Sonntag, 26. November 2023

1972-09-29 New York [Mittwoch, der 22. Januar 2014]

Nach dem Dauerlaufen frühstückte Hans Köberlin witterungsbedingt wieder im leeren Wintergarten und hörte dabei jenes Konzert, das Miles Davis am 29. September 1972 in der Philharmonic Hall der Stadt, die niemals schlief, gegeben hatte; man befand sich nun wieder in der stockhausigen On the Corner-Zeit, es waren anscheinend zwei Sets, weil es zweimal The Theme gab, aber Hans Köberlin behandelte sie, da es zu keinen Wiederholungen kam, wie eines, es konnte ja auch sein, daß es nur eine Pause innerhalb eines Sets gegeben hatten. Die Aufnahme begann mit Rated X, ein teuflischer Groove, der auf M’tumes Perkussion und kurzen Riffs einer per Wah-wah pedal verzerrten elektrischen Gitarre basierte, akzentuiert von Miles Davis’ gleicherart verzerrten Trompete, bis sich nach gut fünf Minuten Hendersons elektrischer Baß mit ein paar heftigen Schlägen meldete und, gefolgt von dem Saxophon, in das Treiben einstieg, ein geniales Gewusel, das Hans Köberlin anscheinend dazu verleiten wollte, zur angemessenen Rezeption unangemessen auf nüchternen Magen irgendeinen hochprozentigen Alkohol zu trinken – in die Jahre gekommen gab er freilich dieser Versuchung aus Vernunftsgründen nicht nach.* Es folgte Honky Tonk, wobei der Bruch nicht so arg war, wie sich das hier vielleicht liest, man erkannte das Stück am Baß, aber die Trompete wies schon auf die kommenden drei Jahre; wunderbar das Saxophon! Hans Köberlin schaute nach: Carlos Garnett … den Namen hatte er noch nicht bewußt wahrgenommen … er durfte nicht vergessen, daß er heute Nachmittag einen Termin mit Carlos Metafonía hatte … Es folgte Theme from Jack Johnson, es klang diesmal wie das Intro von Moja (Dark Magus) oder Zimbabwe (Pangaea) und nicht wie das gleichnamige Stück von Agharta, dem folgte Black Satin, durch eine leichte Akzentverschiebung des Baßlaufs etwas kommoder als im Studio, dann, nach einem Applaus, gut eine halbe Stunde Ife, in der ersten Viertelstunde ruhige Meditationen der Musiker auf einem monotonen Baß, dann wurde es kurz hektisch wie bei der Studiosession, wieder ruhig und ging schließlich in ein modifiziertes Right Off über. Es war ein sehr anregendes Frühstück. Hans Köberlin überlegte, wie das wäre, mit einem Wah-wah pedal verzerrt zu schreiben … Aber es war ja nicht die Verzerrung der Klänge, die diese Musik ausmachte, sondern der spezifische Rhythmus, M’tumes Perkussion vor allem … Und für sein Schreiben wäre das Wah-wah pedal wohl nicht die angemessene Metapher.

* »Meine Kompositionen waren schon lange Zeit kreisförmig angelegt und durch Stockhausen wurde mir jetzt klar, daß ich nie wieder zu dem alten Achttakteschema zurückkehren will, denn meine Stücke sind nie zu Ende; sie können immer weitergehen […] Stockhausen regte mich dazu an, Musik als einen Prozeß von Addition und Subtraktion zu betrachten. Genau wie ein ›Ja‹ nur nach einem ›Nein‹ Sinn bekommt. Ich experimentierte viel. Beispielsweise sagte ich meiner Band, sie solle den Rhythmus spielen, ihn halten und auf nichts reagieren, was passiert; das Reagieren wollte ich übernehmen.« (Miles Davis und Quincy Troupe, Die Autobiographie, München, 42000, S. 442f.).

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 1025f.).

