Sonntag, 13. Dezember 2015

Freitag, der 13. Dezember 2013


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Unterwegs hatte er ein Bild des Peñón de Ifach vor einer beeindruckenden Wolkenkulisse, dann ein Bild eines dieser Gleitschirmflieger (er kannte sich da, in den von denen, die dies betrieben, verwendeten Bezeichnungen nicht aus), der mutig zwischen den Hochhäusern hin- und herflog, und, später dann auf dem Heimweg, noch ein Bild der bereits bekannten Felsen an dem Strand hinter der Hafenmole, diesmal in einem noch nicht gesehenen Licht, auf seinem Taschentelephon digital abgespeichert. Als er sich an zuhause dies Dreierreihe auf dem Monitor seines großen Laptops anschaute, assoziierte er, ausgehend von dem mittleren Bild, den Titel eines Romans von Raimond Queneau, und weil es drei waren einen Untertitel von Godard (wo es allerdings zwölf gewesen waren) denkend …: Le Vol d’Icare en trois tableaux. Ikaros, der Sohn von Daidalos … Stephen und Simon … Sie tauchten in dem Kapitel, bei dem Hans Köberlin gerade war – Laistrygonen –, nicht auf, aber im nächsten sollte Stephen in der Bibliothek über Shakespeare diskutieren. Jetzt gönnte sich Ms Bloom ein Gläschen Burgunder.
Und die Brüder heute vor 156 Jahren …
Uchard führt uns um Mitternacht in ein Haus, in dem wir, wie er uns versichert, gewiß gut empfangen werden, mit einem Wort in das bekannteste Bordell von Paris, La Farcy, jetzt Élisa. Das also ist das kleine Paradies, von dem die Botschaftsattachées wie von einem Traum aus Tausendundeiner Nacht sprechen! Der Salon ist der Salon eines Zahnarztes. Geblümte granatrote Tapete an den Wänden, die Divane aus rotem Samt, die Portieren aus rotem Baumwollsamt, drei ovale Spiegel mit vergoldeten Rahmen, mit dem Gartenmesser im Blindenhospital geschnitzt, mit zwei mehrarmigen Kerzenhaltern. Auf einem Kaminsims zwei Kandelaber und eine Pendeluhr: ein junger Mann, der eine Ziege füttert, Bronzeimitat aus Zink; und sodann, gleichsam an die Decke gespuckt, die sehr niedrig ist, ein Rosenkranz: eine Krone aus Blumen und zwei Amorfiguren in der Mitte. Zehn kunterbunte Frauen – blau, rot, weiß, gelb – liegend, sich suhlend, gestrandet auf dem Divan mit den Koketterien von Kühen und den kleinen Tremolos ihrer kleinen roten Stöckelschuhe. Eine einzige Frau liest: Les Contes sans prétention von Albéric Second. – Die Konversation besteht darin: »Weißt du, ja du, warum die jungen Mädchen die gotische Architektur nicht mögen? – Oh! Ach! Oh! Ach! – Nun, weil sie die allzu gotischen Steifen nicht mögen.«
Alle umringen einen, aber das kostet einen ein Sodawasser. Alle küssen einen: ein Sodawasser! Alle lecken einen: ein Sodawasser! Es gibt welche, die einen mit Bewunderung umgeben: »Was für eine schöner Mann er ist!« Das kostet einen nur ein Sodawasser!
Das ist sie, hier ist sie, diese dümmliche Ausschweifung, das Vergnügen und der Exzeß der ganzen eleganten, wohlerzogenen, ja sogar intelligenten Jugend!
Ich gehe in ein Zimmer hinauf: es ist ein sehr schlechtes Herbergszimmer aus einer Stadt, wo keine Postkutschen mehr durchfahren.
Zugegebenermaßen sind die Männer nicht sehr heikel bezüglich der Inszenierung ihres Vergnügens. Zugegebenermaßen fordern sie keine großartige Sauce für ihren Genuß! Also! nichts als dieses schmutzige Logierhaus mit Service für die Sinne des XIX. Jahrhunderts! Kein Palast, keine Blumen, keine Wasserspiele, keine Féerien, keine in Gazewolken gehüllten Frauen, keine Gemälde, keine Thermalbäder, alles, was die Sinne der Antike einlud, sie lockte, sie bezauberte, all diese Kunst, großartige Statistin an der Tür zum antiken Freudenhaus! Also, wenn morgen Montmartre vesuvierte und man Paris ausgraben würde wie Pompeji, oh! Erstaunen, wenn aus der Asche der Priapeion der Rue Joubert hervorkäme! Es würde die Nachwelt glauben lassen, wir wären ein Volk von Türstehern gewesen, die Tellerwäscherinnen in der Dekoration und dem Mobiliar eines Paul-de-Kock-Romans rammelten.*
Interessant neben der plastischen Schilderung des Etablissements ist der verfremdende Perspektivwechsel am Ende, der Blick aus der Zukunft auf die eigene Gegenwart – heute ein Allgemeinplatz,** aber: wann kam man darauf – oder genauer: wann konnte man darauf kommen, solches zu imaginieren? Wir meinen jetzt nicht bloß die Möglichkeit zu einer proleptischen Analepse, sondern die spezifisch archäologische Perspektive auf die Gegenwart, die imaginierte Rekonstruktion der eigenen Zeit, vorgenommen von den künftigen …


* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 1, S. 568ff. Auch Molly Bloom wollte einen Roman von ihm aus der Leihbibliothek: »Get another of Paul de Kock’s. Nice Name he has.« (James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 57).
** Von Ludwig Hirsch gab es so ein Lied, in dem es darum ging, daß außerirdische Archäologen nach dem Untergang der Menschheit auf die Erde kämen und in einem ehemaligen Disneyland Ausgrabungen machten und Micky Mouse, Goofy, Donald Duck et cetera für die Erdenbewohner hielten.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).