Freitag, 20. November 2015

Nach was es aussieht

»Sowohl als auch« als vernünftige und ausgewogene Möglichkeit einer Antwort

Wenn Sie bitte verzeihen wollen, daß ich eine vorherige Frage absichtlich grob formuliert habe, und wenn Sie bitte akzeptieren wollen, daß ich sie hier und jetzt so formuliere, daß vernünftige, ausgewogene Möglichkeiten in Ihrer Antwort ausgeschlossen werden, darf ich Sie jetzt noch einmal fragen, ob Sie, beim Geschlechtsverkehr, einen rammelnden Stil, ähnlich dem Flug der Fledermaus, bevorzugen oder einen subtilen Stil wie ein Wurm, der sich durch Schmutz frißt?

(Padgett Powell, Roman in Fragen, übersetzt von Harry Rowohlt, Berlin 2. Aufl. 2012, S. 53; die vorherige Frage, ebd., S. 36, lautete: »Ziehen sie beim Geschlechtsverkehr das Rammeln oder subtilere Bewegungen vor?« – die modifizierte Wiederholung dieser Frage motivierte das Zitat, sollten weitere Modifikationen dieser Frage folgen, werde ich sie hier zitieren – ansonsten gilt, wie gesagt, ungeachtet aller dysfunktionalen Metaphern: sowohl als auch).

Mittwoch, der 20. November 2013


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Wieder am Schreibtisch entschied sich Hans Köberlin für Morton Feldman, denn …
Live goes on very much like a piece by Morty Feldman.*
… begann zuvor jedoch mit einem seiner, Hans Köberlins, Lieblingsalben der obersten Kategorie, nämlich mit Fred Frith’ The Previous Evening, Musik komponiert für Tanztheater, Musik, mit der Frith dem Musikertrio aus der Stadt, die niemals schlief – John Cage, Morton Feldman und Earle Brown – in ihrer Manier, aber dabei typisch frithisch, ein Denkmal gesetzt hatte. »Let me say that I am as ever changing, while Feldman’s music seems more to continue than to change«, äußerte John Cage in seiner Lecture on Something,** und genau das war der Punkt, der Hans Köberlin faszinierte und der ihm die Musik für das Hören beim Schreiben so geeignet machte.
In Canettis Kafkaessay las er: »Er (Kafka) beweist sich damit (mit seinen detaillierten Beschreibungen in den Briefen an Felice Bauer) als Dichter im flaubertschen Sinn, für den nichts trivial ist, wenn es nur stimmt.« Das war auch Hans Köberlins Ideal, wobei er den Nachsatz auf die Form oder die Stimmigkeit innerhalb einer Stilentscheidung beziehen würde. Man mußte natürlich darauf achten, nicht der Gefahr zu erliegen, alles zu ästhetisieren. Nichts war zwar trivial und alles war zwar wert, beschrieben zu werden, aber nicht alles Beschriebene durfte auch Gnade unter den Augen des Beschreibenden finden. Was Hans Köberlin suchte, das waren Anlässe, die ihn zum Schreiben veranlaßten, und er wollte dazu kommen, daß ihn alles zum Schreiben veranlassen konnte, unabhängig von seinem eigenen jeweiligen Zustand. Später las er noch eine Passage, die er aus dem Kontext riß: »… daß er (Kafka) sich hier häufiger wiederholen durfte und damit einem wesentlichen Bedürfnis seiner Natur nachgeben kann (…) die Möglichkeit von Wiederholungen bis zur Litanei. Wenn jemand sich über die Notwendigkeit und die Funktion von Litaneien klar war, so war es Kafka.« Canettis Lesart war so stimmig, daß sie als seine Konstruktion aufschien, wie es immer so ist: man schreibt über sich und es paßt auf den Gegenstand … die glücklichen Momente … Kierkegaards Schrift Die Wiederholung hatte er, wie gesagt, neben anderen Schriften des Mannes aus dem Lande Hamlets und Lars von Triers, in seine Basisbibliothek aufgenommen …
Wie jeder weiß, trat Diogenes als Opponent auf, als die Eleaten die Bewegung leugneten. Er trat wirklich auf, denn er sagte nicht ein Wort, sondern ging nur ein paarmal hin und her, wodurch er jene ausreichend widerlegt zu haben glaubte. Als ich mich, zumindest gelegentlich, längere Zeit mit dem Problem beschäftigt hatte, ob eine Wiederholung möglich sei und welche Bedeutung diese habe, ob etwas durch Wiederholung gewinne oder verliere, fiel es mir plötzlich ein: Du kannst ja nach Berlin reisen, da bist du früher schon einmal gewesen, und nun überzeuge dich, ob eine Wiederholung möglich ist und was sie zu bedeuten hat. Bei mir zu Hause war ich mit diesem Problem nahezu ins Stocken geraten. Man sage darüber, was man will, es wird eine sehr wichtige Rolle in der neueren Philosophie spielen; denn Wiederholung ist der entscheidende Ausdruck für das, was bei den Griechen ›Erinnerung‹ war. So wie diese damals lehrten, daß alles Erkennen ein Erinnern ist, so will die neue Philosophie lehren, daß das ganze Leben eine Wiederholung ist. Der einzige neuere Philosoph, der hiervon eine Ahnung hatte, ist Leibniz. Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert. Deshalb macht die Wiederholung, wenn sie möglich ist, einen Menschen glücklich, während die Erinnerung ihn un-glücklich macht, allerdings unter der Voraussetzung, daß er sich Zeit läßt zu leben und nicht sofort in seiner Geburtsstunde einen Vorwand sucht, sich wieder aus dem Leben herauszuschleichen, z. B. daß er etwas vergessen hat.
»Nach vorwärts erinnern …«: er konnte schon erstaunliche Gedanken niederschreiben, der Mann aus dem Lande Hamlets und Lars von Triers …
»Ich bin hier, um mir Zeit zu lassen zu leben.«


* John Cage, Lecture on Something; in: Silence. Lectures and writings by John Cage, Hanover / New England 1961, S. 131.
** Ebd., S. 128. Weiter hieß es dort: »There never was and there is not now in my mind any doubt about its beauty. It is, in fact, sometimes too beautiful. The flavor of that beauty, which formerly seemed to me to be heroic, strikes me now as erotic (an equal, by no means a lesser, flavor).« (ebd.). – Nun, als zu schön empfand Hans Köberlin die Musik nicht, sie war genau richtig schön, und das Erotische empfand er natürlich als ein weitaus höherrangiges Aroma denn das Heroische.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).