385) ‒, erinnerte sich bloß ungern an manche Aspekte seiner Kindheit.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Freitag, 25. März 2016

Dienstag, der 25. März 2014


[175 / 149]
Hans Köberlin fiel dazu (natürlich nicht zu diesem Filmkalenderblatt und der wunderbaren Simone Signoret!) eine Passage ein, die er sich vor Jahren aus Brechts Arbeitsjournal exzerpiert hatte …
wissenschaftlich ergibt es noch die beste lösung, wenn man die haltung des formenden, erzählenden, singenden, musizierenden, agierenden beobachtet. die stellung, in der der erzählende zb sich zu seinen hörern befindet (und sich zu befinden glaubt), die situation, in der die erzählung stattfindet, die kulturelle stufe, auf der sich alle am erzählungsakt beteiligten befinden usw. überhaupt ist der begriff des kunstakts sehr ergiebig. wähle ich eine bestimmte erzählerhaltung (vielleicht besser gesagt: sehe ich mich veranlaßt, eine b[estimmte] e[rzählerhaltung] einzunehmen), so sind mir nur ganz bestimmte wirkungen zugänglich, mein stoff ordnet sich selber in der perspektive, mein wortmaterial und bildermaterial liegt in einer ganz bestimmten linie, holt sich aus einem ganz bestimmten fundus, von der phantasie meines hörers steht mir soundsoviel (und nicht mehr) zur verfügung, von seinen erfahrungen kann ich soundsoweit gebrauch machen, seine emotionen werden auf derundder linie ausgelöst usw. die haltung ist natürlich nichts einheitliches, gleichbleibendes, widerspruchsloses.*
Was die Rezeption im Modus der Interaktion betraf, was also die Haltung betraf, und was die produktionsästhetischen Überlegungen, den Kunstakt also, betraf, dem würde Hans Köberlin eher weniger Bedeutung zuschreiben, bei dem Primat der Perspektive allerdings ging Hans Köberlin mit Brecht dʼaccord, wobei seiner Meinung die primäre Formentscheidung auf das ihr folgende weniger determinierend wirkte. Es ging ihm dabei nicht um Willkür, eher um Unbestimmtheit, Hans Köberlin wollte keine ganz bestimmte Linie.


* Bertolt Brecht, Arbeitsjournal, 2 Supplementbände zu den gesammelten Werken, Frankfurt am Main 1974, S. 54f. – Borges hatte am Martin Fierro kritisiert, daß die Genese des Charakters des Protagonisten nicht thematisiert worden war, und im Journal konnte man unter dem Datum des 30. Oktobers 1856 lesen, der Realismus keime auf und breche hervor, während die Daguerreotypie und die Photographie zeigten, wie stark die Kunst vom Wahren abweiche.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Donnerstag, 24. März 2016

Sonntag, der 1. April 1973

Wo die Kunst an ihre Grenzen stößt

Darauf beginnt er seine amüsant genannte Zeitschrift zu studieren. Auf dem Umschlag sieht er eine teilweise entkleidete junge Frau, die den Bart eines Marmorfauns streichelt. Valentin studiert aufmerksam dieses bonbonfarbene Bild und so, wie der Zeichner und Chefredakteur dieses Magazins es wünschten, denkt er, daß die junge, nackte Frau bestimmte Reize hat. Er bewundert vor allem das Plastische des Bildes und fährt mit neugierigem Finger darüber. Aber der Buntdruck ist platt: der Arsch ist ein Effekt der Kunst.

(Raymond Queneau, Sonntag des Lebens, Frankfurt am Main 1986, S. 56).

Montag, der 24. März 2014


[174 / 150]
… Hans Köberlin, der, wie der junge Stephen Dedalus, von allem, was er las, nichts behielt als das, was ihm als Echo oder Prophezeiung seiner eigenen Verfassung erschien* … –: nein, das stimmte nicht, es war bei Hans Köberlin nicht die eigene Verfassung, es war, was er behielt, die Anschlußfähigkeit an bereits Geschriebenes, was aber dann vielleicht doch die eigene Verfassung war …


* Vgl. James Joyce, Ein Portrait des Künstlers als junger Mann, Frankfurt am Main 1972, S. 174.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Mittwoch, 23. März 2016

Sonntag, der 23. März 2014


[173 / 151]
Hans Köberlin passierte ein Verleser bei zwei Versen aus einem Gedicht von Heine, auf die er zufällig gestoßen, ohne zu wissen, daß es sich um das erste Gedicht aus dem Zyklus Die Heimkehr – »An die ich doch nicht denken will!« – handelte …; er las nämlich …
Klingt das Lied auch nicht ergötzlich,
Hat’s* mich doch von Arbeit befreit.
Bei Heine aber stand: »Hat’s mich doch von Angst befreit.«. Hans Köberlin bemerkte seinen Verleser unmittelbar nach dem, also fast noch bei dem Lesen, weil die zweisilbige Arbeit geruckelt hatte.


* »Hatʼs« = ›hatte seine Produktion‹, so des arbeitsscheuen Hans Köberlins Verlesart.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Dienstag, 22. März 2016

Jena

»Na, Sie scheinen den Feldzug in Madagaskar mitgemacht zu haben?«
»Ja. Gegen die Hain-Tenys Merinas
»War ne harte Sache, wie?«
»Es ging so.«
»Madagaskar muß schön sein.«
»Nicht übel. Ziemlich gebirgig.«
»Und die Eingeborenen?«
»Die, die gibts haufenweise.«
»Ach, Reisen bildet, und es ist was Schönes.«
»Ja, das möchte ich gern: reisen.«
»Sie brauchen sich doch nicht zu beklagen!« rief Bredouillat mit serviler Herzlichkeit aus.
»Ich beklage mich ja auch nicht«, protestierte Valentin.
»Und was möchten Sie sehen, Soldat?«
»Jena«, antwortete Valentin ohne zu zögern.
»Was?«

(Raymond Queneau, Sonntag des Lebens, Frankfurt am Main 1986, S. 50).

