Mittwoch, 16. Dezember 2015

»Die Geschichte, die im Schatten entstand, endet im Schatten.«

Ich vermute, die Glückseligen im Himmel sind der Auffassung, die Vorteile dieses Etablissements seien von den Theologen, die nie dort gewesen sind, übertrieben worden. Vielleicht sind die Verdammten in der Hölle nicht immer glücklich.

(Jorge Luis Borges, Das Duell; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 13: Spiegel und Maske. Erzählungen 1970-1983, Frankfurt am Main 1993, S. 59).

Montag, der 16. Dezember 2013


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Noch im Bett las er, was André Breton in seiner Anthologie über das Ende Baudelaires geschrieben, nämlich das jener sich im Spiegel betrachtet, sich aber nicht wiedererkannt und deshalb gegrüßt habe. Baudelaires letzte Worte, mit denen er ein mehrere Monate langes Schweigen gebrochen, habe er bei Tisch geäußert, indem er auf das einfachste von der Welt darum gebeten, man möge ihm den Senf reichen. Man sollte, dachte sich Hans Köberlin, letzte Worte parat haben, damit man nicht kalt erwischt würde und dann bloß nur noch fluchen würde oder jammern würde oder »Ich will nicht!« schreien würde.* Es wäre schön, wenn man in Würde aus der Welt gehen würde. Hans Köberlin gab zu, daß »Kann ich mal bitte den Senf haben?« einer gewissen Würde nicht entbehrte … Hans Köberlin, der – wie Clemens Limbularius – immer gesagt hatte, wenigstens seinen Tod wolle er bewußt erleben,** Hans Köberlin also fielen jetzt keine passenden letzten Worte für sich ein und er stand deshalb auf und zog sich an und aktualisierte den Filmkalender. Lee Van Cleef hatte Todestag (†1989), deshalb sah man ein Still aus High Noon, nicht einen Still von seinem Nebenrollen-Showdown mit Gary Cooper, sondern einen Still von dem mit sich selber ringenden Gary Cooper und der verzweifelten Grace Kelly, die sich an den mit sich selber ringenden Gary Cooper drückte, und im Hintergrund die andere, titelgebende Protagonistin des Film, nämlich die große Standuhr, kurz bevor sie zwölfmal schlagen würde …*** Des weiteren, so erfuhr man, war am gleichen Tag wie Lee Van Cleef Silvana Mangano gestorben, wir hatten sie oben zu Beginn des vierten Kapitels bereits kurz im Kontext von Riso amaro erwähnt, wenn auch nur implizit …: es war nämlich wegen ihrer – wenn auch leider nur verhüllt – gezeigten Brüste, daß im Land von Hans Köberlins Herkunft ›Bitterer Reis‹ geraume Weile als Synonym für überproportionierten Busen galt.**** – Und wo wir gerade bei den unendlich verschieden wunderbaren Ausformungen von weiblichen Brüsten, die uns an das Gute in der Welt glauben lassen, sind: am 16 Dezember 1962 – da war Hans Köberlin bereits 2½ Jahre alt gewesen, war Maruschka Detmers geboren worden.


* »I must sleep now«, soll Byron gesagt haben.
** Siehe vom Verf. HannaH & SesyluS oder Eine Reise aus der Welt in drei Tagen, Berlin 2. ein wenig verbesserte Auflage 2012, S. 58.
*** Hier der Song dazu …
Do not forsake me, oh, my darlin’:
You made that promise as a bride.
Do not forsake me, oh, my darlin’.
Although you’re grievin’,
don’t think of leavin’,
Now that I need you by my side.
**** Dieser traurige Anlaß – der Tod einer Frau, die uns in ihrer Jugend während unserer Jugend (und auch jetzt noch, wenn wir uns den Film anschauen) erregte und von einem guten Sein träumen ließ – bietet uns Gelegenheit, wieder einmal aus Georg Seeßlens Ästhetik des erotischen Films zu zitieren: »Silvana Mangano verkörpert auch in ihren weiteren Filmen (nach Riso Amaro) die vital erotische Frau, deren Lebenshunger in Widerstreit zu den Begrenzungen ihrer Umwelt gerät. Freilich, sozialkritische Intentionen lagen diesen Filmen meistens fern. Sie waren oft nicht mehr als ein Vehikel für die Präsentation des Stars in engen Pullovern und kurzen Hosen, die italienische Version der Pin-up-Kleidung. Silvana Manganos Tanz-Szenen erinnerten so sehr an die Darbietungen der amerikanischen Pin-up-Stars, wie ihre ganze Erscheinung deren Einfluß verriet. (Als ›Italiens Antwort auf Rita Hayworth‹ wurde sie auch bezeichnet.) Doch im Unterschied zu den amerikanischen Stars des Genres war der Vorwand für die Überbetonung des Sex-Appeals in Filmen wie Anna (Alberto Lattuada, 1951) oder Mambo (Robert Rossen, 1955) aus einem realistischen Hintergrund heraus entwickelt. Sie ist das proletarische Pin-up-Girl (in Mambo ist sie eine Arbeiterin, die zur berühmten Tänzerin aufsteigt) und eine kurze, scheinhafte Alternative zu einem häuslichen Glück in der bedrückenden Enge der Vorstädte und Dörfer.« (Georg Seeßlen, Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Marburg 3. Auflage 1996, S. 78).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).