Donnerstag, 31. Dezember 2015

Dienstag, der 31. Dezember 2013


[91 / 233]
Am Dienstag, den 31. Dezember 2013, dem letzten Tag in diesem denkwürdigen Jahr, aktualisierte Hans Köberlin zum letzten Mal seinen Filmkalender, denn für das neue Jahr 2014 hatte der betreffende Verlag aus für Hans Köberlin nicht nachvollziehbaren Gründen keinen neuen Filmkalender verlegt. Und weil es für das Jahr 2014 keinen Filmkalender gab, besorgte sich Hans Köberlin später, während er in der ersten Februarwoche die Frau in der Hauptstadt im Bezirk des Hauptmanns besuchte, einen Tagesabreißzitatenkalender, auf dem gleichfalls Geburtstage und Todestage verzeichnet waren, sowie der Beginn eines Sternzeichens (was Hans Köberlin nicht mehr interessierte) und die Mondphasen. Sollte sich dort etwas Erwähnenswertes befinden, dann werden wir es erwähnen, ansonsten werden wir wie gehabt die Filmkalenderblattsammelkiste konsultieren. Das letzte aktuelle Blatt zeigte also anläßlich des Todestages von Matthias Fuchs († 2001) Gudrun Landgrebe in Robert van Ackerens Die flambierte Frau (1983), es sollte dort bis zum 9. Februar 2014 hängenbleiben.*
Hans Köberlin notierte über seinen Traum im Arbeitsjournal: »Da waren drei verschiedene Dinge im Traum, die irgendwie außerhalb waren, aber doch eigentlich hineingehört hätten und erledigt werden wollten. Eines, das wichtigste, war ein Faß ohne Boden. Mit einem irrealen Gefühl erwacht.« Er las dann im Ulysses weiter, immer noch in dem Kyklopen-Kapitel. Dann las er in Hebbels Tagebüchern Einträge vom Juni 1863. Hebbel hatte die Gewohnheit gepflegt, am Ende des Jahres in seinem Tagebuch Bilanz zu ziehen. Zöge er eine Jahresbilanz in der Manier Hebbels, so dachte sich Hans Köberlin, dann hätte er von einem halben schlimmen Jahr mit Diotima und von einem halben seltsam schönen Jahr mit der Frau zu berichten und von Exodus und Exil und von dem unvollkommenen Abschluß der Trilogie durch seine Hand …


* Auf dem Vorjahresblatt sah man erneut einen Still aus True Romance und 1997 sah man Madonna in Warren Beattys Dick Tracy (1990). Hans Köberlin überlegte, ob er Madonna zu seinem Ensemble im Schlafzimmer … doch das Blatt von 1996 präsentierte das Original, das ins Pantheon kommen sollte: Marilyn Monroe, wie sie sich zwischen zwei überdimensionierten Silvesterböllern die diamantenbehangenen Ohren zuhielt.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IX [Der zweite Besuch der Frau], 20. Dezember 2013 bis 6. Januar 2014).

Mittwoch, 30. Dezember 2015

Montag, der 30. Dezember 2013


[90 / 234]
Dann las er zu seinem Erstaunen folgende Umschreibung von Mrs Bloom: »Pride of Calpeʼs rocky mount, the ravenhaired daughter of Tweedy.«* Sollte etwa …?! Hans Köberlin hatte gedacht, Molly sei auf dem Affenfelsen an der Meerenge, an den Säulen des Herakles aufgewachsen …**


* James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 288.
** Die Römer hatten den Affenfelsen ›Calpe‹ genannt, wie Hans Köberlin dann schnell herausbekam.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IX [Der zweite Besuch der Frau], 20. Dezember 2013 bis 6. Januar 2014).

»Es gibt keinen Kontext.«

Genauso (Man müßte einen Gedichtband hintereinander weg, von Anfang bis Ende lesen können.) müßte sich ein Roman auf einer x-beliebigen Seite aufschlagen lassen und unabhängig vom Kontext gelesen werden können. Es gibt keinen Kontext.

(Michel Houellebecq, Die Welt aks Supermarkt. Interventionen, Reinbek 2. Aufl. 2001, S. 38).

x-beliebige Seite aus: der Verf., HannaH & SesyluS oder Eine Reise aus der Welt in drei Tagen, Berlin 2. ein wenig verbesserte Auflage 2012

Dienstag, 29. Dezember 2015

Lob der Sehnsucht

Das Gedicht gewinnt, wenn wir ahnen, daß es Ausdruck eines Verlangens ist, nicht die Geschichte von etwas, das stattgefunden hat.

(Jorge Luis Borges, Der Andere; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Frankfurt am Main 1993ff., Bd. 13: Spiegel und Maske, S. 101).

Sonntag, der 29. Dezember 2013


[89 / 235]
In André Bretons Anthologie de l’humour noir las Hans Köberlin in Tristan Corbières Litanie du sommeil einen netten Vers …
Obscène Confesseur des dévotes mort-nées!
Und in Lichtenbergs Sudelbüchern
Den 12ten nov. 1769 brachte Herr Ljungberg den Gedanken auf die Bahn, ob man nicht vielleicht dereinst würde ein Mittel erfind[en,] die Bilder in der Camera obscura auf dem Papier stehen bleiben zu machen.*
Wann war Daguerre gewesen?** Dann zog es ihn wieder zu Mr Bloom. Der ging gerade seinem unschuldigen Frivolitätchen nach und schrieb an jene ominöse Martha Clifford … »naughty boy« hatte sie ihn genannt … Dann wollte er aufbrechen. Nach Simon Dedalus sang Ben Dollard noch die Ballade vom croppy boy und Mr Bloom empfand die tröstende Melancholie der Musik und verlor sich in diversen Betrachtungen über – wie hatte Nabokov geschrieben? …: sein Geschick – und über eine der Bardamen …
Blank face. Virgin should say: or fingered only. Write something on it: page. If not what becomes of them? Decline, despair. Keeps them young. Even admire themselves. See. Play on her. Lip blow. Body of white woman, a flute alive. Blow gentle. Loud. Three holes all women. Goddess I didn’t see …

* Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher; in: Schriften und Briefe, München 1968ff., Bd. 2, S. 25. So wie hier die Photographie antizipiert wurde, hatte Lichtenberg auch die Möglichkeiten der modernen kosmetischen Chirurgie vorausgeahnt: »Sollten die Menschen noch nicht einmal ein Mittel erfinden in den Muskeln unschädliche Lokal-Schwellungen zu erwecken um sich auf einige Zeit vollere Gesichter zu machen, so wie man sich akkommodieren läßt? Masken wären vielleicht besser, aber die Bewegung fehlt.« (ebd., Bd. 1, S. 964).
** In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts …, komisch, daß Jules de Goncourt während seiner Kur am 28. Juni 1869 nicht an ihn, Daguerre, gedacht hatte, als er folgendes in sein Journal niederschrieb: »Il y a ici, près de l’établissement des bains, un petit pavillon en bois, où un vieux militaire vous fait voir un miracle d’art. C’est une chambre obscure. Qu’on imagine dans la nuit de la petite pièce, sur une feuille de papier – dont le rond d’une timbale de guerre du XVIIIe siècle peut donner l’idée – les mon-tagnes, les torrents, les omnibus, les chevaux, les passants, peints et touchés, comme par les plus admirables petits maîtres qu’on pourrait rêver. Car le côté curieux de cette représentation, ce n’est pas la na-ture telle que vos yeux la voient, c’est la plus jolie, la plus spirituelle, la plus blonde, la plus colorée peinture qui soit, à ce point que, si par un progrès qu’on peut prévoir, on parvenait à fixer ces images colorées, il n’y aurait plus d’art de peindre. Un moment le montreur de cette magie a fait tenir, sur le rond de mon chapeau gris, toute une chaîne de montagnes qui ressemblait à une impression japonaise sur une feuille de crêpe.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IX [Der zweite Besuch der Frau], 20. Dezember 2013 bis 6. Januar 2014).

Montag, 28. Dezember 2015

Samstag, der 28. Dezember 2013


[88 / 236]
Und Edmond betrachtete heute vor 128 Jahren auf einer japanischen Versammlung 57 Kompositionen von Hokusai …
Dies sind die ersten Zeichnungen, die mir echte Hokusais zu sein scheinen. Nur sind es Zeichnungen, die, für die Radierung geschaffen, sehr stark den Charakter von Zeichnungen haben, die von einem geschickten Kupferstecher gemacht wurden, aber nichts von der Freiheit, der Furia der Inspiration eines Malers besitzen und nicht erlauben, das Talent eines Künstlers vollständig zu beurteilen. Kurz, so wie sie sind und mit den Anmerkungen, von denen man versichert, daß sie von Hokusais Hand sind und die empfehlen, dieses und jenes Laubwerk nicht zu radieren, das einen Fleck macht, nicht … diese Zeichnungen sind sehr interessant. Sie halten einem die unverminderte Originalität dieses flüchtigen und unsteten Zeichnens vor Augen, das trotz seines Naturgetreuen etwas von der Zickzackbewegung einer Peitsche in der Luft hat, und, nach jenem schnurgerade Fall senkrechter Linien um einen Körper, beim Fußspann der Männer und in dem Gewoge der Frauenröcke am Boden, gleichsam die Verstrickungen und Verknotungen der Schnur dieser plötzlich um etwas herum geschlungenen Peitschen.*
Auch Hans Köberlin hatte einen Faible für diesen Künstler, ja überhaupt für die Kunst aus dem Land der aufgehenden Sonne …


* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 7, S. 571. Im Oktober 22 Jahre früher hatte sich auch Jules Kunst aus dem Reich der aufgehenden Sonne angeschaut: »Neulich habe ich Alben mit japanischen Obszönitäten gekauft. Das erheitert mich, amüsiert mich, bezaubert mein Auge. Ich betrachte das ungeachtet des Obszönen, das darin steckt und doch auch wieder nicht, und das ich gar nicht sehe, so sehr verschwindet es unter der Phantasie. Die Heftigkeit der Linien, das Unerwartete der Zusammenstellung, die Anordnung der Accessoires, das Launige der Posen und Dinge, das Pittoreske und die Landschaft der Geschlechtsteile sozusagen. Während ich sie betrachte, denke ich an die griechische Kunst, die Langeweile in der Perfektion, eine Kunst, die sich von einem Verbrechen nie reinwaschen wird: vom Akademischen! (ebd., Bd. 3, S. 640).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IX [Der zweite Besuch der Frau], 20. Dezember 2013 bis 6. Januar 2014).

Sonntag, 27. Dezember 2015

Freitag, der 27. Dezember 2013


[87 / 237]
Als Hans Köberlin am Freitag, dem 27. Dezember 2013, erwachte, da wußte er zwar konkret, daß er etwas geträumt hatte (er wußte es konkret und nicht abstrakt, wie man etwa weiß, daß man immer etwas träumt), die Erinnerung daran aber, was er geträumt hatte, war ihm nicht zugänglich.* Es war gegen acht Uhr, als er erwachte, so früh schon, obwohl sie wieder die halbe Nacht gevögelt hatten, er war indifferent unruhig, konnte nicht wieder einschlafen, stand auf und brachte den Müll weg, woraus sich schließen läßt, daß es am Abend zuvor Fisch oder Langostinos gegeben hatte.