*

Diesem Roman verdankt … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, zum einen über den Umweg Hegel den Titel der Serie Die Nacht der Seele (was ja kein originäres Hegel-Wort ist) und zum anderen die Namen der Protagonisten der Serie, Valentin und Julia. Überhaupt verdanke ich, wie sicher bereits desöfteren erwähnt, Raymond Queneau sehr viel.

Das ertrunkene Fahrrad

Samstag, der 22. März 2014


[172 / 152]
In dem Journal der Gebrüder Goncourt las Hans Köberlin unter dem Datum des 14. Oktober 1856, die Zeit heile von allem, auch vom Leben.


* Vgl. Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 1, S. 364. Aber, so sagte sich Hans Köberlin später, nach dem zweiten Wein in der ›Tango Bar‹, das Leben war etwas, von dem man nicht geheilt werden konnte. Denn war man von ihm geheilt, dann gab es einen nicht mehr und auch das ›man‹ gab es nicht mehr. Also …: War Leben Zeit?

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Montag, 21. März 2016

Freitag, der 21. März 2014


[171 / 153]
… all die, die das Aufstreben propagierten, da konterte Hans Köberlin mit Henri Michaux, der gefragt hatte, ob einem denn wirklich daran gelegen sei, die Leiter hinaufzusteigen, und der weiter gefragt hatte, und was denn wäre, wenn man als Gehenkter enden würde …


* Pythagoras soll nach Diogenes Laertios einmal gesagt haben: »Die einen kommen zu ihr (der Festversammlung, die das Leben – metaphorisch gemeint – sei) als Wettkämpfer, die anderen des Geschäftes wegen, die besten aber als Zuschauer.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Sonntag, 20. März 2016

Donnerstag, der 20. März 2014


[170 / 154]
Im Kontext von Einsteins Theorie und der Tatsache, daß man beim freien Fall die Schwerkraft nicht spüre, hatte Hans Blumenberg geschrieben, »daß es für Fallen wie Schwimmen überhaupt keiner erklärenden ›Theorie‹ bedarf. Nur wer nicht fallen will, bedarf der Handlungen, die ihn davor bewahren«; Leben sei »erlebte Schwere, in einem vertrackten Sinn ›Unnatur‹«. Man müßte also, so dachte Hans Köberlin, als ihm dies, er wußte nicht wieso, in der ›Tango Bar‹ einfiel, permanent fallen, ohne Grund leben, der einem entgegen wirkte und einen schwer machte – oder eben: schwimmen.*


* Irgendwo zitierte Godard einen gewissen Dubillard: »Einmal habe ich das Nichts gesehen, und es ist viel kleiner, als man glaubt.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Samstag, 19. März 2016

Mittwoch, der 19. März 2014


[169 / 155]
Am Mittwoch, dem 19. März 2014, notierte Hans Köberlin folgende Traumerinnerung in sein Arbeitsjournal: »Es war ein heißer Sommertag oder ein Tag dort beziehungsweise hier, wo es fast immer so heiß war wie in der Hauptstadt bloß im Sommer, und die Frau schwamm mit großer Freude in einem Pool, in dem auch ein aufblasbarer Delphin und ein aufblasbares Krokodil herumschwammen. Ich stand am Rand des Pools und sah zu, dann stand ich bei einer Gruppe der Leute, die um den Pool herum wohnten, und sah, wie einer von ihnen zur Belustigung der Anderen obszönen Unfug mit Obst trieb, was man ja nicht tun soll: mit dem Essen spielen. Dann war ich in meinem Zimmer, es war nicht das Lese- und Schreibzimmer hier, es war ein weiter und sehr heller Raum, aber auch ähnlich dem Wohnzimmer meiner Eltern, das doch eher eng und dunkel war, ich saß also am Schreibtisch und sah auf dem Monitor ein Sequel von David Finchers Thriller Se7en (1995). Der Film hieß Se7en II oder Se7en – The Return … (gibt es den denn überhaupt? – ich glaube nicht),* wieder mit Morgan Freeman, Brat Pitt und Kevin Spacey. Währenddessen zog ein heftiges Unwetter auf, durch das Fenster sah man, wie der Himmel sich verfinsterte.


* Unseres Wissens gibt es zwar viele Nachahmungstäter, aber kein Sequel. In ein paar Wochen, am Dienstag, dem 15. April 2014, sollte Hans Köberlin Se7en mit der Frau, die in den Osterferien zu Besuch hier war, schauen und folgende kurze Notiz in sein Arbeitsjournal notieren: »Ich hatte das Ende des Films anders in Erinnerung: es sollte offen bleiben, ob Mills schoß oder nicht, was einen verstörter hinterlassen hätte. Ein seltsames Gefühl hinterließ bei mir die Szene, als Mills Frau mit Somerset über ihre Beziehung und über Lebensentscheidungen sprach. Die eigene Ehefrau als der blinde Fleck des Mannes …«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Freitag, 18. März 2016

Dienstag, der 18. März 2014


[168 / 156]
Einer Eingebung folgend – »Es ist einmal wieder nötig!« – schaute sich Hans Köberlin Godards Band à part (1964) an. Man habe als Slogan den Satz von Griffith, Kino sei »a gun and a girl«, aufgegriffen, und er, Godard, habe daran geglaubt.* Hans Köberlin hatte den Film lange nicht gesehen, zehn Jahre oder länger nicht, und war wieder begeistert. Der Liebreiz Odiles, die natürlich Quenaus Roman Odile las, die Melancholie von Arthur und Franz, die Melancholie der Banlieue, die Topographie der Banlieue, das Verwobene von Industrie und Wohnen, die Stadt der Liebe in Schwarzweiß, der Tanz im Café, bei dem die von Godard aus dem Off kundgetanen Gedanken der drei zwar im Kreis blieben, sich aber nicht trafen, der Louvre in 9 Minuten und 43 Sekunden …**


