Montag, 27. April 2015

Hans Köberlin und die Musik #3

Bevor er nun chronologisch die einzelnen Phasen von Hans Köberlins Musikrezeption vorstelle, möge man ihm einige allgemeine Bemerkungen über die Unterscheidung in populäre und nichtpopuläre Musik erlauben, eine Unterscheidung, die entgegen der landläufigen Meinung nicht gleichzusetzen sei mit der Unterscheidung in sogenannte Unterhaltungsmusik und sogenannte ernsthafte Musik und die schon gar nicht ein ästhetisches Qualitätsurteil impliziere. Nein, ihm gehe es bei dieser Unterscheidung um die verschiedenen Distributionswege, die damit einhergingen. Und er entwarf verschiedene Möglichkeiten musikalischer Seilschaften, die für die Verbreitung unpopulärer Musik sorgten und die zu so etwas führten, was der Verleger eben als unter seinesgleichen bezeichnet hatte, analog dem etwa, was Ernst Jünger einmal bezüglich der Sterne-Leser als den geheimen Orden der Shandyisten bezeichnet hatte. Daraus ergaben sich Bezüge und Konstellationen, die ähnlich wie bei dem eben erwähnten Robert Walser als Schiboleth dienen konnten. Fred Frith bezeichnete der Referent als den populärsten unter den nichtpopulären Musikern.
Dann kam er zu Hans Köberlin zurück, es gäbe da etwas, über das man nicht sprechen müsse, quasi vor dem Anfang, da wäre der kleine Hans noch unter zehn gewesen, Komm zu mir habe der Schlager geheißen und, wenn er recht informiert sei, Edina Pop habe ihn gesungen, hier nur der Refrain und auch nur gesprochen (der Referent intonierte betont ernsthaft, als trage er wahre Poesie vor):
Komm, komm zu mir,
du mußt nicht lange fragen,
die Tür ist offen wie mein Herz.
Komm, komm zu mir,
du kannst es ruhig wagen,
denn sowas sag ich nie zum Scherz.
Das glaube man dem kleinen Hans, daß er damit nicht scherze, flüsterte Clemens dem Verleger zu, der wiederum zu Emilia hinschielte.

(aus: … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 477f.; siehe → #4).

Hans Köberlin und die Musik #2

Nähme man Adornos Typen musikalischen Verstehens, so der Referent weiter, dann könne man Hans Köberlin zu den guten Zuhörern zählen. Der gute Zuhörer, Zitat, höre über das musikalisch Einzelne hinaus; vollziehe spontan Zusammenhänge, urteile begründet, nicht bloß nach Prestigekategorien oder geschmacklicher Willkür, aber er sei der technischen und strukturellen Implikationen nicht oder nicht voll sich bewußt, er verstehe Musik etwa so, wie man die eigene Sprache verstehe, auch wenn man von ihrer Grammatik und Syntax nichts oder wenig wisse, unbewußt der immanenten musikalischen Logik mächtig, Zitatende.
Dann hantierte der Referent erneut an dem Laptop herum, und an der Stelle der Notation erschien ein von Ray Smith gestaltetes Plattencover der britischen Band Henry Cow, jene legendäre Socke grob aus roten und blauen Elektrokabeln gestrickt, das Ende des Beines (spät erst war bei Clemens der Groschen gefallen), wozu Musik erklang.


Teenbeat, flüsterte Clemens dem Verleger zu, der nippte wissend an seinem Wein und meinte bestätigend, man befände sich unter seinesgleichen. Was man soeben gehört habe, so der Referent nach dem Ausklingen der letzten Töne, hieße Teenbeat und sei ein sehr frühes Stück, das Fred Frith als Mitglied der britischen Band Henry Cow eingespielt habe, ein Stück, in dem die wichtigsten Aspekte der Musik dieses Genies bereits angelegt seien, in seinen eigenen Worten: a beautiful living and breathing beast that was always fun to play and had all kinds of hidden subtileties. Fred Frith – ein Multiinstrumentalist – sei der Musiker, dessen OEuvre den erwachsenen Hans Köberlin ständig begleitet und ihm über weite Strecken den Soundtrack seines Lebens geliefert habe und der ihn auch häufig beim Schreiben beeinflußt habe, explizit zum Beispiel das Album Dropera bei dem Ende seines ersten Romans, für Köberlin sei Fred Frith der bedeutendste zeitgenössische Musiker gewesen, und nicht nur zeitgenössische, zurecht, wie er glaube, deswegen habe er dieses Beispiel auch an den Anfang seines Vortrags gestellt.