* Uns aber schon: Hans Köberlin hatte von einem riesigen Kreuzfahrtschiff geträumt, von der ›Queen Mary‹ oder einem ihrer Schwesterschiffe, es war ihm aber nicht auf offener See begegnet, sondern in einem Hafen. Das Schiff kam ganz nah an einen heran, man sah seinen gigantischen Schatten, der alles verdunkelte, über sich und duckte sich zusammen, aber dann passierte doch nichts.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IX [Der zweite Besuch der Frau], 20. Dezember 2013 bis 6. Januar 2014).

Samstag, 26. Dezember 2015

Donnerstag, der 26. Dezember 2013


[86 / 238]
Nachdem Hans Köberlin das Filmkalenderblatt mit Hanna Schygulla in der Rolle der Effi Briest abgerissen und in seine Filmkalenderblattsammelkiste gelegt hatte, sah er anläßlich des 52. Geburtstags von Jörg Schüttauf ein Still aus Alexander Adolphs So glücklich war ich noch nie (2009). Man sah Nadja Uhl und Devid Striesow, und wegen Nadja Uhls schönem Gesicht und weil er bei dem Titel an die Frau dachte, beschloß Hans Köberlin, der den Film nicht kannte, das Blatt zu archivieren.*
Draußen tobte ein kräftiger Sturm, Hans Köberlin sah, wie die Palme gebeutelt wurde, aber der Himmel war strahlend blau und vollkommen wolkenlos. Hans Köberlin begann also im Ulysses mit der Lektüre des Sirenenkapitels … »A jumping rose on satiny breast of satin, rose of Castille.« Es war die Stunde des Ehebruchs …


* Im Vorjahr gab es anläßlich Howard Hawks’ Tod (†1977 … er war also einen Tag nach Chaplin gestorben, als Hans Köberlin gut 17½ Jahre alt gewesen war) ein Still aus The Big Sky (1952), auf dem man Kirk Douglas als Trapper Jim Deakins und das Model Elizabeth Threatt in ihrem einzigen Film als entzückende Blackfood Squaw Teal Eye sah. Sie kam aber am Ende nicht mit Deakins zusammen, wie das Bild suggerierte, sondern mit dessen Kumpel Boone. 1997 gab es einen weiteren Klassiker, nämlich John Hustons Adaption von Dashiel Hammetts The Maltese Falcon (1941) mit unserem Freund H. B. … und 1996 sah man Jérome Olivier in Daniel Schmids La Paloma (1973).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IX [Der zweite Besuch der Frau], 20. Dezember 2013 bis 6. Januar 2014).

Freitag, 25. Dezember 2015

Mittwoch, der 25. Dezember 2013


[85 / 239]
»Wieder einen heiligen Abend gut über die Runden gebracht. Hatte einen Schleifentraum über eine Fußnote, an dem sich andere Geschichten aufhängten, die ich aber nicht mehr zusammenbekomme. Morgen ist hier kein Feiertag, ich muß mir also keine Sorgen um den Weinvorrat machen. ›The cup that cheers but not inebriates, as the old saying has it.‹«* – Das schrieb Hans Köberlin am Mittwoch, dem 25. Dezember 2013, nachdem er (…) etwas später aufgestanden und wie üblich mit dem Gasofen umgezogen war, in sein Arbeitsjournal. Hanna Schygulla hatte Geburtstag, geboren im Jahre 1943, deshalb präsentierte sie das aktuelle Filmkalenderblatt als Effi Briest und das vom Vorjahr zusammen mit dem Regisseur (als »der Griech aus Griechenland«) in Katzelmacher. Und Charles Chaplin hatte Todestag (†1977), es sind im Zusammenhang mit Buster Keaton bereits einige Bemerkungen über ihn gefallen, und am Sonntag, dem 29. Dezember 2013, wird sich unser Paar Modern Times anschauen. Und W. C. Fields hatte Todestag (†1946), und auf die Gefahr, zu sagen was jeder weiß …: berüchtigt durch seinen Spruch daß der, der keine Hunde und Kinder möge, nicht ein ganz so schlechter Mensch sein könne. Was die Hunde betraf, da pflichte Hans Köberlin ihm unbedingt bei, nicht erst seit er fast täglich auf der vollgekackten Promenade flanierte. Das Blatt von 1997 zeigte – warum auch immer – die Skizze einer Cinematographe-Kamera mit Wasserkugel zum Kühlen des heißen Lichtstrahls, und 1996 schließlich gab es anläßlich des Geburtstags des Drehbuchautors Noel Langley, geboren im Jahre 1911, und wohl auch wegen des ersten Weihnachtstags ein Still aus Brian Desmond Hursts Adaption von Dickens’ A Christmas Carol aus dem Jahre 1951.


* James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 216.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IX [Der zweite Besuch der Frau], 20. Dezember 2013 bis 6. Januar 2014).

Donnerstag, 24. Dezember 2015

Empirie, 3. Update

¡Hans Koberlin vive! in Daten (der Stand von heute):

  • Stand des Manuskripts: S. 886 von ca. 1.800 Seiten
  • Stand der Überarbeitung:
    • Seiten: S. 785 von ca. 1.800 Seiten
    • Kapitel: XII (= Phase V – oder: Un gringo en Calpe) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Mittwoch, der 19. Februar 2014, der 141. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
  • Fußnoten Stand des Manuskripts: 2520
  • Fußnoten am Stand der Überarbeitung: 2176
  • Beginn der Handlung: 23. Oktober 4004 vor unserer Zeitrechnung, 9 Uhr vormittags*
  • Ende der Handlung: fällt mit dem Ende der (oder bloß einer?) Welt zusammen
  • Beginn der Niederschrift: Mittwoch, den 2. Oktober 2013
  • Ende der Niederschrift: noch nicht abzusehen


* (= die momentane Fußnote 317 auf S. 66) Wir haben für unseren Prolog den Zeitraum von Anbeginn der Schöpfung bis zum Dienstag, dem 1. Oktober 2013 veranschlagt. – Nun: »In der Schiffsbibel von Charles Darwin auf der ›Beagle‹, mit der er von 1831 bis 1836 die Welt bereiste, stand das Datum der Weltschöpfung eingetragen: 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt, 9 Uhr vormittags.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 47).

Wird aktualisiert!

Dienstag, der 24. Dezember 2013


[84 / 240]
Bevor wir fortfahren möchten wir noch kurz etwas in eigener Sache mitteilen, ein Jubiläum …: heute nämlich, genau auf den Tag vor einem Vierteljahrhundert, am Samstag dem 24. Dezember 1988, hat unsere Laufbahn als Berichterstatter begonnen. Es sollten allerdings noch 19 Jahre vergehen (und nicht 20 Jahre, wie wir unzutreffend behauptet), bis jene Zeilen gedruckt vorlagen …
Ich biege zwanzig Jahre später um eine Straßenecke und überlege dabei, wie es damals wohl angefangen hat. In einem Zug natürlich: der Protagonist schaute aus dem Fenster auf den Ablauf der Landschaft, jemand drehte anscheinend eine Kurbel, um die Kulisse in Bewegung zu setzen, damit die Illusion einer linearen Bewegung entstand, mir kam die Idee und Clemens Limbularius war irritiert ob der Lage, in der er sich durch diese Konstellation befand, oder anders gesagt: der Zustand seines Bewußtseins fand keine Entsprechung in seiner Umwelt.*

* Vgl. vom Verf. HannaH & SesyluS oder Eine Reise aus der Welt in drei Tagen, Berlin 2. ein wenig verbesserte Auflage 2012, S. 9.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IX [Der zweite Besuch der Frau], 20. Dezember 2013 bis 6. Januar 2014).

Mittwoch, 23. Dezember 2015

Montag, der 23. Dezember 2013


[83 / 241]
Unser Paar frühstückte wie gehabt im leeren Wintergarten mit dem improvisierten Adventskranz auf dem Tisch und Musik aus dem Radio von dem hiesigen Klassiksender. Anschließend legte man sich nochmals hin (…) und spazierte später am frühen Nachmittag zur ›Coral Beach Bar‹, die die Frau ja noch nicht kannte. Es war ein idealer Tag für diese Lokalität: die Sonne schien und es war windstill. Die Frau war wie Hans Köberlin beeindruckt von der Möglichkeit, quasi im Meer sitzend ein Glas Rotwein zu trinken. Unterwegs hatte man noch den Busenfreund angerufen, der an diesem Tag seinen 49. Geburtstag feierte.
»Ich möchte dir etwas vorlesen, aus dem Journal der Goncourts …« Und Hans Köberlin holte die am Morgen gescannte und ausgedruckte Passage aus der Gesäßtasche seiner Hose, schüttelte sie, bis sich das Blatt auseinanderfaltete, und las vor …
Wenn es in unserem Leben weder Glück noch eine glückliche Fügung für uns gibt, so haben wir doch diese große Sache, diese vielleicht einmalige Sache seit die Welt besteht: diese körperliche und moralische Gesellschaft in all unseren Stunden, diese unsere Gemeinschaft von uns beiden, an die wir gewöhnt sind wie an die Gesundheit. Ein seltenes und kostbares Glück: zumindest könnte man dies glauben, bei dem Preis, den das Leben uns dafür bezahlen läßt, als würden uns alle darum beneiden.*
Hans Köberlin merkte, wie ihm, weil ihm die Tiefe der Freundschaft bewußt wurde, das Wasser in die Augen stieg … »Und dabei gibt es in unserem Leben Glück: du hast deine Familie und ich die Liebe der Frau …«


* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 2, S. 574. Jean Pauls Schoppe äußerte im Titan eine schöne Sequenz: »Daran erkenn’ ich eben den Freund, daß er mich oder sich nicht unterhalten, sondern bloß dasitzen will …« (Jean Paul, Titan; in: Sämtliche Werke, hrsg. von Norbert Miller und Gustav Lohmann, München 1959ff., 1. Abt. Bd. 3, S. 515).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IX [Der zweite Besuch der Frau], 20. Dezember 2013 bis 6. Januar 2014).

Dienstag, 22. Dezember 2015

Sonntag, der 22. Dezember 2013


[82 / 242]
»Ich war in einem Zug, der auf offener Strecke irgendwie angehalten oder überfallen wurde, es gab jedenfalls Auseinandersetzungen. Ich hielt es für angebracht, mich tot zu stellen und legte mich in dem Gang auf den Boden, wo bereits andere Reisende lagen, ich weiß nicht, ob sie wirklich tot waren oder ob sie gleichfalls wie ich nur markierten, toter Mann machten, »Mimikry an den Tod«.* Es klappte, man ließ mich unbehelligt. Was weiter war wußte ich eben noch beim Aufwachen, jetzt ist es aber weg.«
Am Sonntag, dem 22. Dezember 2013,* wollte man also – was Hans Köberlin durch den täglichen Anblick schon seit langem zu einem Herzensbedürfnis geworden war – die Sierra de Oltà, jenen mit der Zeit emblematisch gewordenen Tafelberg, seinen Berg Sinai, den Hans Köberlin von seinen Dachterrassen und von seinem Schreibtisch (… striptease table …) aus sah und der quasi als Gegengewicht des Peñón de Ifach das Bild des Ortes dominierte, umrunden und dabei seinen nördlichen Gipfel, den Cim de Oltà (587 m), ersteigen.


* Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft; in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 1986, Bd. 10.1, S. 327.
** Die Kalenderblätter zeigten anläßlich seines Geburtstags im Jahre 1899 Gründgens als Faust, den hatten wir bereits einmal, und wieder wie gestern ein Still aus einer Opernverfilmung, diesmal anläßlich seines Geburtstages im Jahre 1858 aus Puccinis Manon Lescaut, dann anläßlich seiner Premiere am 22. Dezember 1962 (da war Hans Köberlin 2½ Jahre alt) Anthony Perkins als Joseph K. in der gleichfalls bereits erwähnten Adaption Welles’ von Kafkas Prozeß, und schließlich anläßlich des Geburtstags im Jahre 1946 des Kameramanns Robert van Ackeren ein Still aus Rosa von Praunheims Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (1970).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IX [Der zweite Besuch der Frau], 20. Dezember 2013 bis 6. Januar 2014).

Montag, 21. Dezember 2015

So kann man es auch sagen

… es gibt keine echte Schöpfung ohne eine bestimmte freiwillige Form von Blindheit.

(Michel Houellebecq, Gegen die Welt, gegen das Leben. H. P. Lovcraft, mit einem Vorwort von Stephen King, Reinbek 2007, S. 60).

Samstag, der 21. Dezember 2013


[81 / 243]
Heute sollte Hans Köberlin, ohne daß er es da hätte bereits wissen können (und das war auch besser so!), ein Viertel der Zeit seines Exils hier verbracht haben.
(…)
Der grüne Schutzumschlag der von Goyert übersetzten Ausgabe ging auseinander und Hans Köberlin nahm transparentes Klebeband und klebte ihn wieder zusammen, daran denkend, daß er 1977 dieses Buch gekauft hatte, vor 36 Jahren … von der Mosel an den Rhein an die Elbe an die Spree und schließlich ans Mediterrane (erst Puglia und dann die weiße Küste, dazwischen am Landwehrkanal, wo es verraten wurde, verspottet und gekreuzigt) … es würde also, wie es aussah (wiederauferstanden), wieder zurück an die Spree … oder an die Dahme oder – was aber wegen der fortgeschrittenen Gentrifizierung eher unwahrscheinlich war – zurück an den Landwehrkanal …* Beide, Goyert und Wollschläger, hatten »littlejohn« mit »kleiner John« beziehungsweise »Klein John« übersetzt … Es war doch wohl ein Anspielung auf den Gesellen Robin Hoods, und der war doch überall so populär, daß man hätte …


* »Ces volumes où on a lu un ouvrage la première fois, c’est comme la première robe où on a vu une femme, ils nous disent ce que ce livre était pour nous alors, ce que nous étions pour lui. Les rechercher est ma seule manière d’être bibliophile. L’édition où j’ai lu un livre pour la première fois, l’édition où il m’a donné une impression originale, voilà les seules ›premières‹ éditions, les ›éditions originales‹ dont je suis amateur.« (Proust, Le Balzac de monsieur de Guermantes). Aber mehr noch als mit Büchern erging es Hans Köberlin mit der von Proust beschriebenen Art mit den Interpretation, in denen er bestimmte Musik zum ersten Mal hörte: Vivaldi von dem Amati Ensemble, Bach von Gould oder Harnoncourt oder Kremer oder Casals, Mozart von Gould (die Sonaten) oder Gulda (einige Klavierkonzerte) oder Leinsdorf (Don Giovanni), Beethoven von dem Emerson String Quartet und Mahler von Raphael Kubelik.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IX [Der zweite Besuch der Frau], 20. Dezember 2013 bis 6. Januar 2014).

Sonntag, 20. Dezember 2015

Freitag, der 20. Dezember 2013


[80 / 244]
Der Bus war bloß mäßig besetzt, Hans Köberlin versuchte zu lesen, war aber zu unkonzentriert für den surrealistischen Kram, den Breton da versammelt hatte. Benjamin hatte etwas über den »Sürrealismus«, wie es bei ihm hieß, geschrieben. Vielleicht einmal zwischendurch …*
Er erreichte eine Stunde vor der angekündigten Landung den Aeropuerto, mit Ausstieg und Warten an der Gepäckausgabe also etwa noch eineinhalb Stunden, davon 30 Minuten vor dem Ausgang stehen, denn es könnte ja alles früher sein …
Es kam ihm, er wußte nicht, wieso jetzt gerade, der tragikomische Gedanke, daß vielleicht wirklich etwas vonstatten ging, draußen in der Welt, und daß die Welt sich tatsächlich zum besseren kehrte (des jungen Marx’ »Reich der Freiheit«), daß aber die sich anbahnenden äußeren Umstände, die ihm ein ihm gemäßes (artgerechtes) Dasein ermöglichen würden (etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen), für ihn ganz knapp zu spät kämen (so wie Reemtsma fast bei Arno Schmidt) … Gérard Genette hatte irgendwo geschrieben, manchmal könne ein Künstler, wie man wisse, die stimulierenden Nachteile des Zwangs den sedativen Kräften der Freiheit vorziehen …
Er setzte sich in eine Bar in der Nähe des Ankunftsbereichs, trank ein kleines Fläschchen Rotwein und beobachtete die Leute um sich herum, Einheimische und welche aus dem Norden in verschiedenen Stadien der Hektik, auch schöne junge Frauen, aber die häßlichen, fetten Alten – »überdies waren die Formen des Körpers etwas über das Üppige heraus verüppigt«, wie dies der verständige Hund Berganza etwas höflicher umschrieben hätte – und die obszön rüstigen Alten und die Prolls überwogen. Kaum ein Mensch, der nicht tätowiert war …


* Hier nur kurz eine schöne Phrase aus Der Sürrealismus: »Alles, womit er (der Sürrealismus) in Berührung kam, integrierte sich. Das Leben schien nur lebenswert, wo die Schwelle, die zwischen Wachen und Schlaf ist, in jedem ausgetreten war, wie von Tritten massenhafter hin und widerflutender Bilder, die Sprache nur sie selbst, wo Laut und Bild und Bild und Laut mit automatischer Exaktheit derart glücklich ineinandergriffen, daß für den Groschen ›Sinn‹ kein Spalt mehr übrigblieb. Bild und Sprache haben den Vortritt. Saint-Pol-Roux befestigt, wenn er gegen Morgen sich zum Schlafe niederlegt, an seiner Tür ein Schild: Le poète travaille.« (Walter Benjamin, Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz; in: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1982, Bd. 2, S. 296f.) … Hatten wir die letzte Passage nicht bereits einmal zitiert? … … …: ja, hatten wir vgl. oben. Aber »daß für den Groschen ›Sinn‹ kein Spalt mehr übrigblieb«, dies, so nahm er sich vor, würde er sich merken und bei nächster Gelegenheit irgendwo zitieren.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IX [Der zweite Besuch der Frau], 20. Dezember 2013 bis 6. Januar 2014).

Samstag, 19. Dezember 2015

Donnerstag, der 19. Dezember 2013


[79 / 245]
… und Hans Köberlin als Ästhet sah den Klerus lieber häßlich denn feist.*
Hans Köberlin legte sich wieder ins Bett und schrieb dort ein wenig und las ein wenig im Ulysses, wie gesagt, im neunten Kapitel, in der Bibliothek …: »The beautiful ineffectual dreamer who comes to grief against hard facts.« Ja, ja, das war er … Bei einer seiner früheren Lektüren in der Ausgabe von Goyert hatte er auf der Seite 216 eine von Stephen Dedalus gemachte Äußerung angestrichen: »Ein Genie begeht keine Fehler. Seine Irrtümer entspringen seinem Willen und sind die Tore der Erkenntnis.« Oder wie es im Original hieß: »A man of genius makes no mistakes. His errors are volitional and are the portals of discovery.« Er konnte nicht mehr nachvollziehen, warum er sich diesen etwas markigen Satz angestrichen hatte. Er huldigte doch keinem Genienkult und glaubte auch an die fatale Wirksamkeit von Fehlern, Fehlern, aus denen man nichts lernen konnte, sondern die einen in Sackgasen führten oder untilgbare Stacheln in der Erinnerung waren …: nein, ein Genie war der, der es geschafft, daß seine Fehler nicht als solche betrachtet wurden, man mußte das vom Werk aus betrachten, der Entscheidung und dem Urteil des Rezipienten, und nicht vom Schöpfer, der Autor war tot.


* 1997 erinnerte die Abbildung eines Filmplakats an William Cameron Menziesʼ Adaption von H. G. Wells Things to Come aus dem Jahre 1936. Hans Köberlin hatte diesen Science-Fiction-Film einmal gesehen, als ein Freund ihn im Raum der Arbeitsgruppe ›menschen formen‹ vorgeführt, hatte aber bloß noch eine verschwommene Vorstellung …: es gab drei Phasen: die Vernichtung, dann der rational-technische Neuanfang, der auf eine Diktatur hinauslief, und schließlich eine Revolution, an deren Ausgang Hans Köberlin keine Erinnerung mehr hatte. Laut Borges hatte sich Wells von dem Film distanziert, weil er »The Dictatorship of the Air« nicht als so monströs dargestellt sehen wollte, wie sie im Film erschien (vgl. Jorge Luis Borges, Von Büchern und Autoren. Rezensionen, Essays, Biogramme 1936-1939; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Frankfurt am Main 1993ff., Bd. 4, S. 34f.). Und 1996 sah man auf dem Kalenderblatt, wie der Regisseur Ernst Marischka (in den körperlichen Dimensionen des späten Orson Welles) während der Dreharbeiten zu Sissi – Die junge Kaiserin (1956) Romy Schneider, die sich vorbeugte (wohl um ihr Kostüm nicht zu bekleckern) und brav ihren Mund öffnete, mit irgendeiner Süßspeise fütterte. Fast hätte dieses Bild wegen seiner hintergründigen Frivolität und Romy Schneiders bloßen Schultern und ihrem Dekolleté seinen Platz an Hans Köberlins Schlafzimmerwand gefunden, aber nur fast …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).