* Jean-Luc Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, Frankfurt am Main 1984, S. 205f.
** Es seien die Leute, die real seien, während die Welt »fait bande à part«, hatte Deleuze Godard zitiert, es sei gerade die Welt, die aus dem Kino entstehe. Während die Welt aus dem Gleichlauf gerate, seien die Leute gerecht, wahr oder stellten das Leben dar, sie erleben eine einfache Geschichte, doch die Welt um sie herum lebe nach einem schlechten Drehbuch (Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt am Main 1997, S. 224).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Donnerstag, 17. März 2016

Montag, der 17. März 2014


[167 / 157]
Am Montag, dem 17. März 2014, hatten der Ulysses-Übersetzer Hans Wollschläger (geboren 1935) und die Schauspielerin Brigitte Helm (geboren 1906) Geburtstag.*


* Aus diesem Anlaß wollen wir noch einmal eine der leider selten gewordenen Fußnoten aus Seeßlens Die Ästhetik des erotischen Films einfügen: »Den Vamp in der mythischen Welt des phantastischen Films verkörperte Brigitte Helm. In Filmen wie Metropolis (Fritz Lang, 1925/26), Alraune (Henrik Galeen, 1927) oder Die Herrin von Atlantis (G. W. Pabst, 1932) ist sie die dämonische Frau, ein ›Androide‹ mit sexueller Ausstrahlung; ein künstlicher Mensch, wie in Metropolis oder Alraune, der selbst von seiner erotischen Anziehungskraft nichts anderes hat als die Freude an der Zerstörung, auf die hin er ›programmiert‹ zu sein scheint.« (Georg Seeßlen, Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Marburg 3. Auflage 1996, S. 31).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Mittwoch, 16. März 2016

JLG/JLG – autoportrait de décembre (1994)





Sonntag, der 16. März 2014


[166 / 158]
Hans Köberlin las bei Benjamin in dem Abschnitt über Langeweile und ewige Wiederkehr: »Man muß sich nicht die Zeit vertreiben – muß die Zeit zu sich einladen. Sich die Zeit vertreiben (sich die Zeit austreiben, abschlagen): der Spieler. Zeit spritzt ihm aus allen Poren. – Zeit laden, wie eine Batterie Kraft lädt: der Flaneur. Endlich der Dritte: er lädt die Zeit und gibt in veränderter Gestalt – in jener der Erwartung – wieder ab: der Wartende.«* Bei Gustav Meyrink, fiel Hans Köberlin dazu ein, wurden irgendwo Wünsche, das Warten und das Hoffen als »Zeitegel« bezeichnet, »weil sie, wie die Blutegel das Blut, uns die Zeit, den wahren Saft des Lebens, aus dem Herzen saugen«, und wurde weiter von »verwarteter Zeit« gesprochen.** Hans Köberlin erkannte sich bei diesen drei Typen Benjamins als den Zeit ladenden Flaneur wieder. Hans Köberlin war kein guter Warter … es gab das Warten, weil sich etwas staute, und die Erwartung als Vorfreude (hier dachte er natürlich an die Frau).


* Walter Benjamin, Das Passagen-Werk; in: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1982, Bd. 5, S. 164.
** Gustav Meyrink, J. H. Obereits Besuch bei den Zeitegeln; in: Die Bibliothek von Babel. Eine Sammlung phantastischer Literatur, hrsg. von Jorge Luis Borges, Bd. 18: Gustav Meyrink, Der Kardinal Napellus, Frankfurt am Main / Wien / Zürich 2007, S. 21. In seinem Vorwort zu dem Band schrieb Borges, die Zeitegel gingen über das nur Bildhafte und Allegorische hinaus, sie seien eins mit der Substanz unseres Ich (ebd., S. 11).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Dienstag, 15. März 2016

Das hätt ich ihm nicht zugetraut

Es gab bei uns einen berühmten Maler namens Styka, der immer den lieben Gott malte. Schließlich erbarmte sich Gott und sprach zu ihm: »Hör mal, mein lieber Styka, es muß nicht sein, daß du immer auf den Knien liegst, wenn du mich malst, es wäre mir lieber, daß du mich gut malst.«

(Krzysztof Kieślowski).

Samstag, der 15. März 2014


[165 / 159]
Man müßte sehen, wie sich der Prozeß der Kanonbildung verändert hatte (Jan Assmann lesen, müßte er selber einmal wieder, dachte Hans Köberlin, der Band befand sich in der Basisbibliothek), daß es heute, obwohl alle so taten wie früher, keinen wirklichen Kanon mehr gab (was auch gut war). Das hatte natürlich Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Autoren: schrieben sie noch für eine Ewigkeit oder zumindest für die Nachwelt (was ja eine Kanonisierung bedeutete) oder bloß noch für die Gegenwart (= den Markt …: Autor als Beruf oder Autor aus Berufung), mit einem Verfallsdatum versehene Bücher? Das Problem von Zeit und Bedeutung … Hans Köberlin dachte, im tiefsten und geheimsten Innern sollte jeder Autor ein Goethe, ein Joyce, ein Mann, ein Proust, ein Musil, oder wer immer auch sein Ideal war, sein wollen, auch wenn er wußte, daß er das nicht werden konnte, denn Goethe war nicht wegen seiner Schriften Goethe geworden – es hätte beim Werther als einer Eintagsfliege bleiben können und er wäre heute bloß noch eine Kuriosität wegen der ausgelösten Selbstmordwelle –, sondern Goethe war Goethe geworden, weil er Goethe sein hatte wollen. Dann der Funktionswandel der Literatur, der Wandel der Kulturindustrie, die Nischen und Reservate, die neuen Medien … alles auch Gegenstand der Gespräche Hans Köberlins mit Hans Köberlin,* der auf einen Platz als Hans Köberlin bloß in der Literarturgeschichte wertlegte. Aber das stimmte natürlich auch nicht so ganz …


* Bei Pynchon hieß es irgendwo: »they keeping a companionable silence«. Wieso fiel Hans Köberlin in letzter Zeit mehr als gewöhnlich – was ja schon einiges war – Pynchon ein?

