Montag, 2. November 2015

Samstag, der 2. November 2013


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So ungefähr wie eben geschildert war also der erste Monat, den Hans Köberlin allein – was hier soviel heißen sollte wie: ohne die geliebte Frau – in seinem Exil an der weißen Küste verbracht hatte, verlaufen. Wie von seinem berühmten Namensvetter Castorp könnte man sagen, er »hatte den Tageslauf bereits am Schnürchen, wenn es auch viel zuviel gesagt wäre, daß er schon ›eingelebt‹, wie man es nennt, gewesen sei.«*
»Ein Monat ist nun vergangen«, sagte sich Hans Köberlin theatralisch, »seit ich in der Hauptstadt in dem Bezirk des Hauptmanns vor dem Haus der Frau in das vollbepackte Auto der Frau gestiegen bin. Bereits einen Monat hier oder erst einen Monat?«
»Natürlich bereits einen Monat hier!«**
Aber das stimmte ja nicht! Es war ein Monat seit seinem Aufbruch vergangen, hier war er seit dreißig Tagen, und allein– was hier soviel heißen sollte wie: ohne die geliebte Frau – war er erst seit vierundzwanzig Tagen.
Es war ein wenig wie in der Zeit während seines Studiums, bloß ohne die zerrüttende Brotarbeit an zwei Tagen in der Woche und während der gesamten Semesterferien, und ohne eine sich sorgende Mutter, die einem ständig auf dem Gewissen lag oder sonst einem Menschen … Es gab allein die Frau …
Er fand, er hatte sich hier gut in seinem Exil eingerichtet und hatte über weite Strecken geschafft, in den Tag zu leben, wie man so sagte, allerdings bewußt.*** Sicher, es galt noch Faulkners Donnerwort …
»The past is never dead. It’s not even past.«****
… doch während des Durchkauens in verschiedenen Modi relativierte sich viel von der durchlebten Katastrophe, es rückte auch in die Ferne (der Vergangenheit), wie er seine Gegenwart in die geographische Ferne gerückt hatte. Doch es passierte ihm immer wieder, daß er diese »Gegenwart mit Zukunft überlastete«***** Er fragte nicht, ob es weitergehen würde mit ihm oder nicht, das würde sich zeigen (und alles sprach dafür, daß es wohl weitergehen würde).
»Und die Frage ist nicht mehr, was uns bevorsteht, sondern wie beschrieben wird, was uns bevorsteht.«******
Und ob wir wohl diesmal mit unserer Beschreibung zu einem Ende kommen werden …?*******


* Thomas Mann, Der Zauberberg, Frankfurt am Main 1986, S. 147.
** Und um nochmals mit dem Zauberberg zu kommen, der Adresse, wenn es um Dauern ging: »Es war wohl beides der Fall: zugleich unnatürlich kurz und unnatürlich lang erschien ihm im Rückblick die hier verbrachte Zeit, nur eben wie es wirklich damit war, so wollte es ihm scheinen – wobei vorausgesetzt wird, daß Zeit überhaupt Natur, und daß es statthaft ist, den Begriff der Wirklichkeit mit ihr in Verbindung zu bringen.« (ebd., S. 307f.).
*** Ähnlich erging es Peter Handke, als er aus der Stadt der Liebe in eine Vorstadt der Liebe gezogen war: »Ich wohne nun da, und das Wohnen war, wie es sich gehörte, geheimnisvoll. Und das würde für eine Zeit so bleiben. Was hieß ›für eine Zeit‹? Für eine Fortsetzung, für ein Weiterkommen, für ein Sichhalten. Wie begütigend und kräftigend waren diese Märchenlebensmomente. Ich erfuhr durch sie, was Freiheit war (…) Ich hatte Zeit. Los. Auf. Hinaus. Mach.« (Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt am Main 2007, S. 180).
**** William Faulkner, Requiem for a Nun (1951), Act I, Scene III. Oder Olga Bergholz’ Inschrift auf dem Monument des Piskarjowskoje-Gedenkfriedhofs für die Opfer der Blockade von Leningrad: »Никто не забыт, ничто не забыто.«
***** Vgl. Niklas Luhmann, Risiko auf alle Fälle. Schwierigkeiten beim Beschreiben der Zukunft; in: Short Cuts, hrsg. von Heidi Paris, Peter Gente und Martin Weinmann, Frankfurt am Main 4. Aufl. 2002, S. 96.
****** Ebd., S. 94.
******* »Iam provideo animo, velut qui proximis litori vadis inducti mare pedibus ingrediuntur, quidquid progredior, in vastiorem me altitudinem ac velut profundum invehi et crescere paene opus, quod prima quaeque perficiendo minui videbatur.« (Livius).
Wer diese Fußnote hier liest, die oder der wird wissen, ob wir diesmal mit der Beschreibung zu Ende gekommen sind oder sie oder er wird dies einfach empirisch nachprüfen können, indem sie oder er einfach weiterblättert.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).