Freitag, 18. Dezember 2015

Mittwoch, der 18. Dezember 2013


[78 / 246]
Hans Köberlin saß also auf der anderen Dachterrasse und las und schrieb. Wie man sicher bereits bemerkt hat, scheute er sich, für seine Tätigkeit den Begriff ›Arbeit‹ zu verwenden, obwohl er es hätte tun müssen, um seinen Zustand vor sich zu legitimieren. Aber der Begriff ›Arbeit‹ hatte in Hans Köberlins Weltbild seine Unschuld verloren und er benutzte ihn bloß noch in ökonomischen Kontexten (= Brotarbeit). Außerdem machte er das, was er machte, mit großer Lust, auch wenn es manchmal anstrengend war …
Irgendwann klingelte der Briefträger und warf, als Hans Köberlin nicht schnell genug von der anderen Dachterrasse herunterkam, das für den Briefkasten viel zu große Couvert einfach über das Tor. Es war Hans Köberlins Exemplar von Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius. So kam also der dritte Bericht über die seltsamen Abenteuer ramponiert und mit einer Delle in der linken unteren Ecke bei ihm, dem unbenannten Herausgeber und Kommentator der letzten Fragmente, an, vielleicht irgendwie symptomatisch, sagte er sich.
»Es steht nirgendwo geschrieben, daß alle Menschen ihr Leben so führen müssen, daß sie zu sorgfältig gebundenen Büchern geraten.«*
Außerdem gab es – im Briefkasten – zwei Liebesgrüße von der Frau. Er ging mit der Post wieder auf die andere Dachterrasse. Sein erster Gedanke, als er das Buch ausgepackt hatte, war, darauf einen zu trinken, aber es war noch nicht einmal drei Uhr. Dann dachte er, soetwas wolle er auch noch einmal machen und zu einem Ende bringen. »Ein guter Mensch sein oder ein gutes Buch schreiben …: ist diese Alternative tatsächlich notwendig?« Zuerst schaute er natürlich, wie das Bild auf Seite 356 geraten war …: gut!** Wind kam auf, er ging also in keine Bar, sondern zu einem Ingwercocktail in den leeren Wintergarten an den Tisch dort, der nichts mit Striptease zu tun hatte.


* Peter Sloterdijk und Thomas Macho, Gespräche über Gott, Geist und Geld, Freiburg / Basel / Wien 2014, S. 45.
** »Wenn noch ein Messias geboren würde, so könnte er kaum so viel Gutes stiften, als die Buchdruckerei.« (Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher; in: Schriften und Briefe, München 1968ff., Bd. 2, S. 224).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).

Donnerstag, 17. Dezember 2015

Dienstag, der 17. Dezember 2013


[77 / 247]
Noch im Bett las er – dabei immer wieder Passagen in seinen drei Ausgaben vergleichend – das achte Kapitel des Ulysses zuende und erlebte, dessen Kummer aus eigener Erfahrung mitfühlend, wie Mr Bloom auf Schritt und Tritt mit dem Namen und sogar mit der Fresse von Blazes Boylan konfrontiert wurde.* Manche Gesten und Handlungen Mr Blooms kannte Hans Köberlin von sich selber, etwa wie der das erste Lokal betrat, dort aber nicht bleiben wollte und deshalb so tat, als suche er jemanden und fände ihn nicht. Oder als er so tat, als durchwühle er seine Taschen, um Blazes Boylan den Eindruck zu vermitteln, er sehe ihn nicht. Und anschließend las Hans Köberlin, was Nabokov über das achte Kapitel geschrieben hatte. Über Finnegans Wake, hatte der, nur nebenbei bemerkt, bemerkt, dies sei ein Buch wie ein kalter Pudding, ein ständiges Schnarchen im Zimmer nebenan …: nun: Hans Köberlin mochte Nabokov und verehrte die Anstrengungen, die Finnegans Wake als Folge gehabt hatten, denn das Haus seiner Musen hatte viele Zimmer nebenan.
Während des Frühstücks kam ein leichter Fatalismus auf. Ein Gang nach draußen und auf die hintere (also nicht die andere) Dachterrasse half.


* Wir bringen schon einmal, bevor er seine Lektüre fortsetzt, Gilberts Schema zum neunten Kapitel …

Bezeichnung Schauplatz Zeit Organ Farbe Symbol Kunst Technik
Skylla & Charybdis Bibliothek 14 Uhr Gehirn Stratford / London Literatur Dialektik

Skylla und Charybdis sollten Hans Köberlin am Freitag, dem 8. Mai 2015, also 70 Jahre nach Kriegsende, nochmals begegnen, als er da nämlich mit der Lektüre von Stefano D’Arigos wunderbarem Roman Horcynus Orca begann, ein Beispiel dafür, daß es selbst für einen 55jährigen Hans Köberlin immer noch literarische Meisterwerke zu entdecken gab.
Apropos Farbe: das von früheren Lektüren erinnerte Bild, das Hans Köberlin imaginierte, wurde von Brauntönen dominiert.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).

Mittwoch, 16. Dezember 2015

»Die Geschichte, die im Schatten entstand, endet im Schatten.«

Ich vermute, die Glückseligen im Himmel sind der Auffassung, die Vorteile dieses Etablissements seien von den Theologen, die nie dort gewesen sind, übertrieben worden. Vielleicht sind die Verdammten in der Hölle nicht immer glücklich.

(Jorge Luis Borges, Das Duell; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 13: Spiegel und Maske. Erzählungen 1970-1983, Frankfurt am Main 1993, S. 59).

Montag, der 16. Dezember 2013


[76 / 248]
Noch im Bett las er, was André Breton in seiner Anthologie über das Ende Baudelaires geschrieben, nämlich das jener sich im Spiegel betrachtet, sich aber nicht wiedererkannt und deshalb gegrüßt habe. Baudelaires letzte Worte, mit denen er ein mehrere Monate langes Schweigen gebrochen, habe er bei Tisch geäußert, indem er auf das einfachste von der Welt darum gebeten, man möge ihm den Senf reichen. Man sollte, dachte sich Hans Köberlin, letzte Worte parat haben, damit man nicht kalt erwischt würde und dann bloß nur noch fluchen würde oder jammern würde oder »Ich will nicht!« schreien würde.* Es wäre schön, wenn man in Würde aus der Welt gehen würde. Hans Köberlin gab zu, daß »Kann ich mal bitte den Senf haben?« einer gewissen Würde nicht entbehrte … Hans Köberlin, der – wie Clemens Limbularius – immer gesagt hatte, wenigstens seinen Tod wolle er bewußt erleben,** Hans Köberlin also fielen jetzt keine passenden letzten Worte für sich ein und er stand deshalb auf und zog sich an und aktualisierte den Filmkalender. Lee Van Cleef hatte Todestag (†1989), deshalb sah man ein Still aus High Noon, nicht einen Still von seinem Nebenrollen-Showdown mit Gary Cooper, sondern einen Still von dem mit sich selber ringenden Gary Cooper und der verzweifelten Grace Kelly, die sich an den mit sich selber ringenden Gary Cooper drückte, und im Hintergrund die andere, titelgebende Protagonistin des Film, nämlich die große Standuhr, kurz bevor sie zwölfmal schlagen würde …*** Des weiteren, so erfuhr man, war am gleichen Tag wie Lee Van Cleef Silvana Mangano gestorben, wir hatten sie oben zu Beginn des vierten Kapitels bereits kurz im Kontext von Riso amaro erwähnt, wenn auch nur implizit …: es war nämlich wegen ihrer – wenn auch leider nur verhüllt – gezeigten Brüste, daß im Land von Hans Köberlins Herkunft ›Bitterer Reis‹ geraume Weile als Synonym für überproportionierten Busen galt.**** – Und wo wir gerade bei den unendlich verschieden wunderbaren Ausformungen von weiblichen Brüsten, die uns an das Gute in der Welt glauben lassen, sind: am 16 Dezember 1962 – da war Hans Köberlin bereits 2½ Jahre alt gewesen, war Maruschka Detmers geboren worden.


* »I must sleep now«, soll Byron gesagt haben.
** Siehe vom Verf. HannaH & SesyluS oder Eine Reise aus der Welt in drei Tagen, Berlin 2. ein wenig verbesserte Auflage 2012, S. 58.
*** Hier der Song dazu …
Do not forsake me, oh, my darlin’:
You made that promise as a bride.
Do not forsake me, oh, my darlin’.
Although you’re grievin’,
don’t think of leavin’,
Now that I need you by my side.
**** Dieser traurige Anlaß – der Tod einer Frau, die uns in ihrer Jugend während unserer Jugend (und auch jetzt noch, wenn wir uns den Film anschauen) erregte und von einem guten Sein träumen ließ – bietet uns Gelegenheit, wieder einmal aus Georg Seeßlens Ästhetik des erotischen Films zu zitieren: »Silvana Mangano verkörpert auch in ihren weiteren Filmen (nach Riso Amaro) die vital erotische Frau, deren Lebenshunger in Widerstreit zu den Begrenzungen ihrer Umwelt gerät. Freilich, sozialkritische Intentionen lagen diesen Filmen meistens fern. Sie waren oft nicht mehr als ein Vehikel für die Präsentation des Stars in engen Pullovern und kurzen Hosen, die italienische Version der Pin-up-Kleidung. Silvana Manganos Tanz-Szenen erinnerten so sehr an die Darbietungen der amerikanischen Pin-up-Stars, wie ihre ganze Erscheinung deren Einfluß verriet. (Als ›Italiens Antwort auf Rita Hayworth‹ wurde sie auch bezeichnet.) Doch im Unterschied zu den amerikanischen Stars des Genres war der Vorwand für die Überbetonung des Sex-Appeals in Filmen wie Anna (Alberto Lattuada, 1951) oder Mambo (Robert Rossen, 1955) aus einem realistischen Hintergrund heraus entwickelt. Sie ist das proletarische Pin-up-Girl (in Mambo ist sie eine Arbeiterin, die zur berühmten Tänzerin aufsteigt) und eine kurze, scheinhafte Alternative zu einem häuslichen Glück in der bedrückenden Enge der Vorstädte und Dörfer.« (Georg Seeßlen, Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Marburg 3. Auflage 1996, S. 78).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).