1972-09-14 Boston [Mittwoch, der 19. Februar 2014]

Zum Frühstück im leeren Wintergarten hörte er heute jenes Konzert, das Miles Davis am 14. September 1972 für den Rundfunk in der Pauls Mall in Boston gegeben hatte. Es war die On the Corner-Zeit und als erstes gab es, nicht so filigran wie bei der Studiosession, Black Satin, dann Honky Tonk, gleichfalls im On the Corner-Stil interpretiert, wie auch das anschließende Right Off und die abschließenden drei Takte Sanctuary. Die Aufzeichnung ging nur über fünfunddreißig Minuten, so daß sich Hans Köberlin im Anschluß noch On the Corner selbst anhörte. Dieses Album war ihm – wie Bitches Brew – durch unzähliges Hören so vertraut geworden, daß seine Form sich quasi in ihrem Medium auflöste und Hans Köberlins Gedanken, so sehr er sie auch dabei behalten wollten, abschweiften, verströmten, dabei aber doch, irgendwie anders als im Modus des Hörens, bei der Musik blieben … ›hörend überhören‹, hätte Kafka vielleicht geschrieben … ach … Hans Köberlin kam es jetzt vor, als sei bereits eine Ewigkeit vergangen, seit er sich mit den Forschungen des Hundes auseinandergesetzt hatte.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1289f.).

Sonntag, 19. November 2023

1971-11-08 København [Sonntag, den 16. März 2014]

Zum Frühstück nun gab es – wenn Hans Köberlin nichts in seinem Musikarchiv übersehen hatte,* den letzten regulären noch nicht gehörten Miles-Davis-Konzertmitschnitt, nämlich den vom 8. November 1971 aus dem Tivoli in der Stadt von Kirkegaard und Hans Christian Anderson beziehungsweise von dessen kleiner Meerjungfrau. Das Cover von Hans Köberlins nur digital zuhandenen Version dieses Mitschnitts, war, wenn er sich nicht täuschte, von Mati Klarwein und zeigte eine tropische und keine skandinavische Szene mit einer reizvollen üppigen Frau im Zentrum. Es war ein längerer Mitschnitt, über eineinhalb Stunden, es gab das übliche Programm aus der Zeit, beginnend mit Dircetions, die Titelfolge war die gleiche wie gestern in der Donaumetropole,** aber das Konzert hatte in toto einen etwas anderen Charakter, es kam Hans Köberlin homogener vor. Auch hier war die Qualität der Aufnahme durchwachsen, dafür gab es einen schönen Groove und Hans Köberlins fand seinen die Themen betreffenden Eindruck von gestern bestätigt. Der Höhepunkt war für Hans Köberlin Keith Jarretts Solo auf dem E-Piano zum Beginn des abschließenden Funky Tonk.

* Später am Tag fiel ihm aus heiterem Himmel ein, daß er noch einen sehr frühen Mitschnitt aus dem Mai des Jahres 1949 hatte, wo Miles Davis als Teil des Tadd Dameron Quintets spielte. Als er sich den raussuchte, fand er noch einen Mitschnitt vom 8. Dezember 1957 aus Amsterdam, einen Mitschnitt vom 9. September 1958 aus dem Plaza Hotel in New York, einen Mitschnitt von einem Konzert im Oktober 1964 in Helsinki und einen vom 23. Oktober 1983 aus Warsaw. Und dabei schließlich stieß er auf einen Datenordner, der bei dem Transfer von seinem alten Computer auf das große Laptop vor dem Aufbruch in sein Exil wohl verschollen gegangen war. Er enthielt vier Mittschnitte von insgesamt sechs Sets der zweiten Europatournee des Jahres 1960, auf der Sonny Stitt John Coltrane ersetzt hatte.
** Hans Köberlin wußte noch von einem Mitschnitt vom 6. November 1971 aus der Philharmonie der Hauptstadt, der sich aber zu seinem Bedauern nicht in seiner Sammlung befand.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Sechste Phase ‒ oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung] Vom 13. März bis zum 10. April 2014, S. noch offen).