Freitag, 25. März 2016

Dienstag, der 25. März 2014


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Hans Köberlin fiel dazu (natürlich nicht zu diesem Filmkalenderblatt und der wunderbaren Simone Signoret!) eine Passage ein, die er sich vor Jahren aus Brechts Arbeitsjournal exzerpiert hatte …
wissenschaftlich ergibt es noch die beste lösung, wenn man die haltung des formenden, erzählenden, singenden, musizierenden, agierenden beobachtet. die stellung, in der der erzählende zb sich zu seinen hörern befindet (und sich zu befinden glaubt), die situation, in der die erzählung stattfindet, die kulturelle stufe, auf der sich alle am erzählungsakt beteiligten befinden usw. überhaupt ist der begriff des kunstakts sehr ergiebig. wähle ich eine bestimmte erzählerhaltung (vielleicht besser gesagt: sehe ich mich veranlaßt, eine b[estimmte] e[rzählerhaltung] einzunehmen), so sind mir nur ganz bestimmte wirkungen zugänglich, mein stoff ordnet sich selber in der perspektive, mein wortmaterial und bildermaterial liegt in einer ganz bestimmten linie, holt sich aus einem ganz bestimmten fundus, von der phantasie meines hörers steht mir soundsoviel (und nicht mehr) zur verfügung, von seinen erfahrungen kann ich soundsoweit gebrauch machen, seine emotionen werden auf derundder linie ausgelöst usw. die haltung ist natürlich nichts einheitliches, gleichbleibendes, widerspruchsloses.*
Was die Rezeption im Modus der Interaktion betraf, was also die Haltung betraf, und was die produktionsästhetischen Überlegungen, den Kunstakt also, betraf, dem würde Hans Köberlin eher weniger Bedeutung zuschreiben, bei dem Primat der Perspektive allerdings ging Hans Köberlin mit Brecht dʼaccord, wobei seiner Meinung die primäre Formentscheidung auf das ihr folgende weniger determinierend wirkte. Es ging ihm dabei nicht um Willkür, eher um Unbestimmtheit, Hans Köberlin wollte keine ganz bestimmte Linie.


* Bertolt Brecht, Arbeitsjournal, 2 Supplementbände zu den gesammelten Werken, Frankfurt am Main 1974, S. 54f. – Borges hatte am Martin Fierro kritisiert, daß die Genese des Charakters des Protagonisten nicht thematisiert worden war, und im Journal konnte man unter dem Datum des 30. Oktobers 1856 lesen, der Realismus keime auf und breche hervor, während die Daguerreotypie und die Photographie zeigten, wie stark die Kunst vom Wahren abweiche.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).