Dienstag, 15. Dezember 2015

»Die Kunst ist das Aschenputtel, das zu Hause blieb, weil es so sein mußte.«

303 17. 1. 1932

Die Welt gehört dem, der nicht fühlt. Die Grundvoraussetzung, um ein praktischer Mensch zu werden, ist ein Mangel an Sensibilität. Die beste Vorbedingung für die Praxis des Lebens ist die Triebkraft, die zum Handeln führt, das heißt der Wille. Nun gibt es aber zwei Dinge, die das Handeln beeinträchtigen – die Sensibilität und das analytische Denken, das letztlich nichts anderes ist als ein Denken mit Sensibilität. Jedes Handeln ist seiner Natur nach die Projektion der Persönlichkeit auf die Außenwelt und, da die Außenwelt zur Hauptsache von menschlichen Wesen bestimmt wird, folgt daraus, daß diese Projektion der Persönlichkeit vor allem bedeutet, daß wir uns auf dem Weg unserer Mitmenschen quer legen, ihn hinderlich gestalten und sie je nach Art unseres Vorgehens verletzen und erdrücken.
Zum Handeln gehört folglich eine gewisse Unfähigkeit, sich die Persönlichkeit anderer, ihre Leiden und Freuden vorzustellen. Wer Sympathie empfindet, kommt nicht weiter. Der Mensch der Tat betrachtet die Außenwelt als ausschließlich aus träger Materie zusammengesetzt – als träge in sich selbst wie ein Stein, über den er hinweggeht oder den er aus seinem Weg. räumt; oder träge wie ein menschliches Wesen, das, da es ihm nichts entgegenzusetzen vermochte, sowohl ein Mensch wie ein Stein sein kann, denn er räumt es wie einen Stein beiseite oder geht darüber hinweg.
Das beste Beispiel eines praktischen Menschen ist der Stratege, da sich in ihm äußerste Konzentration des Handelns und größte Wirksamkeit zusammenfinden. Das ganze Leben ist Krieg, und die Schlacht ist mithin die Synthese des Lebens. Nun aber ist der Stratege ein Mensch, der mit Menschenleben spielt wie der Schachspieler mit Schachfiguren. Was würde aus dem Strategen, wenn er daran dächte, daß jeder Zug seines Spiels Nacht in tausend Familien trägt und Leid in dreitausend Herzen? Was würde aus der Welt, wenn wir menschlich wären? Wenn der Mensch wirklich fühlte, gäbe es keine Zivilisation. Die Kunst dient der vom Handeln zwangsläufig vergessenen Sensibilität als Zuflucht. Die Kunst ist das Aschenputtel, das zu Hause blieb, weil es so sein mußte.
Jeder Mensch der Tat ist seinem Wesen nach lebhaft und optimistisch, weil glücklich ist, wer nicht fühlt. Einen Mann der Tat erkennt man daran, daß er nie schlechtgelaunt ist. Wer arbeitet, obwohl er schlechtgelaunt ist, ist ein Handlanger des Handelns; er mag im Leben, im großen Allgemeinen des Lebens ein Buchhalter sein, wie ich es in meinem besonderen bin; er kann nicht Herrscher über Menschen und Dinge sein. Zur Herrschaft gehört Fühllosigkeit. Es herrscht wer heiter ist, denn um traurig zu sein, muß man fühlen.
Chef Vasques schloß heute ein Geschäft ab, bei dem er einen kranken Mann und seine Familie ruiniert hat. Während des Vorgangs vergaß er völlig, daß da ein Mensch vor ihm saß, er sah nur den kommerziellen Widersacher. Als das Geschäft abgeschlossen war, überkam ihn die Sensibilität. Erst dann natürlich denn hätte Sie dies schon vorher getan, wäre das Geschäft nie zustande gekommen. »Der Kerl tut mir leid«, sagte er zu mir. »Das geht nicht lange gut.« Dann steckte er sich eine Zigarre an und fügte hinzu: »Jedenfalls, wenn er etwas von mir brauchen sollte« – er meinte ein Almosen – »werde ich nicht vergessen, daß ich ihm ein gutes Geschäft verdanke und etliche zehntausend Escudos.«
Chef Vasques ist kein Unmensch: er ist ein Mann der Tat. Wer immer bei diesem Spiel den kürzeren zieht, kann tatsächlich – denn Chef Vasques ist ein großzügiger Mensch – in der Zukunft mit seinen Almosen rechnen.
Wie Chef Vasques sind alle Männer der Tat: Industrie- und Handelsbosse, Politiker, Militärs, religiöse und gesellschaftliche Idealisten, große Dichter und Künstler, schöne Frauen und Kinder, die nur das tun, was sie wollen. Es befiehlt, wer nicht fühlt. Es siegt, wer nur an das denkt, was er zum Siegen braucht. Alles übrige, die unbestimmte allgemeine Menschheit, gestaltlos, sensibel, phantasievoll und zerbrechlich, ist nur der Vorhang im Hintergrund, vor dem sich diese Figuren auf der Bühne abheben, bis das Marionettentheater endet, der quadratförmig angeordnete Untergrund, auf dem die Schachfiguren stehen, bis sie der Große Spieler einsteckt, der, indem er sich mit einer Doppelpersönlichkeit austrickst, immer gegen sich selbst spielt und dabei seinen Spaß hat.

(Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 296ff.).

Sonntag, der 15. Dezember 2013


[75 / 249]
Er frühstückte auf der anderen Dachterrasse, dann vertrieb ihn aber der Wind und er las – vor allem im Ulysses, wobei er fast alles um sich herum vergaß* – und schrieb im leeren Wintergarten, und er tat dies bis zum Abendessen.
Hans Köberlin hatte sich für heute eine Lubina gekauft. – Wir haben vor ein paar Tagen berichtet, wie die nonverbale Kommunikation mit dem Fischverkäufer ablief, damit der, glückte die nonverbale Kommunikation, das Tier bloß entschuppte und ausnahm, aber nicht auch enthauptete; nun, gestern, als Hans Köberlin die Lubina kaufte, da war eine Fischverkäuferin da, und ehe Hans Köberlin einschreiten konnte, hatte sie – schnipp! wie Philine** – mit ihrer großen Schere dem Fisch den Schwanz abgeschnitten … Nun ja: wie hätte man das, fragte sich Hans Köberlin, das, daß man das nicht wollte, auch auf schickliche Weise nonverbal kommunizieren sollen …? – Hans Köberlin konnte sich gut vorstellen, daß der Fischverkäufer vom Schwanzabschneiden nicht viel hielt, aber warum war er so darauf versessen, den Kopf abzuschneiden? Ein kleiner verhinderter Robespierre? Die Brüder hatten irgendwo berichtet, daß ihnen ein Seefahrer erzählt habe, auf seinem Schiff habe man während jener Jahre eine kleine Guillotine gehabt, um die Hühner zu köpfen …


* James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 146 …
Cityful passing away, other cityful coming, passing away too: other coming on, passing on. Houses, lines of houses, streets, miles of pavements, piledup bricks, stones. Changing hands. This owner, that. Landlord never dies they say. Other steps into his shoes when he gets his notice to quit. They buy the place up with gold and still they have all the gold. Swindle in it somewhere. Piled up in cities, worn away age after age. Pyramids in sand. Built on bread and onions. Slaves. Chinese wall. Babylon. Big stones left. Round towers. Rest rubble, sprawling suburbs, jerrybuilt, Kerwan’s mushroom houses, built of breeze. Shelter for the night.
No one is anything.
Der Punkt zwischen »Slaves« und »Chinese wall« ist von uns, wir folgen da Wollschläger, denn Goyerts »Sklaven chinesische Mauer.« klingt uns abstrus. – Jedenfalls, wenn Nabokov schrieb, der dem geistigen Mittelmaß zuzurechnende Bloom sei weniger künstlerisch veranlagt als Stephen, habe aber weit mehr vom Künstler an sich, als die Kritiker bemerkt hätten (vgl. Vladimir Nabokov, Die Kunst des Lesens. Meisterwerke der europäischen Literatur. Jane Austen – Charles Dickens – Gustave Flaubert – Robert Louis Stevenson – Marcel Proust – Franz Kafka – James Joyce, hrsg. von Fredson Bowers, Frankfurt am Main 1991, S. 355), so würde Hans Köberlin noch weitergehen: Mr Bloom war kein mittelmäßiger Geist, und was ihn von Stephen Dedalus unterschied, das war die Ausbildung. Und es ging auch eher um das Denken denn um die Kunst. Auf jeden Fall war Mr Bloom Hans Köberlins Mann. C. P. M’Coy sollte ihn im übernächsten Kapitel angesichts der Impertinenz Lenehans verteidigen: »He’s a cultured allroundman, Bloom is, he said seriously. He’s not one of your common or garden … you know … There’s a touch of the artist about old Bloom.« (dass., S. 211).
** Natürlich Goethens …
Philine brachte ein paar allerliebste Kinder mit und zeichnete sich, bei einer einfachen, sehr reizenden Kleidung, aus durch das Sonderbare, daß sie von blumig gesticktem Gürtel herab an langer silberner Kette eine mäßig große englische Schere trug, mit der sie manchmal, gleichsam als wollte sie ihrem Gespräch einigen Nachdruck geben, in die Luft schnitt und schnippte und durch einen solchen Akt die sämtlichen Anwesenden erheiterte; worauf denn bald die Frage folgte: ob es denn in einer so großen Familie nichts zuzuschneiden gebe?
Diese Domestizierung in Wilhelm Meisters Wanderjahre in ein Hausmütterchen, das hatte die sinnliche Philine der Lehrjahre
Nach einer kurzen Zeit (…) schlenderte Philine singend zur Haustüre heraus, setzte sich zu ihm, ja man dürfte beinahe sagen, auf ihn, so nahe rückte sie an ihn heran, lehnte sich auf seine Schultern, spielte mit seinen Locken, streichelte ihn und gab ihm die besten Worte von der Welt. Sie bat ihn, er möchte ja bleiben (…) Vergebens suchte er sie abzuweisen, ihr begreiflich zu machen, daß er länger weder bleiben könne noch dürfe. Sie ließ mit Bitten nicht ab, ja unvermutet schlang sie ihren Arm um seinen Hals und küßte ihn mit dem lebhaftesten Ausdrucke des Verlangens. »Sind Sie toll, Philine?«
nicht verdient.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).

