Montag, 24. Juli 2023

1970-04-11 San Francisico [Dienstag, den 11. Februar 2014]

Zum Frühstück hörte Hans Köberlin jenes Konzert aus Miles Davis’ elektrischer Phase, das der am 11. April 1970 im ›Fillmore West‹ gegeben hatte. Es war wohl kein kompletter Mitschnitt, denn es begann und endete in medias res und es waren bloß drei Stücke, Paraphernalia, Footprints und Miles Runs The Voodoo Down. Diese Zusammenstellung – ohne Gitarre und ohne Stücke aus Jack Johnson – wirkte so wie aus einer Gelenkzeit zwischen Bitches Brew und On the Corner, mit Verweisen zurück in die Zeit des ›klassischen‹ Quintetts. Miles Davis war sehr präsent, ließ aber auch – wie am Vortag – großen Raum für Corea und Grossman.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1190).

1970-04-10 San Francisco [Sonntag, der 5. Januar 2014]

Zum Frühstück gab es das Konzert, das Miles Davis am 10. April 1970 – etwa die Zeit, als Hans Köberlins aleatorische Knabenspiele begannen – im ›Fillmore West‹ in der Stadt, zu der man mit einigen Blumen im Haar reisen sollte, gegeben hatte, er hatte es ausgewählt, weil hier das von ihm höchstgeschätzte Willie Nelson aus der von ihm höchstgeschätzten Jack Johnson-Zeit zum ersten Mal in seiner Sammlung von Mitschnitten auftauchte* –: ein geniales Konzert! Die Stücke von Bitches Brew wurden mit dem neuen Jack Johnson-Groove, bei dem eigentlich Jimi Hendrix als Gitarrist vorgesehen war, interpretiert, interessant war in diesem Kontext auch die gut eineinhalbminütige Anspielung auf I Fall In Love Too Easily – Hans Köberlin war es gleichfalls immer zu leicht gefallen, was aber, wie er fand, für ihn sprach – nach Willie Nelson. Masqualero überließ Davis weitgehend Steve Grossman und Chick Corea, war aber abwesend anwesend, weil die beiden ohne ihn nie wieder zu solcher Virtuosität gelangen sollten, der nächste Zeitsprung wäre wohl der zu der Live/eviL-Phase, bei der Keith Jarrett Chick Coreas Part übernehmen sollte. Den Abschluß dieses Frühstücks bildeten Spanish Key und The Theme, Hans Köberlin hatte nie gewußt, wie er das für sich adäquat übersetzen sollte – mit ›Erkennungsmelodie‹ wohl nicht … »Erkennen Sie / die Melodie / da-da / da-da …« im präpubertären elterlichen Wohnzimmer –, The Theme jedenfalls war wohl ein Relikt aus der klassischen Zeit der Jazzkonzerte, das bei Miles Davis bald wegfallen sollte. Black Beauty hatte man die Publikation dieses genialen Mittschnitts** unglücklicherweise betitelt, unglücklicherweise deshalb, weil das, was im ursprünglichen Kontext wohl an die emanzipatorische Kraft einer ›schwarzen‹ Ästhetik gemahnte, hier oder zumindest bei Hans Köberlins Sozialisation eine Serie für pubertierende Mädchen mit einem schwarzen Hengst als Protagonisten assoziierte, wobei man durch ›mit einem schwarzen Hengst als Protagonisten‹ komplett in der Fehlleistung saß.*** Aber Anna Sewells Pferderoman aus dem Jahr 1877 mußte doch allen bei der Namensgebung Beteiligten bekannt gewesen sein … Jedenfalls: Hans Köberlin hätte diese Musik noch stundenlang weiterhören können, aber: der Berg rief!