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Montag, 14. März 2016

Ein weiteres Alibi

Wie ich gerade zufällig zwischen den Seiten 66 und 67 von Albert Camus’ Der Fremde (Reinbek 1961), erfuhr, habe ich für den 6. September 1980, ein – wenn auch nur tagesgenaues – Alibi. Damals kaufte ich nämlich für 3,80 DM in der Buchhandlung Reuffel in der Löhrstraße in Koblenz die rororo-Taschenbuchausgabe dieses Romans.

Ein Kriterium

Unsere Unterhaltung zum Beispiel, hat sie auch nur annähernd mit der Wirklichkeit zu tun? Nein. In einem Roman wäre sie unzulässig.

(Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 351).

Freitag, der 14. März 2014


[164 / 160]
Am Freitag, dem 14 März 2014, notierte Hans Köberlin folgende Traumsequenz: »Es war mein Schicksal – ich träumte tatsächlich, daß ich dachte, daß es mein Schicksal sei!* –, kilometerlang durch einen sehr engen und unbeleuchteten Tunnel zu gehen, vielleicht sogar, um irgendwo hinzukommen. Dieser unterirdische Weg war neu und sicher, das wußte ich und ging zuversichtlich ein paar Meter, dann graute mir aber doch davor und ich nahm die andere Abzweigung, die zwar auch unterirdische und dunkle Passagen hatte, die aber nicht so lang waren und auch, glaube ich, nicht so eng. Zur Not konnte man immer noch mit der U-Bahn fahren, es gab eine Station, über deren Vorhandensein ich mich allerdings wunderte, es mußte der Eingang zu einer weiter entfernt liegenden Station sein. Es gab viele desperate Traumsequenzen, das war die einzige, die ich mir merken konnte.«


* »Fate does not speak. She carries a Mauser and from time to time indicates our proper path«, so Thomas Pynchon irgendwo, und Hans Köberlin fand, daß es etwas sympathisches hatte, daß das Schicksal in the international spoken language weiblich war.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Sonntag, 13. März 2016

Donnerstag, der 13. März 2014


[163 / 161]
… und er ging nun, nach dem Dauerlauf, einmal wieder mit Robert Wyatts ʼ68 im Ohr und nach dem Frühstück, wie üblich seit Wochen wegen des Windes eingenommen im leeren Wintergarten, auf die beiden Dachterrassen, die Sonne schien und der Himmel war blau und überall blühte es und die Vögel lärmten und irgendwo bellte ein Hund und irgendwo arbeitete laut eine Maschine …, und er blickte nach der Zeit in der Hauptstadt bei der Frau und nach dem seltsam profanen Abend gestern mit dem Alten und seinen Bekannten mit einem Gefühl des Unwirklichen auf die ihm seit 163 Tagen inklusive Transfer vertraut gewordene Umwelt.* Nun, wieder in seinem Paradies konnte er sich nicht konkret vorstellen, wie es sein würde, in 161 Tagen inklusive Transfer (eine Zahl, die Hans Köberlin da allerdings noch nicht kannte) wieder zurück in der Hauptstadt zu sein, er konnte sich nur diffus vorstellen, daß es überhaupt sein würde.


* »… du siehst in deine dunkle Phantasie, wenn du in die Gegend siehst: sie ist ein ausgebreitetes fernes Theater deiner Erinnerung«, hatte Jean Paul einmal geschrieben, wie Hans Köberlin jetzt einfiel (siehe Jean Paul, Ideen-Gewimmel. Texte und Aufzeichnungen aus dem Nachlaß, hrsg. von Kurt Wölfel und Thomas Wirtz, Frankfurt am Main 1996, S. 266). Noch ist die Gegend keine Erinnerung, aber sie wird es werden …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).

Samstag, 12. März 2016

Mittwoch, der 12. März 2014


[162 / 162]
Der Mittwoch, der 12. März 2014, war also jener befürchtete Tag – es widerstrebt uns, zu sagen: »Das Glas ist noch halbvoll.« –, an dem die Anzahl der Tage, die vergangen waren, seit Hans Köberlin sein Exil angetreten, der Anzahl der Tage entsprach, die ihm noch bis zu seiner Rückkehr in die Hauptstadt blieben.* Hans Köberlin war sich zu seinem Glück dessen nicht bewußt.


* Dies erinnerte uns an den Anfang von John Cages Mesostichon Overpopulation and Art, vorgetragen an der Stanford University in Palo Alto am 28 Januar 1992, einige Monate vor seinem Tod …
Neueren Theorien zufolge soll das nicht stimmen, die Toten sollen immer in der Überzahl sein, was uns aber egal ist.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit des Exils], 7. bis 12. März 2014).