Montag, 14. Dezember 2015

Samstag, der 14. Dezember 2013


[74 / 250]
Als Hans Köberlin seinen Filmkalender aktualisierte, sah er anläßlich Eva Mattes’ Geburtstag (im Jahre 1954)* einen Filmstill mit Margit Carstensen und Hanna Schygulla aus Fassbinders Die bitteren Tränen der Petra von Kant (1972), Untertitel: ein Krankheitsfall. Daß ihn Hans Köberlin gesehen hatte – zweimal, wie er sich zu erinnern glaubte – fiel entweder in eine aufzeichnungsfreie Zeit oder in die Zeit, deren Aufzeichnungen verlorengegangen sind, denn er tauchte oben in unserer Zusammenstellung nicht auf. Es war, was wir nicht so im Gedächtnis gehabt hatten, quasi eine Theaterverfilmung (Einheit des Ortes und das Drama in verschiedene Akte aufgeteilt), seltsam »gewidmet dem, der hier Marlene wurde«. Es tauchte kein Mann in dem Stück auf, und wenn man es übertrug, dann hatte sich Fassbinder bestimmt nicht in der von Irm Hermann gespielten Dienerin – die ausgerechnet ›Marlene‹ hieß** und sich erst am Ende emanzipierte und die ihre Herrin verließ, als diese so verzweifelt einsam war, daß sie sogar sie, die zuvor permanent gedemütigte, zu ihrer Geliebten machen wollte – porträtiert, sondern in der Titelfigur … seltsam, wie gesagt, die einschlägige Literatur würde bestimmt Aufklärung geben, hätte man die zur Hand.*** Die Identifikationen und die Sympathien wechselten, genauso wie die Haltungen zur Realität bei den Protagonisten. Petras Verzweiflung, nach dem Karin sie verlassen hatte, kannte man vom eigenen Leib. Von Schwächen und lieben …****
Zu Beginn des Stücks lernte man eine Petra kennen, deren Ehe gescheitert war und die das als Erfahrung verbuchen wollte – immer dieser Zwang, auf gute Seiten an Katastrophen sehen zu wollen! –, und zurecht warf ihre Freundin Sidonie ein: »Ich weiß nicht, Petra, aber wenn das Ende schon am Anfang abzusehen ist, ist die Erfahrung dann viel wert?« – Andererseits: müssen sich die Muster wiederholen? Es war hier nur deswegen abzusehen, wie Petras Geschichte mit Karin verlaufen würde, weil man wußte, daß das Stück von Fassbinder war, und bei dem gab es, abgesehen von wenigen Ausnahmen, keine glücklichen Liebesbeziehungen.
»Und in der Realität?«
Petra von Kant machte ihrem Namen alle Ehre …
Petra: »Erzählen Sie von sich … was Sie denken … was Sie träumen …«
Karin: »Wenig … Ich möcht einen Platz haben in der Welt. Ist das zuviel verlangt?«
Petra: »Nein, im Gegenteil, Karin, im Gegenteil, das ist es, wofür man lebt, sich einen Platz zu erkämpfen.«
Karin: »Muß man kämpfen?«
Petra: »Gewiß, auch ich habe kämpfen müssen.«
Karin: »Ich habe immer gedacht, ich sei zum Kämpfen zu faul.«
Aber die Kehrseite von (Petra von) Kants ›Du mußt müssen wollen!‹, das hier durchklang, war …
Karin: »Soll ich dich anlügen?«
Petra: »Bitte lüg mich an!«
Es war, was die Dramaturgie und die Kameraführung und das Artifizielle betrifft – wie immer bei RWF – meisterhaft inszeniert. Die damals 17-jährige Eva Mattes spielte übrigens Petras auf ein Internat abgeschobene Tochter.


* Aus dem gleichen Anlaß zeigte das Blatt vom Vorjahr sie als Prousts Dienerin Céleste in Percy Adlons gleichnamigen Film aus dem Jahr 1980. – Céleste hieß, nur nebenbei bemerkt, auch eine am 3. Mai 1972 in Stillwater / Minnesota geborene Pornodarstellerin, die es – nach ihren Anfängen als Ausziehtänzerin – auf ein umfangreiches filmisches Œuvre gebracht hatte.
** »Nimm dich in acht vor blonden Frau’n …«
*** Am Freitag, dem 23. Januar 2015, sollte Hans Köberlin, finanziell kurz vor dem Kollaps und den Fiskus im Nacken, lesen, daß laut Kurt Raab und Harry Baer Peer Raben mit Marlene gemeint gewesen sei.
**** Bertolt Brecht, Schwächen; in: Gesammelte Werke, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1967, Bd. 10: Gedichte 3, S. 968:
SCHWÄCHEN

Du hattest keine
ich hatte eine:
ich liebte.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).

Sonntag, 13. Dezember 2015

Freitag, der 13. Dezember 2013


[73 / 251]
Unterwegs hatte er ein Bild des Peñón de Ifach vor einer beeindruckenden Wolkenkulisse, dann ein Bild eines dieser Gleitschirmflieger (er kannte sich da, in den von denen, die dies betrieben, verwendeten Bezeichnungen nicht aus), der mutig zwischen den Hochhäusern hin- und herflog, und, später dann auf dem Heimweg, noch ein Bild der bereits bekannten Felsen an dem Strand hinter der Hafenmole, diesmal in einem noch nicht gesehenen Licht, auf seinem Taschentelephon digital abgespeichert. Als er sich an zuhause dies Dreierreihe auf dem Monitor seines großen Laptops anschaute, assoziierte er, ausgehend von dem mittleren Bild, den Titel eines Romans von Raimond Queneau, und weil es drei waren einen Untertitel von Godard (wo es allerdings zwölf gewesen waren) denkend …: Le Vol d’Icare en trois tableaux. Ikaros, der Sohn von Daidalos … Stephen und Simon … Sie tauchten in dem Kapitel, bei dem Hans Köberlin gerade war – Laistrygonen –, nicht auf, aber im nächsten sollte Stephen in der Bibliothek über Shakespeare diskutieren. Jetzt gönnte sich Ms Bloom ein Gläschen Burgunder.
Und die Brüder heute vor 156 Jahren …
Uchard führt uns um Mitternacht in ein Haus, in dem wir, wie er uns versichert, gewiß gut empfangen werden, mit einem Wort in das bekannteste Bordell von Paris, La Farcy, jetzt Élisa. Das also ist das kleine Paradies, von dem die Botschaftsattachées wie von einem Traum aus Tausendundeiner Nacht sprechen! Der Salon ist der Salon eines Zahnarztes. Geblümte granatrote Tapete an den Wänden, die Divane aus rotem Samt, die Portieren aus rotem Baumwollsamt, drei ovale Spiegel mit vergoldeten Rahmen, mit dem Gartenmesser im Blindenhospital geschnitzt, mit zwei mehrarmigen Kerzenhaltern. Auf einem Kaminsims zwei Kandelaber und eine Pendeluhr: ein junger Mann, der eine Ziege füttert, Bronzeimitat aus Zink; und sodann, gleichsam an die Decke gespuckt, die sehr niedrig ist, ein Rosenkranz: eine Krone aus Blumen und zwei Amorfiguren in der Mitte. Zehn kunterbunte Frauen – blau, rot, weiß, gelb – liegend, sich suhlend, gestrandet auf dem Divan mit den Koketterien von Kühen und den kleinen Tremolos ihrer kleinen roten Stöckelschuhe. Eine einzige Frau liest: Les Contes sans prétention von Albéric Second. – Die Konversation besteht darin: »Weißt du, ja du, warum die jungen Mädchen die gotische Architektur nicht mögen? – Oh! Ach! Oh! Ach! – Nun, weil sie die allzu gotischen Steifen nicht mögen.«
Alle umringen einen, aber das kostet einen ein Sodawasser. Alle küssen einen: ein Sodawasser! Alle lecken einen: ein Sodawasser! Es gibt welche, die einen mit Bewunderung umgeben: »Was für eine schöner Mann er ist!« Das kostet einen nur ein Sodawasser!
Das ist sie, hier ist sie, diese dümmliche Ausschweifung, das Vergnügen und der Exzeß der ganzen eleganten, wohlerzogenen, ja sogar intelligenten Jugend!
Ich gehe in ein Zimmer hinauf: es ist ein sehr schlechtes Herbergszimmer aus einer Stadt, wo keine Postkutschen mehr durchfahren.
Zugegebenermaßen sind die Männer nicht sehr heikel bezüglich der Inszenierung ihres Vergnügens. Zugegebenermaßen fordern sie keine großartige Sauce für ihren Genuß! Also! nichts als dieses schmutzige Logierhaus mit Service für die Sinne des XIX. Jahrhunderts! Kein Palast, keine Blumen, keine Wasserspiele, keine Féerien, keine in Gazewolken gehüllten Frauen, keine Gemälde, keine Thermalbäder, alles, was die Sinne der Antike einlud, sie lockte, sie bezauberte, all diese Kunst, großartige Statistin an der Tür zum antiken Freudenhaus! Also, wenn morgen Montmartre vesuvierte und man Paris ausgraben würde wie Pompeji, oh! Erstaunen, wenn aus der Asche der Priapeion der Rue Joubert hervorkäme! Es würde die Nachwelt glauben lassen, wir wären ein Volk von Türstehern gewesen, die Tellerwäscherinnen in der Dekoration und dem Mobiliar eines Paul-de-Kock-Romans rammelten.*
Interessant neben der plastischen Schilderung des Etablissements ist der verfremdende Perspektivwechsel am Ende, der Blick aus der Zukunft auf die eigene Gegenwart – heute ein Allgemeinplatz,** aber: wann kam man darauf – oder genauer: wann konnte man darauf kommen, solches zu imaginieren? Wir meinen jetzt nicht bloß die Möglichkeit zu einer proleptischen Analepse, sondern die spezifisch archäologische Perspektive auf die Gegenwart, die imaginierte Rekonstruktion der eigenen Zeit, vorgenommen von den künftigen …


* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 1, S. 568ff. Auch Molly Bloom wollte einen Roman von ihm aus der Leihbibliothek: »Get another of Paul de Kock’s. Nice Name he has.« (James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 57).
** Von Ludwig Hirsch gab es so ein Lied, in dem es darum ging, daß außerirdische Archäologen nach dem Untergang der Menschheit auf die Erde kämen und in einem ehemaligen Disneyland Ausgrabungen machten und Micky Mouse, Goofy, Donald Duck et cetera für die Erdenbewohner hielten.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).

Samstag, 12. Dezember 2015

Ein später Gast

Donnerstag, der 12. Dezember 2013


[72 / 252]
»… Laufe nicht. Eine Formulierung von Eva Geulen aus dem September-Merkur im Kontext einer erschienenen Biographie Derridas: ›die Qualität der Gegenstände erwies sich an der Komplexität der Lektüren, die sie zuließen und forderten.‹«
So könnte man die Beschreibung des ersten Eindrucks von diesem Tag in Hans Köberlins Arbeitsjournal lesen, wären die Schriften post Puglia der öffentlichen Lektüre zugänglich. Und weil unser Protagonist der Ansicht war, das aktuelle Bild des Filmabreißkalenders sei einer Archivierung nicht wert (und im Jahr zuvor wohl auch schon der Ansicht gewesen war), greifen wir uns aus seiner Filmkalenderblattsammelkiste das Filmkalenderblatt aus dem Jahr 1997 und sehen dort Peter Lorre – den wir schon in Fritz Langs M gesehen haben –, bereits leicht derangiert am Spieltisch in … Casablanca. Zu dem Film, dessen Handlung an diesem Ort angesiedelt ist, muß man nichts sagen außer, daß dessen Drehbuchautor Howard Koch am 12. Dezember 2013 geboren worden war. Manchmal sparte das Leben einem schöne Momente für passende Gelegenheiten auf …: die Frau hatte es tatsächlich irgendwie geschafft, Michael Curtiz’ B-Movie-Klassiker noch nie zu sehen, und so konnte Hans Köberlin sich darauf freuen, ihr irgendwann einmal bei ihrem ersten Sehen von Casablanca in die Augen zu schauen …*
Über diesen 12. Dezember 2013 gab es nicht viel zu berichten, denn es war für Hans Köberlin – was das Lesen und das Schreiben betraf – der produktivste Tag seit er hier war. Und was kann man über einen in der Sonne sitzenden lesenden und schreibenden Mann schon viel sagen? – »Viel!« werden einige sagen. – Nun gut, dann sollen sie. (Man merkt hier ein wenig das Abfärben von Kierkegaards Stil …)


* Geburtstag hatte noch der strukturalistische Filmwissenschaftler Christian Metz (*1931), von dem Hans Köberlin vor Jahren einiges gelesen, das meiste aber leider wieder vergessen hatte. Und Geburtstag hatte noch der Dokumentarfilmer Peter Heller (*1946), weshalb das Blatt von 1996 ein Still aus seinem Dokumentarfilm Usambara – Das Land wo Glaube Bäume versetzen soll (1980) zu sehen war.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).