* Hans Köberlin übersah hier das zweite Set des Konzerts im ›Filmore East‹ in der Stadt die niemals schlief am 7. März desselben Jahres.
** »Zum Exempel: als in den 70er Jahren Miles Davis (und Gruppe) seine 3. Häutung als Musikkünstler durchgemacht hatte und mit Bitches Brew, mit Black Beauty / Fillmore West u. a. auf der Klangfläche erschien, wurde der nachwachsenden Generation der verstreuten kulturintellektuellen Szene schlagartig klar: Ja, diese Musik versteht uns (und: die Musik mehr noch als ›der Mann‹!). Sie tritt in die öffentliche Szene, sie drückt mit aller gebotenen Insistenz die zeitgenössische Daseinsbefindlichkeit aus. Sie arbeitet es durch – das Desaster wie das ausstehende Glück in zeitgenössischer Existenz. Sie versteht ganz offenbar das existenzial Prekäre von Erfahrungen in dieser hochziselierten ›Zeitgenossenschaft‹ von Kreaturen, und sie macht es offenbar, sie fängt es musizistisch ein, arbeitet es kriselnd durch on stage / aufführend, gestisch – haptisch – gymnasisch, und sie gibt es durchgearbeitet nach Draußen, in einem disziplinierten Ausbruch, expressiv und ostinat. Was in Musik, was im kunsthaften Werkprozeß zugleich sich ereignen muß: die Anreicherung durch eine Portion gelungener Insistenz, ein passionshaftes Antidotum gegen das durchgearbeitete Desaster. Dies muß zeitgenössisch kontraversal-stilistisch präzise sein, um dem angeregten Verstehen zugleich Spuren seiner ›Lösung‹ in Emphase zu verleihen, Moment der cura, Kurierung. In diesem Moment des ostinaten Verstehens als verarbeiteter Gegengabe im Ausdruck ist ein Moment des Lösens enthalten, ein Quentchen momentaner absolutio, ein Moment des ›Vergebens und Vergessens‹ (Lethe, moments musicaux / Schubert). ›Miles and more‹: Passabel durcharbeiten und emphasieren kann man nur, wenn man das Nötigende durchgemacht hat. Sujet: Der Mann (Miles Davis) hat die Hölle gekannt und das Paradies geahnt …; und das Werk kündet davon in all seinen Fibern. Ex cathedra wird sich nie eine Spur von Authentizität einstellen! Die akademischen Intellektuellen machen etwa ›Musikanthropologie‹, die existenzialen Musiker aber machen Anthropognosie durch die Musik hindurch, was das Durcharbeiten in den Gymnopädien ernötigt, deren Stilistik letztlich spricht und die erfahrene Gnosie so zum Verstehen gibt.« (Hans Peter Weber, MEDIA RELEASE MEDIA. Eine PROGRAMMVORSCHAU. ROAD MAP (zum Frieden); in: Essays, Berlin 2008, Bd. 2: Große beruhigte Automaten. suprem, S. 251 und dort die Fußnote 281).
*** Vgl. vom Verf. HannaH & SesyluS oder Eine Reise aus der Welt in drei Tagen. Der erste Teil der Clemens Limbularius Trilogie, 2., ein wenig verbesserte Auflage, Berlin 2012, S. 295.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, IX [Der zweite Besuch der Frau] Vom 20. Dezember 2013 bis zum 6. Januar 2014, S. 889f.).

1970-04-09 San Francisco [Mittwoch, der 12. März 2014]

Er döste anschließend nochmals ein, stand dann auf, zog sich den Bademantel wieder an und bereitete sein vorerst letztes Frühstück hier. Dazu wollte er jenes Konzert hören, das Miles Davis am 9. April 1970 in jener Stadt gegeben, in die man, wenn man zu ihr komme, mit einigen Blumen im Haar kommen sollte, natürlich im Fillmore West. Das Set bestand aus den üblichen Stücken der Konzerte jener Zeit, sie kamen Hans Köberlin aber hier noch rauher vor, vor allem Dave Hollands Baß, Directions als Auftakt, dann kam es zu einem wunderbaren Übergang zu einer relativ langsamen Interpretation von Miles Runs the Voodoo Down, mit dem gleichen Monsterbaß. Der Groove des Stückes verlor sich allerdings nach siebeneinhalb Minuten, um in eine Improvisation Chick Coreas auf dem E-Piano überzugehen. Es folgte jenes ominöse This, von Schlagzeug und Baß begleitet E-Piano und Trompete ziemlich frei, wobei Miles Davis bald seine bekannten Läufe spielte, nach der Hälfte übernahm das Saxophon. Dann kam Itʼs About That Time, auch dies am Anfang ziemlich frei gestaltet, dann aber vom Baß in einen schönen Groove getrieben. Aber auch der brach abrupt wieder ab, diese Wechsel waren eigentlich nichts für Hans Köberlins Abschiedsstimmung, dann, nach I Fall In Love Too Easyly, kam aber unverwüstlich Sanctuary, gefolgt von Spanish Key, so wie Hans Köberlin es hören wollte, dann schwächelte der Groove, aber Baß und Schlagzeug holten Corea wieder in die richtige Richtung. Zum Abschluß kam, erneut eine Dramaturgie, die Hans Köberlin verwunderte, Bitches Brew. Das war eine sehr schöne Version, sehr linear, am Ende dominierte aber wieder Corea und brachte das Ganze zu einem plötzlichen Ende. Na gut … beim nächsten Hören würde es vielleicht ganz anders klingen, Stimmungen …

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit] Vom 7. bis zum 12. März 2014, S. 1513f.).