Freitag, 11. März 2016

Dienstag, der 11. März 2014


[161 / 163]
Nein, Hans Köberlin bedauerte in keinem Augenblick, die Frau besucht und dafür sein Paradies verlassen zu haben.*


* Vorgestern in zwei Jahren, also am Mittwoch, dem 9. März 2016, sollte Hans Köberlins Zitatenkalender Peter Altenberg zitieren: »Ich habe nie irgend etwas Anderes im Leben für werthvoll gehalten als die Frauenschönheit, die Damengrazie, dieses Süße, Kindliche! Und ich betrachte Jedermann als einen schmählich um das Leben Betrogenen, der einer anderen Sache hienieden irgend einen Werth beiläge!« (Was der Tag mir zuträgt, Berlin 13. Aufl. 1924, S. 10f.); vgl. auch Bernd Ternes, Die Wunde Frau; in: Soziologische Marginalien. Aufsätze 5, Berlin 2009, S. 72ff.: »Man muß schon längst nicht mehr nur Feminist sein, um für die Beurteilung von Männern nur noch eine Unterscheidung parat zu haben: Entweder handelt es sich um ein Arschloch oder um ein freundliches Arschloch (…) Gewiß gibt es weitere und feinere Weisen, Männer zu unterscheiden, um herauszubekommen, was man von ihnen halten kann und was man zu fürchten hat (…) Maßgebend zur Beurteilung eines Mannes gilt jedoch weiterhin der Stand beruflicher Karriere, erworbener Reputation qua Leistung, sowie die Fähigkeit, trotz innerer Emigration, tobendem Zynismus und schleichender Impotenz freundlich zu bleiben und nicht asozial zu werden im Kampf um Anerkennung. Man kann Männer, die andere Männer innerhalb solcher Margen beurteilen, und Männer, die solche Margen als Eckpunkte eigener Identifikation nutzen, nicht ernst nehmen; man darf es auch nicht, will man nicht zu den ganz dummen gehören. Die ganz dummen Männer sind die, welche ihr berufliche Arbeit und ihren sozialen Habitus nicht als Ausfluß verstehen können, als Ausfluß entweder eines leidenschaftlich erotischen oder eines leidenschaftlich melancholischen Verhältnisses zur ›Frau‹. Es geht dabei nicht um Derivate des Busengrapschers, nicht um moderierten Chauvinismus, nicht um miefige Liebhaberei, und ebensowenig darum, das mögliche Aufkommen von Freude im Beruf zu diskreditieren. Sondern darum, ein vielleicht letztes Weltverhältnis zu umreißen, das es gestattet, daß sich Männer im täglichen Kampf nicht nur auf immer dumpfere Weise wichtig, sondern ernst neh-men: nicht als immer brutaler werdende Macher im täglichen Konkurrenzkampf, sondern als grundle-gend von ›Frau‹ angemachte Männer, die noch wissen, was erfüllt und was nur ausfüllt.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit des Exils], 7. bis 12. März 2014).

Donnerstag, 10. März 2016

Montag, der 10. März 2014


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Hans Köberlin dachte neben der schlafenden Frau also über den Zufall nach. Es fiel ihm ein, wie John Cage sich einmal gefragt hatte, ob der Augenblick nicht ein Mythos sei, und wie er, Cage, über die Mühsal, Zufälliges nach Prinzipien zu produzieren, berichtet hatte, nämlich daß er für jeden Aspekt eines jeden Klangs und für jeden Parameter, den er, wenn man so wolle, dem Zufall unterwerfen wollte, beim I Ging drei Münzen sechsmal werfen mußte. Cage ging dann dazu über, nach den Spuren auf einem leeren Blatt Papier zu komponieren, nach den Flecken, Einschlüssen, Knicken et cetera, er multiplizierte dann das Ergebnis sogar, indem er Transparentpapier darüberlegte und es versetzt nochmals kombinierte, also den Zufall sich kumulieren ließ. Dies war eine andere Art von Zufall: der vorgefundene (zufällige) Zufall gegenüber dem mittels I Ging ermittelten Zufall, und dann noch die systematische Arbeit mit dem zufälligen Zufall.* Fellini hatte in seinem Traumtagebuch auch mit dem I Ging gearbeitet, Hans Köberlins Exemplar von Fellinis Traumtagebuch gab es noch in seiner in der Scheune des Verlegers gelagerten Restbibliothek, und Hans Köberlin war gespannt darauf, nach seiner Rückkehr zu erfahren, wie Fellini mit dem I Ging gearbeitet hatte.


* Woanders, wir finden jetzt den Beleg nicht, meinte Cage noch, er könne etwas wollen, aber nur, wenn er sich einer Reihe von Umständen ausgeliefert sehe und keine von ihm getroffene Entscheidung einen anderen betreffe. – Dies war, wie das vorherige oben, eine ziemlich akkurate Beschreibung von unserer Haltung während unseres Berichtens.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit des Exils], 7. bis 12. März 2014).

Mittwoch, 9. März 2016

Sonntag, der 9. März 2014


[159 / 165]
Am Sonntag, dem 9. März 2014, schrieb Hans Köberlin, während die Frau noch neben ihm schlief, folgenden Traum in seinem Arbeitsjournal nieder: »Träumte von korrupten und verräterischen Polizisten, Streifenbeamten in Uniform, und von einer Schießerei auf der Polizeiwache, bei der zwei der Beteiligten die Nerven verloren und dadurch die Aktion zu einem Desaster werden ließen. Dann, nachdem wir uns geliebt hatten, war ich im Mediterranen, es sah aber eher aus wie auf Atlantis oder wie im Cinqueterre: links das Meer, rechts wuchtige glatte Felsen, die steil nach oben gingen, und dazwischen bloß die Autobahn und die alte Straße. Ich folgte mit dem Fahrrad einem Auto (dem von der Frau?), um irgendwo hinzukommen, das ging natürlich nicht auf der Autobahn. Ich war mir nicht sicher welche der Straßen die alte Straße war, die mal links und mal rechts neben der später gebauten Autobahn die Orte verband. Die Straße oder den Weg, den ich nahm, wurde sehr bald zu einem nichtasphaltierten Waldweg und ging dann sehr steil die Felsen hoch, am Ende war es wie eine dort angebrachte stählerne Leiter und ich hackte mein Fahrrad irgendwo ein, um erst einmal zufuß zu erkunden, wie es weiterging. Auf dem Gipfel konnte ich nicht erkennen, ob der Weg weiterging. Es gab Häuser und Kinder, die waghalsig herumkletterten.«


* Dieser durch eine verankerte stählerne Leiter erreichbare Gipfel gehörte in Hans Köberlins ›Topographie der Träume‹ (vgl. für ähnliches bei Clemens Limbularius vom Verf. Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius, Berlin 2013, die Fragmente zu Kapitel IV, S. 163ff.). Manchmal blickte er von diesem Gipfel in das Tal der Mosel oder das Tal des Rheins.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit des Exils], 7. bis 12. März 2014).

