Materie ist viel magischer als das Leben.
(Roland Barthes, Mythen des Alltags, Berlin 2010, S. 196).
Herbert Neidhöfer, homme de lettres
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Montag, 15. Februar 2016
Samstag, der 15. Februar 2014
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Aufstehen, Dauerlauf – wieder mit Cassiber –, Frühstück im leeren Wintergarten und Duschen verlief nach dem gewohnten Muster. Es gab keinen Nebel heute, der Himmel war blau, aber es war wieder sehr windig. Nach dem Duschen saß Hans Köberlin mit dem großen Laptop und seinen aktuellen Bücherstapeln im leeren Wintergarten, aus dem Radio kam die Musik, die man auf Radio clásica halt so spielte, und er las, daß Molly Bloom ihre Tage bekam. Und weiter fragte sie sich angesichts ihrer Erinnerung an den Leuchtturm des Europa point: »… will I never go back there again …« Wie oft hatte sich das Hans Köberlin bei den verschiedensten Orten in der letzten Zeit gefragt … sein Leben kam ihm manchmal vor wie ein allgemeines Abschließen, wie die eine eislerische Brechtvertonung bei Cassiber (einmal instrumental und einmal sang Dagmar Krause …),* lauter letzte Dinge, lauter letzte Male ohne die Möglichkeit der Wiederholung, wie sollte das erst bei seiner Rückkehr werden … Hans Köberlins Gedanken wanderten zu einem Gedanken Borgesʼ: wenn Zeit Abfolge sei, dann müsse man einräumen, daß dort, wo eine größere Dichte von Vorgängen existiere, mehr Zeit vergehe, und daß der üppigste Zeitstrom auf der unbedeutenden Seite der Welt fließe. Aber was hieß schon ›mehr Zeit‹? Waren es längere Dauern, um die es ging, oder das Zeitempfinden? Flossen üppige Ströme langsamer als Rinnsale oder kam ihm das jetzt bloß so vor? Und was verstand Borges unter ›Vorgang‹? Ein bedeutsames Ereignis? – Hans Köberlin war zu träge, um den Kontext dieser Bemerkung zu nachzulesen, er streckte die Beine aus, verschränkte die Arme vor seiner Brust und döste eine seiner angenehmen Siestas.**
* Brecht hatte das in seinem Exil Geschrieben …
Und ich werde nicht mehr sehen** Wir wollen Hans Köberlins wohlige Siesta nutzen, um eine etwas längere Passage aus Thomas Manns Zauberberg (Frankfurt am Main 1986, S. 146ff.), die vielleicht dem entspricht, was Borges meinte, zu zitieren: »Denn er war geduldig von Natur, konnte lange ohne. Beschäftigung wohl bestehen und liebte, wie wir uns erinnern, die freie Zeit, die von betäubender Tätigkeit nicht vergessen gemacht, verzehrt und verscheucht wird (…) Im Grunde hat es eine merkwürdige Bewandtnis mit diesem Sicheinleben an fremdem Orte, dieser – sei es auch – mühseligen Anpassung und Umgewöhnung, welcher man sich beinahe um ihrer selbst willen und in der bestimmten Absicht unterzieht, sie, kaum daß sie vollendet ist, oder doch bald danach, wieder aufzugeben und zum vorigen Zustande zurückzukehren. Man schaltet dergleichen als Unterbrechung und Zwischenspiel in den Hauptzusammenhang des Lebens ein, und zwar zum Zweck der Erholung-, das heißt: der erneuernden, umwälzenden Übung des Organismus, welcher Gefahr lief und schon im Begriffe war, im ungegliederten Einerlei der Lebensführung sich zu verwöhnen, zu erschlaffen und abzustumpfen. Worauf beruht dann aber diese Erschlaffung und Abstumpfung bei zu langer nicht aufgehobener Regel? (…) es ist das Erlebnis der Zeit, – welches bei ununterbrochenem Gleichmaß abhanden zu kommen droht (…) Man glaubt im ganzen, daß Interessantheit und