Freitag, 11. Dezember 2015

Mittwoch, der 11. Dezember 2013



[71 / 253]
Hans Köberlin war auch in der vergangenen Nacht ein paarmal wach geworden und er fragte sich am Morgen des Mittwochs, des 11. Dezembers 2013: »Ist das, weil ich weniger Wein trinke (aber soviel weniger ist es doch garnicht) oder weil ich eine Grippe ausbrüte?« Haben wir bereits erwähnt, daß Hans Köberlin ein Hypochonder war? Und um zu verhindern, daß eine Erkältung ihn anflog, verzichtete er auf den Dauerlauf, zumal es bedeckt und windig war, und erntete nach dem Frühstück in seinem Garten Zitronen für seine Ingwercocktails.*


* Das aktuelle Filmkalenderblatt hatte Hans Köberlin nicht aufgehoben. Im Vorjahr gab es einmal wieder einen Chabrol, nämlich anläßlich Jean-Louis Trintignants Geburtstag (*1930) ein Still aus Les biches (1968), auf dem er etwas weidwund dreinschauend neben einer sehr aufreizenden, nur mit einem Slip und einem Schal (allerdings leider mit einem sehr großen) bekleideten Stéphane Audran, die ihn aufzuheitern versuchte. Chabrol hatte den Film mittels Zwischentitel in vier Teile unterteilt …
  1. Prologue,
  2. Frederique,
  3. Why und
  4. Epilogue.
Im Prolog las die reiche Frederique (Stéphane Audran) auf einer Seinebrücke in Paris die auf das Motiv einer bestimmten Hirschkuh spezialisierte Straßenmalerin Why (Jacqueline Sassard) auf. In dem nach ihr benannten Teil dann nahm Frederique Why mit auf ihr Anwesen an der Côte d’Azur (sie war die Erbin einer dort angesiedelten Schiffswerft), ließ sie an ihrem (größtenteils im eher schlechten Sinne) dekadenten Leben teilnehmen und spannte ihr den Architekten Paul (Jean-Louis Trintignant) aus. In dem nach Why benannten Teil lebten die drei zusammen auf dem Anwesen, nachdem Frederique auf untergründiges Insistieren Pauls und Whys hin ihre beiden Hofnarren weggejagt hatte, und im Epilog schließlich folgte Why Frederique und Paul nach Paris, tötete Frederique und nahm deren Identität, die sie zuvor bereits imitiert hatte, vollkommen an (wie das genau zu verstehen war und wie weit das gehen würde, will meinen, ob Paul da mitmachte, das ließ Chabrol offen). Der Film lebte von der sexuellen Spannung, die aufzubauen Chabrol – nicht gerade subtil, aber wirksam – gelang, zumindest für den gelang, der – wie Hans Köberlin – auf so etwas immer aus war. Frederique drängte es zu Why, die sich neutral oder etwas schnippisch verhielt, bis Paul auftauchte, mit dem Why eine Nacht verbrachte und der sie wohl auch entjungferte. Why wollte ihn wiedersehen, aber Frederique ließ sich von Paul zu dem Zeitpunkt verführen, an dem der mit Why verabredet war. Die beiden wurden ein Paar, und, nach Vertreibung der Hofnarren, als sich alle drei mit Cognac betrunken hatten, sah es für einen Moment so aus, als reiße sich Paul alle beiden Frauen unter den Nagel, aber Frederique klärte die Verhältnisse, indem sie Paul ins Zimmer zog, bevor der Why küssen konnte. Why, die sagte, sie liebe sie alle beide, beobachtete Paul und Frederique dann durch das Schlüsselloch beim erotischen Treiben im Schlafzimmer. Es herrschte eine uneingestandene Aggression zwischen dem Mädchen und der Frau, uneingestanden, weil sie ›offen darüber redeten‹, wie man so sagte …
»Es macht dir doch nichts aus, daß ich Paul liebe?«
»Nein, wirklich nicht, ich freue mich, daß ihr glücklich seid.«
Chabrols Film war auch eine Kritik des Redens über Beziehungen. Es war ein Kampf der beiden Frauen, zuerst innerhalb ihrer Beziehung untereinander und dann der beiden Frauen um Paul. Frederique kämpfte mit den Waffen einer weltgewandten Frau, die unerfahrene Why kämpfte durch Mimikry an Frederique, was am Ende so weit ging, daß sie, nachdem sie Frederique getötet hatte, mit deren Stimme Paul anrief. Das Bild, das Why als Vorbild für die Hirschkuh diente, die sie zu Beginn des Films auf die Straße malte, und das später über ihrem Bett hing und herunterfiel, als sie nach Paris fuhr, zeigte eine große grüne Hirschkuh von der Seite mit einer hohlen Bauchhöhle, in der eine kleine, identisch gebildete, Hirschkuh stand. Es klang mehrmals an, daß sich Why als die kleine Hirschkuh sah und sich nach der großen Hirschkuh, die sie in sich barg, sehnte.
Und Jean Marais – unsere Bête und unser Orpheus und unser Fantomas – hatte heute Geburtstag (*1913), und Anna Heywood (*1932), weshalb das Still sie 1997 zeigte, wie sie in The Fox (Mark Rydell, 1967) Sandy Dennis küßte, und Geburtstag hatte heute auch Rita Moreno (*1931), weshalb es diesmal ein Still aus West Side Story (1961) … »I’ve just met a girl named Maria …« – Aber das hatte Rita Moreno ja nicht gesungen, sie hatte gesungen (und auch dies Hans Köberlin aus dem Herzen) »I like to be in America …«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).

Donnerstag, 10. Dezember 2015

Dienstag, der 10. Dezember 2013


[70 / 254]
Und Edmond heute vor 124 Jahren …
Dienstag, 10. Dezember – Amüsant, die Ahnungslosigkeit der Journalisten. Der Erfolg des Buches Uranie von dem Astronomen Flammarion besteht in der Phantasie einer plötzlichen Versetzung in die Sterne, in dem Augenblick, da das helle Licht eines irdischen Ereignisses sie erreicht. Nun, diese Phantasie ist ganz und gar die von Carlyle, von dem ich, wie ich mich entsinne, einen in der Revue britannique übersetzten Artikel über Zeit und Raum gelesen habe, wo einem, auf den einen Planeten versetzt, das Schauspiel der Kreuzigung von Jesus Christus geboten wurde, oder auf einen anderen, das Schauspiel des Todes von Gustav Adolf … Aber wie sollte auch einer von ihnen Zeit zum Lesen haben!
Ich bin sehr versucht, ein Büchlein mit folgendem Titel zu schreiben: »Die Schwindeleien dieser Zeit«, ausgehend von der elektrischen Klingel, die nie funktioniert, bis zum allgemeinen Wahlrecht, das heute so gezinkt ist wie ein Kartenspiel vom Baron de Wormspire.*
Dann ging also jene Episode in Kurd Laßwitz’ Roman Auf zwei Planeten, in welcher die Marsianer während einer Gerichtsverhandlung die zur Verhandlung stehenden vergangenen Ereignisse rekonstruierten, indem sie die Reste von deren Lichtemission projizierten, wahrscheinlich auf die gleiche Quelle zurück …?**


* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 9, S. 259. Das war, wenn wir uns recht entsinnen, das erste Mal, daß wir die gleichen Wochentage haben …
** Auf ähnliche Theorien war man bereits ein paar Jahre zuvor gekommen: »24 avril [1865]. – Chez Magny. On cause de l’espace et du temps, et j’entends la voix de Berthelot, un grand et brillant imaginateur d’hypothèses, jeter ces paroles dans la conversation générale: ›Tout corps, tout mouvement exerçant une action chi-mique sur les corps organiques avec lesquels il s’est trouvé, une seconde, en contact, tout – depuis que le monde est – existe et sommeille, conservé, photographié en milliards de clichés naturels: et peut-être est-ce là, la seule marque de notre passage dans cette éternité-ci … Qui sait si, un jour, la science, avec ses progrès, ne retrouvera pas le portrait d’Alexandre sur un rocher, où se sera posée un moment son ombre?‹« (vgl. ebd., Bd. 4, S. 210f.). Balzac brachte in Le Cousin Pons (glauben wir) die Wahrsagerei als Phänomen in einen Zusammenhang mit der Photographie. Bei letzterer ging er in einer seltsamen Variation des Platonismus davon aus, daß alle Dinge unaufhörlich ein Bild in die Luft werfen würden, daß alle existierenden Gegenstände auf diese Weise als unbegreifliches Gespenst sich wiederholten und daß Daguerres mit Chemikalien behandelte Platten diese Gespenster bannten. Das hieße, die photographierten Bilder existierten für ihn vor ihrer Entstehung, wobei sich natürlich die Frage nach der Perspektive stellte: existieren von einem Ding so viele Bilder, wie es Blickwinkel gab?

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).

Mittwoch, 9. Dezember 2015

Und das aus diesem Munde! (Ich höre da keine Ironie!)

Da das Kunstwerk existiert und real überzeugend erlebt werden kann, kann etwas mit der Welt nicht stimmen. Mit der Welt! – und gerade nicht mit der Kunst, die ihre eigenen Möglichkeiten ja ersichtlich beherrscht.

(Niklas Luhmann, Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst; in: Schriften zu Kunst und Literatur, hrsg. von Niels Werber, Frankfurt am Main 2008, S. 145; nur nebenbei bemerkt: das ist der 324. Eintrag hier, und 324 ist auch die Anzahl der Tage von Hans Köberlins Exil; zitiert haben wir diese Aussage Luhmanns in ¡Hans Koberlin vive! mehrmals, nämlich in langen Fußnoten zu den Œuvres Kurosawas und Fassbinders und Tarkowskijs).