Dienstag, 8. März 2016

Berlin Alexanderplatz


Samstag, der 8. März 2014


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Am Samstag, dem 8. März 2014, dem Weltfrauentag,* notierte Hans Köberlin, während die Frau neben ihm noch schlief, folgenden Traum in sein Arbeitsjournal: »Die Schauspieler eines Theaterensembles oder die Fernsehschauspieler in einem Theater (ich glaubte, Hannelore Elsner zu erkennen) waren in eine Spionagegeschichte verwickelt. Es ging hin und her mit dem Verrat und man wußte bald nicht mehr, auf welcher Seite einer wirklich stand. Ich brachte die Konstellation im Traum auf eine mathematische Formel und dachte, das wäre eine Idee für ein Drehbuch, die man auf jeden Fall gut verkaufen könnte. Eine der weiblichen Figuren (Hannelore Elsner?) verließ sich auf einen Mann, mit dem sie, glaube ich, etwas hatte oder aber zumindest gerne etwas gehabt hätte, doch der meinte am Ende auf einer hügeligen Wiese über einem Dorf, er müsse sie erschießen. Ich war bei dem ganzen mehr oder weniger bloß Zuschauer. Träumte anschließend etwas von einem Hotel, in das eine frivole Gattin ihre zwei Liebhaber, die nicht comme il faut waren, einschmuggelte: sie ging in die Lobby, drückte den Fahrstuhlknopf und sobald der Aufzug kam, gab sie den beiden ein Zeichen, schnell in die Kabine zu springen. Auf dem Rücken, den ihr Kleid freiließ, sah man rote Striemen von SM-Spielchen. Ich traf ihren Gatten in der Suite der beiden und entlieh oder entwendete Hochglanzmagazine oder -kataloge. Dann war ich auf dem Dach und sah durch die Lücken eines Sonnensegels einen riesigen Zeppelin über der Stadt.** Später stand ich mit der Frau an einem Buffet. Neben mir bestellte sich jemand ein Bier. Mir fiel ein, daß wir ja All-inclusive-Gäste waren und lief zu der Theke, um mir gleichfalls ein Bier und für die Frau ein Bier mit Limonade zu bestellen.«


* Nach der Aktualisierung des Filmkalenders sah Hans Köberlin auf dem aktuellen Filmkalenderblatt (dem einzigen, das an diesem Jahrestag seinen Weg in die Filmkalenderblattsammelkiste gefunden) anläßlich des Geburtstags von Victor de Kowa im Jahre 1904 zwar nicht ihn als SS-Gruppenführer Schmidt-Lausitz, aber Curd Jürgens als des Teufels General in dem gleichnamigen Film (Helmut Kätner, 1955) nach Carl Zuckmayers Theaterstück. Nur nebenbei bemerkt: Zuckmayers Stück Der Hauptmann von Köpenick hatte ja für Hans Köberlin eine signifikante Bedeutung bekommen, die sich nach seiner Rückkehr noch intensivieren sollte … Gestorben war im Jahre 1971 der große Komiker Harold Lloyd.
** Dieses Traumbild würden wir eindeutig auf Thomas Pynchons Against the Day zurückführen, aber deswegen konnte es dennoch in einem phallischen Kontext stehen.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit des Exils], 7. bis 12. März 2014).

Montag, 7. März 2016

361

Die Suche nach der Wahrheit – sei es die subjektive Wahrheit der Überzeugung, die objektive Wahrheit der Wirklichkeit oder die gesellschaftliche Wahrheit des Geldes und der Macht –, sie zeichnet den verdient Suchenden stets aus mit dem Preis der letzten Erkenntnis ihrer Nichtexistenz. Das große Los des Lebens fällt nur denen zu, die es auf gut Glück kaufen.
Der Wert der Kunst vesteht darin, daß sie uns aus dem Hier holt.

(Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 345).

Freitag, der 7. März 2014


[157 / 167]
Um sich die Zeit zu vertreiben, denn vor lauter Vorfreude war er zu nichts Produktivem mehr in der Lage, blätterte Hans Köberlin in seinem Arbeitsjournal.* Dort hatte er am Samstag, dem 17. Januar 2009 etwas von John Cage exzerpiert. Wir kennten, so der Meister in dem Exzerpt, nicht mehr die genaue Definition von Traurigkeit und Heroismus. Vor langer Zeit wäre in Indien die Traurigkeit als das Resultat des Verlusts von etwas Geschätztem oder des Gewinns von etwas Unerwünschtem definiert worden. Hier hatte Hans Köberlin etwas ausgelassen, dann weiter: er, John Cage, habe erkannt, daß die Menschen im Westen nur einen Teil dieser Definition akzeptierten. Ebenso sei einem die Bedeutung von Heroismus abhanden gekommen, es sei nämlich nicht, wie Nixon unbeirrt glaube, die Frage, Schlachten zu gewinnen, heroisch, heroisch sei vielmehr, die Situation, in der man sich befände, zu akzeptieren. Das erinnerte Hans Köberlin daran, was er neulich bei David Foster Wallace gelesen hatte: Heroismus als das Vermögen, Langeweile zu ertragen.** Und einen Tag darauf hatte Hans Köberlin in einer Traumniederschrift festgehalten: »Ich vertraute auf mein Schwert, das an der Wand hing, und freute mich auf das Gemetzel.« Also wollte er wie Nixon einst Schlachten gewinnen?