Neuheit des Gehaltes die Zeit ›vertreibe‹, das heißt: verkürze, während Monotonie und Leere ihren Gang beschwere und hemme. Das ist nicht unbedingt zutreffend. Leere und Monotonie mögen zwar den Augenblick und die Stunde dehnen und ›langweilig‹ machen, aber die großen und größten Zeitmassen verkürzen und verflüchtigen sie sogar bis zur Nichtigkeit. Umgekehrt ist ein reicher und interessanter Gehalt wohl imstande, die Stunde und selbst noch den Tag zu verkürzen und zu beschwingen, ins Große gerechnet jedoch verleiht er dem Zeitgange Breite, Gewicht und Solidität, so daß ereignisreiche Jahre viel langsamer vergehen als jene armen, leeren, leichten, die der Wind vor sich her bläst, und die verfliegen. Was man Langeweile nennt, ist also eigentlich vielmehr eine krankhafte Kurzweiligkeit der Zeit infolge von Monotonie: große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen; wenn ein Tag wie alle ist, so sind sie alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden und unversehens verflogen sein. Gewöhnung ist ein Einschlafen oder doch ein Mattwerden des Zeitsinnes (…) Wir wissen wohl, daß die Einschaltung von Um- und Neugewöhnungen das einzige Mittel ist, unser Leben zu halten, unseren Zeitsinn aufzufrischen (…) Freilich wirkt die Erfrischung des Zeitsinnes dann über die Einschaltung hinaus, macht sich, wenn man zur Regel zurückgekehrt ist, aufs neue geltend: die ersten Tage zu Hause werden ebenfalls, nach der Abwechslung, wieder neu, breit und jugendlich erlebt, aber nur einige wenige: denn in die Regel lebt man sich rascher wieder ein als in ihre Aufhebung, und wenn der Zeitsinn durch Alter schon müde ist oder – ein Zeichen von ursprünglicher Lebensschwäche – nie stark entwickelt war, so schläft er sehr rasch wieder ein, und schon nach vierundzwanzig Stunden ist es, als sei man nie weg gewesen und als sei die Reise der Traum einer Nacht.« – Man entsinne sich, was wir zu Beginn unserer Langzeitdokumentation über die Gewohnheit angemerkt haben, nun: wenn man bei Manns Ausführungen die Akzente nur leicht verschob, beziehungsweise die Perspektive ein wenig veränderte … Und natürlich wollen wir jene Art der Zeitmodulation, die wir oben als ›verdichten‹ bezeichnet haben, nicht vergessen: »richtige Dauern« (Stockhausen) durch das Verfassen von Tagebüchern und Arbeitsjournalen (was bei ihm das gleiche war) und deren Relektüre zu schaffen. Als Hans Köberlin am 8. September 2015 in der Nacht eine solche Relektüre betrieb, dabei Fred Frithʼ Eye to Ear III hörend, las er, daß er am 8. September 2014 (da dagegen um die Mittagszeit) gleichfalls Fred Frithʼ Eye to Ear III gehört hatte.
das Land, aus dem ich gekommen bin.
Nicht die bayrischen Wälder,
nicht das Gebirge im Süden,
nicht das Meer,
nicht die Märkische Heide,
die Föhre nicht,
noch die Weinhügel am Fluss im Frankenland.
Nicht in der grauen Frühe,
nicht am Mittag,
und nicht, wenn der Abend herabsteigt.
Noch die Städte,
noch die Stadt, wo ich geboren bin.
Nicht die Werkbänke,
und auch die Stube nicht mehr,
und den Stuhl nicht.
All das werd ich nicht mehr sehen,
und keiner, der mit mir ging,
wird das alles noch einmal sehen.
Und ich nicht, und du nicht
werden die Stimmen der Frauen und Mütter hören,
oder den Wind über die Schornsteine der Heimat,
oder den fröhlichen Lärm der Stadt,
oder den bitteren.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).
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