(aus: … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 476f.; siehe → #3).

Hans Köberlin und die Musik #1

Der nächste Referent stand bereits am Rednerpult, das er ohne Hilfe des Busenfreundes fachkundig in die seiner Größe angemessene Höhe gekurbelt hatte. Er legte eine CD in den Laptop, wollte anheben, sah den Verleger mit dem Tablett und wartete, bis der an seinem Platz angekommen war, seine Nachbarn ihn von der Last befreit hatten und er sich hinsetzen konnte. Die drei duckten sich weg und machten sich unauffällig an den Verzehr ihrer Brezeln.
Der Mann klopfte Toc, Toc, Toc auf das Mikrophon, räusperte sich dann und nannte seinen Namen, sagte, daß er Hans Köberlin von dessen einundzwanzigstem Lebensjahr an gekannt und mit ihm eine Weile in einer Kommune gelebt habe, und daß er hier nun über Hans Köberlins Verhältnis zur Musik und seine diesbezüglichen Neigungen referieren wolle. Um es gleich vorweg zu sagen: Hans Köberlin sei zeitlebens nur ein Rezipient von Musik gewesen, wenn auch ein elaborierter, von Musik als der sinnlichsten aller Künste, gemäß dem von Hanns Zischler überlieferten Wort Godards, Musik drücke nicht die Seele, sondern den Körper einer Frau aus; Köberlin sei jedoch, was das Machen von Musik betraf, vollkommen untalentiert gewesen und habe keine Noten lesen können, und die zwei oder drei Dinge, die es da gab und die, wie er gehört habe, im Rahmen der Werkausgabe auf der Daten-DVD erscheinen würden, das seien reine Kuriosa, musikalisch völlig nichtssagend. Er wolle deswegen hier bloß einen dieser musikalischen Versuche anführen, nämlich jenen mit Swallow Songs betitelten, bei dem sich Köberlin sehr stark – und sehr stark wäre noch untertrieben – an John Cage orientiert habe.
An einem lauen Sommerabend beim Weizenbier an einem See im Osten (aber von hier aus im Nordwesten) sitzend habe Köberlin relativ gedankenlos, wie er ausdrücklich in einem Brief an ihn vermerkt habe, auf das Dach eines Bauernhofes, unter dessen Traufe viele Schwalben nisteten, geschaut. Auf dem Dach habe es eine Fernsehantenne mit fünf Querstreben gegeben, auf denen die Schwalben zwischen ihren abendlichen Fliegenjagden gesessen hätten, aber nicht still, es habe ein ständiges Hin und Her und Kommen und Gehen gegeben, und irgendwann habe Köberlin damit begonnen, die Positionen der Schwalben auf den Querstreben der Fernsehantenne auf eine Serviette zu notieren. Herausgekommen sei dabei folgendes … Er hantierte eine Weile an dem Laptop herum … Da Köberlin, wie gesagt, keine Noten … er hantierte … die spielbare Notation stamme von ihm … er hantierte weiter und an der Stelle der vermutlich letzten Photographie Hans Köberlins, gemacht vermutlich von seiner unbekannten Reisebegleiterin, erschien … So …


Das, so der Referent, höre sich etwa so an … Und man hörte eine Aufnahme, bei der jemand – vemutlich der Referent – das auf einem Klavier gespielt hatte, was einer, der Noten lesen konnte, bereits in seiner Vorstellung (dabei den Kopf schüttelnd) gehört haben mochte. Aha … kurios, sehr kurios!