* ›Blättern‹ im übertragenen Sinne, denn nur die Dateien des digitalisierten Arbeitsjournals gab es noch, es gab nichts mehr in der Art von handbeschriebenen Blättern.
** Als Hans Köberlin am Mittwoch, dem 12. März 2014, im Flugzeug zurück an die weiße Küste die Lektüre des Buchs von Thirlwell beendete, sollte er auf S. 427 dessen Bemerkungen über Nabokovs Pnin lesen und sich an seine eigene Lektüre seines eigenen Arbeitsjournals zu Beginn seiner Reise erinnern. Thirlwell schrieb nämlich: ständig kollidiere Pnin mit den unkünstlerischen Mißerfolgen der Welt; Amerika sei nicht sicherer als Europa, denn Pnin sei auch ein Überlebender aus Sankt Petersburg, nicht aus Warschau. So, wie jeder mit den Fehlern seines eigenen Lebens leben müsse, man habe keine Wahl (nebenbei: in Hans Köberlins Ausgabe, einer Übersetzung in sein Idiom, stand fälschlicherweise »Leben« statt »Lebens«).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit des Exils], 7. bis 12. März 2014).

Sonntag, 6. März 2016

Donnerstag, der 6. März 2014


[156 / 168]
Have I Offended Someone? hieß ein postum 1997 veröffentlichtes Album Zappas,* bei dessen Titel Hans Köberlin natürlich gleich an den sterbenden Karl Kraus, der mit Erstaunen gefragt, ob er denn jemanden verletzt habe, denken mußte.


* Barry Miles fragte sich, warum auf diesem Album, das die besonders expliziten Provokationen – darunter auch das wirklich etwas abgeschmackte Weʼre Turning Again – versammelte, nicht auch The Illinois Enema Bandit befand, und er vermutete, weil es im Unterschied zu den anderen Tracks wirklich anstößig sei (vgl. Barry Miles Zappa, Berlin 2005, S. 306), was Hans Köberlin allerdings nicht fand.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Samstag, 5. März 2016

Mittwoch, der 5. März 2014


[155 / 169]
Hans Köberlin schaute sich, einem Bedürfnis folgend, aus seiner kleinen verbliebenen – Ach! –, aber nunmehr digitalisierten Filmsammlung Melvilles L’Aîné des Ferchaux* an, wobei er nur mit vager Ursache, eher weil er es gewollt, an die erste Übernachtung mit der Frau während seines Exodus’ erinnert wurde. Danach hätte er gerne eine Melville-Retrospektive veranstaltet, aber: Ach! …


* »Ich fragte mich die ganze Zeit über«, notierte er in sein Arbeitsjournal, »woher ich das Gesicht des Alten kannte.« – Nun, Hans Köberlin, wenn wir dir Bescheid geben dürfen: er war der gewesen, der mit Yves Montand in Le salaire de la peur (1952) in dem letzten Nitroglycerin-Lastwagen gesessen hatte und er war der schlaue aber nicht schlau genuge Kommissar Fichet in Les Diaboliques (1955) vom gleichen Regisseur gewesen und er war der Staatsanwalt gewesen, der in Cadaveri eccellenti (1976) erschossen worden war, nachdem er die Mumien in Palermo besucht hatte. – Aber lassen wir weiter unseren Protagonisten sprechen: »Als Michel Dieudonne nach seiner, Michels, Zukunft fragte, meinte Dieudonne, es gäbe drei Arten von Menschen: Schafe, Schakale und Leoparden; nun: der große Schakal Dieudonne wurde durch seine Krankheit (= Bedürftigkeit) und vielleich auch aus echter Zuneigung heraus zum Schaf, und der kleine Schakal Michel durch Überwindung seiner schlechten Gewohnheiten (sich davon zu machen) zum Leoparden. Der Film war, wie jeder Film von Melville, den ich bis jetzt gesehen habe, ein Meisterwerk. Er fing etwas spröde an (man achte aber auf die Ökonomie der Darstellung der Handlung, vor allem bei dem Boxkampf), wurde dann aber auf den Straßen der USA und vor allem im Dschungel bei New Orleans sehr suggestiv. Was auffällt ist, daß Belmondo während einer Dekade in drei in der Struktur sehr ähnlichen Meisterwerken die Hauptrolle gespielt hatte: in L’Aîné des Ferchaux (1963) eben, dann noch in Godards Pierrot le fou (1965) und schließlich in Truffauts La sirène du Mississipi (1969).«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Freitag, 4. März 2016

Dienstag, der 4. März 2014


[154 / 170]
Hans Köberlin hörte Fluvial von Catherine Jauniaux … er hatte sie, Catherine Jauniaux, einmal auf der Bühne gesehen, in der Hansestadt, mit The EC Nudes, bei denen Chris Cutler der Schlagzeuger gewesen war … Fluvial gehörte zu der Musik, die in der postkommunardischen Zeit in der Kurstadt über ihn gekommen war, gehörte zu dem Ensemble der Musik des Lebens in der Zeit, zu dem auch ein Best-of-Album von Grace Jones gehörte und Fred Frithʼ Cheap as Half the Price und Deadly Weapons von Steve Beresford, David Toop, John Zorn & Tonie Marshall und John Zorns The Big Gundown und Hector Zazous Revaix au Bongo …* Hans Köberlin war damals gerade dabei gewesen, seinen Zivildienst abzuleisten, und seine bevorzugte Rezeptionsweise der Musik des Lebens in der Zeit war: nach der Frühschicht in dem ›Wohnheim für geistig Schwerstbehinderte‹, wie man das damals noch nannte, frisch geduscht und nach dem Konsum eines ordentlichen Joints mit dem Walkman durch den Kurpark und anschließend entlang des Salzbachs in den Kuranlagen zu flanieren … Aber er wollte hier nicht allzu arg in die alten Zeiten eintauchen.


