
Weil Hans Köberlin heute seinen Dauerlauf nicht absolvierte, gab es nur eine Katzenwäsche. Dann bereitete er sich sein Frühstück, zu dem er, wie gestern beschlossen, nochmals jenes Konzert hörte, das Miles Davis am 27. Juli 1963 auf dem festival de jazz d’Antibes Juan-les-Pins gegeben hatte. Wir sind natürlich neugierig auf den Vergleich mit der Rezeptionssituation vom Montag, dem 30. Dezember 2013 […] der Hörer und sein Beobachter oder sein Zuhörer und letztlich auch sein Mithörer, beide nicht gerade oben auf der AdornoSkala …
Das Set begann wieder mit der Ansage von André Francis – »’erbie ’ancock« –, anschließend los ging es mit Autumn Leaves, ein Stück, auf das man sich meist verlassen konnte, wie auf My Funny Valentine und ’Round Midnight. Die Musiker kamen Hans Köberlin entspannter vor als gestern, es war eine angenehme melodische Viertelstunde, dann kam Milestones, auch das gefiel ihm, obwohl es sehr schnell zuging, es wurde differenziert interpretiert, auch bei den Soli. Hans Köberlin hatte bei dem Hören von Milestones immer den Verdacht, daß Michel Legrand ein paar Takte, die nach dem Intro kamen, in seinem Soundtrack zu Bande à part (1964) verwendet oder zumindest beim Komponieren an das Stück gedacht hatte. Es folgte I Thought About You, auch das kam ihm wunderbar vor, vor allem Herbie Hancocks Solo. Langsam, schnell, langsam … es folgte Joshua, und Hans Köberlin beschlich der Verdacht, daß seine ästhetischen Urteile in weiten Bereichen von seiner jeweiligen, wie man so sagte: Tagesform, was die Rezeption betraf, abhingen, denn gespannt hörte er nun zu. Man müßte das Joshua von gestern und das Joshua von heute jeweils häppchensweise hintereinander hören … aber die Mühe wollte er sich nicht machen. Bei dem folgenden All Of You, dem längsten Stück des Sets, begann Miles Davis sein Spiel mit dem Dämpfer, es folgten die Soli in der üblichen Reihenfolge, fast schon zu gefällig, aber es blieb noch im Rahmen und Miles Davis schloß, immer noch mit dem Dämpfer, ab. Dann kam Walkinʼ in der ›Runninʼ‹-Version, Hans Köberlin, der mittlerweile mit dem Frühstück fertig war, hatte sich mit seiner Teetasse zurückgelehnt und dachte an Borgesʼ Pierre Menard, autor del Quijote: Walkinʼ gehört von den Musikern gespielt 1963 in Antibes und dasselbe Walkinʼ gehört 2014 an der weißen Küste. gehört mit zwei mittelmäßigen Lautsprechern und mit dem Wissen um Agharta und Pangaea (1975), über diesen Gedanken hatte Tony Williams sein Solo … es war ein Zugang über ein Interesse an der aktuell gehörten Musik selber hinaus, es war nicht zeitlos, trotz der beeindruckenden Momente in George Colemans Solo … Agharta und Pangaea waren zeitlos und hatten in Hans Köberlins Ohren alles, was nach 1980 von Miles Davis noch gekommen, überdauert. Aber er hatte heute wirklich einen guten Willen und blieb dabei, auch als Herbie Hancock von dem Rausch der Geschwindigkeit gepackt wurde. Als Abschluß vor dem Thema gab es, wieder mit Dämpfer, Bye Bye Blackbird, etwas Unverwüstliches von ganz früher aus dem Jahre 1926, mit viel Melodie, »Sugar’s sweet, so is she, bye bye blackbird …« Das Thema ging diesmal sogar über sechs Minuten, es schien also auch Miles Davis sehr entspannt gewesen zu sein.
Am Montag, dem 30. Dezember 2013, als das Ritual gerade zum sechsten Mal stattgefunden, war die Frau bei Hans Köberlin gewesen und sie hatten auf der vorderen Dachterrasse gefrühstückt, das waren natürlich andere Rezeptionsbedingungen. Damals, also vor dem Ritual, hatte Hans Köberlin relativ selten Mitschnitte von Konzerten Miles Davisʼ aus der Zeit vor 1967, obwohl er sie gesammelt, gehört, jetzt, nachdem die elektrischen Sachen alle gehört worden waren, steckte er quasi mitten drin … Aber wir wollen das alles nicht überbewerten, im Grunde dachte er damals wie heute bei jedem Stück immer bloß »gefällt mir« oder »gefällt mir nicht so«, Gründe für letzteres Urteil waren in seinen Ohren ein zu schnelles Spiel, später der übertriebene Einsatz von Perkussionsinstrumenten und schließlich der zu glatte und weichgespülte Disco-Funk, das wurde alles in den vergangenen Wochen erörtert. Miles Davisʼ Autobiographie und Ian Carrs Analysen hatte er hier nicht zur Hand, im weltweiten Netz war er während seiner Nachmittage in der ›Tango Bar‹ nur selten den Hintergründen einzelner Titel oder Sets nachgegangen, also alles ziemlich dilettantisch, Eindrücke, deren Wiedergabe nur unserer Chronistenpflicht geschuldet ist … Hans Köberlin jedenfalls war nun neugierig, ob es bei dem dritten Konzert in Antibes noch entspannter, sowohl was die Musiker als auch was ihn betraf, zugehen würde.
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Sechste Phase ‒ oder: Gift und Geschlechtsverzweiflung] Vom 13. März bis zum 10. April 2014, S. 1712f.).