(aus: … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 474ff.; siehe → #2).

Noch ein denkwürdiger Tag (heute)

Heute habe ich bei der Überarbeitung von ¡Hans Koberlin vive! quasi – wenn dieser martialische Begriff in dem Kontext einmal erlaubt sei – die Front erreicht; das heißt: ich bin jetzt da, wo ich Mitte August 2014 in Calpe vor meiner Rückreise mit dem Schreiben aufgehört habe (die Überarbeitung hat die Frontlinie mittlerweile bis zu S. 666 vorgetrieben) …

 [129 / 195]
An diesem Freitag, dem 7. Februar 2014, gab es – kaum zu glauben! – kein archiviertes Filmkalenderblatt und auch der neue Zitatenkalender gab nichts unmittelbar Bemerkenswertes her und auch der postexilische Zitatenkalender des Jahres 2015 nicht. Hans Köberlin hatte geträumt, er wäre in einer Wandergruppe, es ging durch Wälder und auf asphaltierten Straßen entlang von Bächen in die kreisfreie Stadt Kaufbeuren; oder aber die kreisfreie Stadt Kaufbeuren sollte das Ende der ersten Etappe sein. Alle waren am Abend erschöpft, worüber Hans Köberlin sich wunderte, denn er merkte nichts von dem Gehen und wäre am liebsten noch weiter gegangen. Die Gruppe saß in einem Gasthaus, übernachtet sollte, glaubte Hans Köberlin sich zu erinnern, in einer Art Jugendherberge werden. Dann war er auf einem Bahnhof und stieg eine Treppe hinab, die nach 39 Stufen plötzlich im Nichts aufhörte. Es waren Bauarbeiten zugange und er stand ungefähr zehn Meter über dem Boden und hatte Angst, hinunterzufallen. Die Bauarbeiter meinten, er solle sich nicht so anstellen und einer sprang zur Demonstration von ganz oben hinunter und landete nach einem dieser typischen Zeitlupentraumsprünge auf einem Kühlschrank, der unten stand, so ein laut brummender Kühlschrank, wie die Frau ihn in der Küche hatte. Das wollte Hans Köberlin auf keinen Fall versuchen, obwohl es bei dem Bauarbeiter leicht ausgesehen hatte. Dann kam noch ein Mensch, ein Rucksacktourist, der vor dem gleichen Problem wie Hans Köberlin stand, worauf der froh war, nicht mehr allein in dieser mißlichen Lage zu sein, denn jetzt mußten sie etwas unternehmen. Einer der Bauarbeiter improvisierte und ein Eisengitter, wie es zur Bewehrung von Beton benutzt wurde, kam an einem Seil von oben herab. An das klammerten sich der Rucksacktourist und Hans Köberlin und derart wurden sie auf den Boden herabgelassen. Dann waren da irgendwelche Sätze, die modifiziert werden wollten, die Sätze quasi in Form von Gegenständen oder Ereignissen, die wie ein Film vor Hans Köberlin abliefen, und er kam nicht so recht weiter damit.
Sein Echtermeyer-Sortilegium nach dem Erwachen führte ihn zu Angelus Silesius …

Das Wort, das dich und mich und alle Dinge trägt,
Wird wiederum von mir getragen und gehegt.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur], 31. Januar bis 9. Februar 2014; vgl. auch Empirie).

Zufällige Erinnerung an einen denkwürdigen Tag

Samstag, den 21. [Juni 2008] – Mein ganzes bisheriges Leben kommt mir im Augenblick so vor wie eine einzige Aneinanderreihung von genußvoll bei einem Glas guten Rotweins oder nach dem Essen zu Espresso und Cognac oder Trester inhalierten Zigaretten. Und das soll jetzt vorbei sein … Die letzte Zigarette ist weg und ich denke an nichts anderes als an das Rauchen.