* Danach, in der Zeit in der Hansestadt, waren die Alben zum (Über-)Leben Geographies, ebenfalls von Hector Zazou, dann Don Giovanni in der Einspielung mit den Wiener Philharmonikern unter Erich Leinsdorf und Wrong Way Up von Cale & Eno. In der Zeit kam auch Edith Clevers (und nicht Eva Mattesʼ!) Lesung des Monologs der Molly Bloom über ihn.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Donnerstag, 3. März 2016

Montag, der 3. März 2014


[153 / 171]
Zum Abendessen gab es im Hause Hans Köberlin einmal wieder ein Rindersteak mit Salat und Weißbrot dazu. Aber diesmal hatte er kein gutes Händchen beim Einkauf gehabt, denn das Fleisch war zäh, schmeckte fade und roch ein wenig seltsam.*


* Während eines Diners bei Zola am Mittwoch, dem 3. April 1878, verglich Alphonse Daudet das dort aufgetischte Fleisch mit dem in einem Bidet marinierten Fleisch einer alten Kurtisane (vgl. Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 6, S. 416).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Mittwoch, 2. März 2016

Hoffnung?

Aber jedes potentiell mögliche Ereignis, scheint es auch noch so unwahrscheinlich, muß wohl irgendwann einmal eintreten.

(Arkadi & Boris Strugatzki, Die bewohnte Insel; in: Werkausgabe, hrsg. von Sascha Mamczak und Erik Simon, München 2010, Bd. 1, S. 20).

pro domo: nur »vorübergehend« hoffentlich

Die Übernahme durch Vodafone hat die Qualität von Kabel nach meinem Empfinden verschlechtert.

Sonntag, der 2. März 2014


[152 / 172]
Am Sonntag, dem 2. März 2014, erwachte Hans Köberlin wieder einmal aus einem obskuren Traum. Er sah sich darin nämlich genötigt, Menschen um mich herum zu töten. Auch andere sahen sich dazu genötigt, Hans Köberlin sah sie später in einer Imbißstube, wie sie sich gleich ihm mit ihrer Aufgabe herumquälten. Irgendwie tat man mit diesen Tötungen etwas für seine Opfer, aber das konnten die nicht einsehen, und sie wollten einem auch nicht glauben, daß man nur das Beste für sie tat. Manche fügten sich drein, bei anderen mußte er rabiat werden. Hans Köberlin hatte keine adäquate Waffe für seine Aufgabe, nur ein kleines Messerchen, was die Sache erschwerte und unnötig schmerzhaft machte; später dann arbeitete er mit einem Stechbeitel, der in das Fleisch eindrang wie ein heißes Eisen in Butter. Dann war er in einer Weinkellerei mit angeschlossenem Wirtshaus* und wollte dort Wein einkaufen, und zwar Rotwein und Weißwein in großen Plastikflaschen, in denen man sonst sein Mineralwasser kaufte. Die Flaschen lagen in einem braunen Karton, der Winzer war eine jener Gestalten, wie Hans Köberlin sie aus seiner Jugendzeit an der Mosel her kannte. Dann stand er wie früher real als Vermessungsgehilfe mit der Meßlatte in einer winterlich kargen Landschaft und kam sich dabei vor wie in Pink Floyds Atom Heart Mother.**


* Man sagte ›Wirtshaus‹ und ›Gasthaus‹ – der gleiche Raum aus zwei Perspektiven; wie auch ›danger au mort‹ und ›Lebensgefahr‹ das gleiche bezeichneten.
** Vorgestern erwähnten wir anläßlich des Schalttages Mason und Dixon, nun: mit denen wurden der Literaturgeschichte neben Herrn K. und neben Old Shatterhand zwei weitere Landvermesser hinzugesellt.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Dienstag, 1. März 2016

Samstag, der 1. März 2014


[151 / 173]
Eine Passage Baudelaires aus La Solitude fiel ihm ein …: »et que lʼEsprit de lubricité sʼenflamme merveilleusement dans les solitudes …« und er mußte an die beiden Mädels auf dem Parkplatz, die eine auf dem Campingstuhl, die andere stehend daneben, denken. Hans Köberlin – früher, in seinen sieben fetten Jahren, selber ein regelmäßiger Freier* – wollte nachschauen, was Max Weber (warum nicht?!) über die Prostitution geschrieben hatte und gab den Begriff in die Suchmaske seiner digitalen Bibliothek, die auch Max Webers Gesammelte Werke enthielt, ein. Der Begriff tauchte dreimal in dem Lebensbild, das Marianne Weber von ihrem Mann verfaßt und das dessen gesammelten Werken vorangestellt worden war, auf. Das schien wohl ein Thema in ihrer Ehe gewesen zu sein, Hans Köberlin hatte da bloß ungefähre Ahnungen und Phantasien von en passant aufgelesenen Bemerkungen (Max Weber war nie eigentlich sein Thema gewesen), sie, Marianne Weber, jedenfalls bezeichnete die Prostitution, über die sie im Allgemeinen schrieb und nicht aus konkretem Anlaß, als »schwarzen Schatten der Ehe«.**


* Vgl. etwa vom Verf. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 80, S. 82 und S. 175.
** Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, mit 13 Tafeln und 1 Faksimile, Tübingen 1926, S. 375. Bei Weber tauchten 18 Fundstellen auf, in denen historische und ökonomische (Prostitution als eine Einrichtung, bei dem man für etwas okkasionell bezahlen mußte, was man in der Ehe regelmäßig umsonst haben konnte) und religiöse Aspekte behandelt wurden. Angetan, so daß er sie dreimal zitiert hatte – und was wieder einmal eine dieser literarischer Koinzidenzen ergab: der Auslöser von Hans Köberlins Spielerei fand sich überraschend an ihrem Ende wieder –, also angetan hatte es ihm, Max Weber, eine Formulierung Baudelaires, nämlich »cette sainte prostitution de lʼâme« aus dem postum 1868 in Spleen de Paris erschienenen Prosagedicht Les foules.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).