Montag, der 9. Dezember 2013


[69 / 255]
Hans Köberlin träumte in der Nacht zum Montag, dem 9. Dezember 2013,* daß er in der Halbwelt des chinesischen Viertels (vermutlich das der Stadt, die niemals schlief) war. Dort war einer, der Giftschlangen klaute und dann verkaufte oder er schaute einem dabei zu. Ein Händler bot ständig seine Frühlingsrollen an, Hans Köberlin aß aber bei dem Schlangendieb, zu dem er durch lange und verwinkelte Korridore mit chinesischen Tapeten gelangte, Pommes frites. Er ging in einen Club, der ziemlich voll war, oben wurde getanzt und unten gab es eine Grotte, an deren Wänden und Decke die Schlangen waren. Mit einem Stock wurden sie heruntergestoßen und dann gepackt. Es wurden immer zwei geklaut. Schließlich gab es Ärger mit dem Türsteher. Eine Zeile aus dem Doors-Song, Soft Parade hatte er im Ohr: »You cannot petition the Lord with prayer«, inspiriert wahrscheinlich von dem gestrigen Filmkalenderblatt. Hans Köberlin erwachte davon mit dem starken Bedürfnis nach gleichförmigen und eintönigen äußeren Tagesabläufen, deren Leere er mit konzentrierter Lektüre, ihn selbst überraschenden Einsichten (manche Sachverhalte sind derart evident, daß man auf sie gestoßen werden muß) und dem Niederschreiben schöner Sätze füllen könnte, gemäß jenem Diktum Canettis: »Es ist kaum zu glauben, wie der geschriebene Satz den Menschen beruhigt und bändigt.«**


* Der aktuelle Filmkalender zeigte anläßlich des Todestages von Marcello Pagliero (†1980) das gleiche Bild aus Rossellinis Roma, città aperta (1945), wie das, das wir vom Vorjahr am 1. November 2013 aus Anlaß von Aldo Fabrizis Geburtstag (*1905) aus der Filmkalenderblattsammelkiste gefischt hatten, das aus dem Jahr 1997 zeigte Gary Cooper in Michael Andersons The Naked Edge (1961) und das aus dem Jahr 1996 Michelle Pfeiffer und Jeff Bridges in Steve Kloves’ The Fabulous Baker Boys (1996). Außerdem war am 9. Dezember 1916 Kirk Douglas – Kubricks Spartacus – geboren worden.
** Elias Canetti, Dialog mit dem grausamen Partner; in: Das Gewissen der Worte. Essays, Frankfurt am Main 1981, S. 54; vgl. auch vom Verf. Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius. Fragment, Berlin 2013, S. 152 und dort die Fußnote 466.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).

Dienstag, 8. Dezember 2015

Sonntag, der 8. Dezember 2013


[68 / 256]
Hans Köberlin ging also am späteren Nachmittag emotional etwas aufgewühlt in die ›Tango Bar‹, saß dort draußen auf der Terrasse und erledigte seine elektronische Post, trank einen Rotwein, dann als es dunkel und klamm wurde, ging er hinein, trank dort noch einen Rotwein und ging anschließend nach Hause, um ein Rindersteak mit Tomatensalat und Brot zu essen. – Gestern hatte es übrigens – wir haben vergessen, das zu erwähnen – einmal wieder eine Dorade gegeben. Hans Köberlin hatte an der Fischtheke des ›Consum‹ einen Moment nicht aufgepaßt, und – »Zack!« – hatte der Verkäufer den Fisch nicht bloß ausgenommen und ihm die Flossen, wie das hier allgemein so Unsitte war, abgeschnitten, sondern auch enthauptet. Üblicherweise verlief die Kommunikation mit diesem Fischverkäufer so (man fing an, Hans Köberlin vom Sehen zu kennen): der Fischverkäufer machte an sich mit dem Daumen die Geste des Halsabschneidens, worauf Hans Köberlin mit einem Kopfschütteln antwortete und an sich die Geste des Harakiri, por favor, vollzog (= bitte ausnehmen, aber den Kopf dranlassen).


* Er fragte in den nächsten Tagen bei einem Übersetzer nach einer möglichen Formel, die er dann beim Fischkauf von einem Zettel ablesen könnte …: »Zur Sprachfrage: gar nicht so einfach, haha! Ich würde sagen, ein bißchen Pidgin, aber es wird funktionieren: por favor, quitar (kitar) las escamas (Schuppen) y (i) los intestinos pero NO la aleta (Flosse), la cabeza (kabetha, th von thing) y la cola.« Hans Köberlin befürchtete, daß es an seiner Aussprache scheitern würde und brachte die Formel nie zum Einsatz.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).

Montag, 7. Dezember 2015

Samstag, der 7. Dezember 2013


[67 / 257]
Und Edmond heute vor 140 Jahren …
Sonntag, 7. Dezember – Dieser Tage las ich das Buch von Cladel, Les Va-nu-pieds. Es ist muskulös, es ist vierschrötig, es ist stark; aber es ist lumpig, zu lumpig. Man könnte dieses Buch absolut mit jenen Bildern vergleichen, die am Eingang einer Jahrmarktsbude hängen, wo Dorfherkulesse kämpfen. Das macht nichts, es ist ein Talentierter, wie der liebe Théo sagte.
Hans Köberlin hörte, außer der bereits erwähnten Filmmusik Peer Rabens,* weil er ja im leeren Wintergarten arbeitete, den hiesigen Klassiksender, dessen Angebot ihm wirklich gut gefiel.


* Die letzte Musik auf dieser Zusammenstellung von Filmmusik, die Peer Raben für die Filme von Rainer Werner Fassbinder komponiert hatte, war aus Querelle das Lied For each man kills the thing he loves, gesungen von Jeanne Moreau. Als Hans Köberlin am Sonntag, dem 8. März 2015, morgens allein im Bett seiner Wohnung (die Frau war bei ihrer Mutter) die noch während seines Exils begonnene Lektüre von Borges’ Ficciones beendete, da erfuhr er aus den Anmerkungen zu El sur, daß der Text ein Gedicht von Oscar Wilde war, nämlich The Ballad of Reading Gaol, wo es um einen Mann ging, der seine Frau aus Eifersucht ermordetet hatte, dafür zum Tode verurteilt worden war und die Vollstreckung des Urteils in stoischer Haltung erwartete. – So fügte sich im Laufe von Hans Köberlins Lektüre ein Mosaiksteinchen an das andere, ohne freilich daß ein Bild (man konnte nicht sagen, was für eines) jemals vollendet worden wäre. – Nebenbei bemerkt: in El sur artikulierte Borges eine wahrhaft fatale Einsicht, nämlich daß das Schicksal zwar blind für wirkliche Schuld sei, jedoch unbarmherzig gegen die kleinsten Unachtsamkeiten sein könne. Hans Köberlin mußte da an seine drei Fahrradunfälle im vergangenen Sommer denken …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).

Sonntag, 6. Dezember 2015

Freitag, der 6. Dezember 2013


[66 / 258]
In irgendeinem Film, den Hans Köberlin als Kind gesehen, hatte einer gesagt, es gäbe Frauen mit einem Apfelarsch und Frauen mit einem Birnenarsch; diese Unterscheidung hatte Hans Köberlin sein Lebtag nicht mehr vergessen, und jetzt vor seinem geistigen Auge … Dann stieß er in seiner Ausgabe in Joyces Idiom auf der Seite 112 auf einen Fehler: die Abschnittsüberschrift MEMORABLE BATTLES RECALLED war aus Versehen als »Memorable battles recalled« in den Text geraten, und auf S. 116 das gleiche: da war THE CALUMET OF PEACE aus Versehen als »The calumet of peace« in den Text geraten … Und bei ironischen Gegenüberstellung von Professor MacHugh …: natürlich war ein Wasserklosett wichtiger als ein Altar.*


* »The Jews in the wilderness and on the mountaintop said: It is meet to be here. Let us build an altar to Jehovah. The Roman (…) brought to every new shore on which he set his foot (…) only his cloacal obsession (…): It is meet to be here. Let us construct a watercloset.« (James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 117). Nun, die Pointe war nett, aber der Vergleich hinkte im Detail: was sollten Nomaden in der Wüste mit einem Wasserklosett anfangen? – Nach Thomas Mann war Moses dort der Kulturbringer gewesen: »Vorläufig waren sie (die Kinder Israels) nichts als Pöbelvolk, was sie schon dadurch bekundeten, daß sie ihre Leiber ins Lager entleerten, wo es sich treffen wollte. Das war eine Schande und eine Pest. Du sollst außen vor dem Lager einen Ort haben, wohin du zur Not hinauswandelst, hast du mich verstanden? Und sollst ein Schäuflein haben, womit du gräbst, ehe du dich setztest; und wenn du gesessen hast, sollst du es zuscharren, denn der Herr, dein Gott, wandelt in deinem Lager, das darum ein heilig Lager sein soll, nämlich ein sauberes, damit Er sich nicht die Nase zuhalte und sich von dir wende.« (Thomas Mann, Das Gesetz; in: Die Erzählungen, Frankfurt am Main 1986, S. 1006). Hans Köberlin mußte an die pensionistas denken, die von ihren Dreckkötern die Promenade, auf der sie flanierten, zuscheißen ließen. – Aber nochmals zu Thomas Mann: wir lesen noch einmal den Anfang der Erzählung …: großartig!
Seine Geburt war unordentlich, darum liebte er leidenschaftlich Ordnung, das Unverbrüchliche, Gebot und Verbot.
Er tötete früh im Auflodern, darum wußte er besser als jeder Unerfahrene, daß Töten zwar köstlich, aber getötet zu haben höchst gräßlich ist, und daß du nicht töten sollst.
Er war sinnenheiß, darum verlangte es ihn nach dem Geistigen, Reinen und Heiligen, dem Unsichtbaren, denn dieses schien ihm geistig, heilig und rein.
(ebd., S. 961; als »a man supple in combat: stonehorned, stonebearded, heart of stone« tauchte er in Stephens Bewußtseinsstrom auf (Joyce, Ulysses, a. a. O., S. 127).Es muß wohl nicht erwähnt werden, daß der gleichsam sinnenheiße Hans Köberlin nicht nach dem Geistigen, sondern nach dem Fleischlichen, nicht nach dem Reinen, sondern nach der Verdorbenen, und nicht nach dem Heiligen, sondern nach der Hure verlangte. – Und apropos Zivilisation: Luhmann in seiner trockenen Art hatte einmal 1985 ein kleines Szenario entworfen …
Man muß darauf gefaßt sein, daß es in absehbarer Zeit zu atomaren Explosionen kommen wird, die den Erdball verwüsten. Das wäre zweifellos ein markantes, einschneidendes, epochenwirksames Ereignis. Vorher und Nachher ließe sich deutlich unterscheiden. Sucht man nach einem anderen Ereignis von ähnlicher Tragweite, kommt eigentlich nur die Entwicklung von planmäßiger Landwirtschaft in Betracht. Vorher ging es auf dem Erdball, evolutionär gesehen, relativ normal zu. Es gab, wer weiß wie lange schon, Menschen; aber sie lebten, wenn nicht friedlich, so jedenfalls harmlos, wenn nicht paradiesisch, so jedenfalls ohne nennenswerten Einfluß auf ihre Umwelt. Dann entwickelte sich aber die Landwirtschaft und sehr bald darauf, nur wenige Jahrtausende später, die atomare Explosion. Ein kurzer Prozeß also: die Landwirtschaft die Ursache, die Explosion die Wirkung, die Zivilisation als Übergang, als Transformationsmechanismus.
(Niklas Luhmann, Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie; in: Schriften zu Kunst und Literatur, hrsg. von Niels Werber, Frankfurt am Main 2008, S. 102). Später dann las Hans Köberlin übrigens in den mit LOST CAUSES NOBLE MAQUESS MENTIONED und KYRIE ELEISON! betitelten Abschnitten, daß der Professor der römischen (Klosett) und semitischen (Altar) Alternative die griechische (Geist) entgegenstellt, wobei Hans Köberlin bei ›griechisch‹ natürlich …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).