Donnerstag, 30. April 2015

Satori

Denn niemand ist da, der etwas gewahr wird, noch ist etwas vorhanden, das zum Gegenstand des Gewahrwerdens wird. Trotzdem gib es deutlich einen Zustand des Gewahrseins.

(Deisetz Teitaro Suzuki, Leben aus Zen. Mit einer Einführung in die Texte von Wei-Lang (Hui-neng), Frankfurt am Main 1982, S. 91).

Dienstag, 28. April 2015

Bernardo Soares super grammaticam

Will ich sagen, daß ich existiere, werde ich sagen: »Ich bin.« Will ich sagen, daß ich als einzelne Seele existiere, werde ich sagen: »Ich bin ich.« Will ich aber sagen, daß ich als Wesenheit existiere, die sich an sich selbst richtet und sich selbst gestaltet und der göttlichen Aufgabe des Sich-selbst-Erschaffens nachkommt, wie könnte ich da das Verb »sein« anders verwenden als auf der Stelle transitiv! Dann werde ich triumphierend und über alle Grammatikregeln erhaben sagen: »Ich bin mich.«

(Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 96; Pessoas Hauptwerk hat übrigens auch Kommissarin Eva Saalfeld in dem grottenschlechten Tatort vom vergangenen Sonntag gelesen).

Hans Köberlin und die Musik #4 und Beschluß

Aber jetzt zu den Anfängen der bewußten Musikrezeption Hans Köberlins, noch nicht als guter Zuhörer, aber auf dem Weg dorthin, mit dem ersten Radiorecorder von Philips, BASF Cassetten, C120, den entsprechenden Bandsalat reparierte man selber mit Tesafilm, hier ergaben sich Stellen, die man – die Macht der Gewohnheit – nie mehr unverstümmelt hören konnte, zu Zeiten des Glamrocks (man hörte nun von T. Rex Children of the Revolution) und der sogenannten Oldies, als was man damals die Musik von den Anfängen des Rock’n’Roll über die Musik der Beatles und der frühen Rolling Stones bis zu der Musik der Zeit von Woodstock bezeichnete (man hörte – nicht von dem Festival – Jimi Hendrix’ Version von Bob Dylans All along the Watchtower), und eingeschlossen in das Glitternde und Glitzernde auf der einen und das Expressive, nach Authentizität Lechzende auf der anderen Seite, eingeschlossen wie eine Perle in einer Auster, also wenn einer das Prädikat progressiv verdient habe, dann CAN (man hörte – natürlich – Spoon), auch denen sei Köberlin sein Leben lang treu geblieben. Dann der sogenannte Artrock, unter deren Bands aber bloß Pink Floyd (man hörte Whish you where here) und King Crimson übergeblieben wären, dann ein kurzer Abstecher zu Bands aus den USA, wie etwa den Allman Brothers, Hot Tuna und Grateful Dead (es gab eine Sequenz aus Dark Star), wobei Hans Köberlin letzteren gleichfalls treu blieb, die Doors (man hörte Love Street) nähmen hier eine Sonderstellung ein, denn mit denen sei er damals in die Welt gezogen, hier läge allerdings wegen Köberlins modifiziertem Verhältnis zu Drogen eine partielle Untreue vor, und dann – endlich! – dann käme die Entdeckung des Jazz (hier kam prompt Miles Davis, der Anfang von Pharaoh’s Dance) sowie die Entdeckung Frank Zappas, Kevin Coynes, der Canterbury Szene (Robert Wyatt, Kevin Ayers, Daevid Allen et cetera) und schließlich die Entdeckung Fred Frith’ sowie die der New York Downtownszene um den genialen Saxophonisten John Zorn (hier kam – nicht ganz repräsentativ für seinen Stil, aber was hätte das bei der Vielfalt auch sein sollen?! – John Zorns Interpretation von Ennio Morricones The Sicilian Clan von dem ersten Naked City Album, und Clemens und der Verleger – zwei Deppen und ein Gedanke – nannten Emilia den Titel, die jedoch Film sowie Soundtrack selber kannte) und schließlich die Entdeckung der zeitgenössischen Musik, etwa Stockhausen, Holliger, Xenakis und Goebbels. Dazwischen habe es immer Einschübe der sogenannten klassischen Musik gegeben, hier vor allem Bach – hier mußte natürlich der Name Glenn Gould fallen –, die Kammermusik der ersten wiener Schule, die drei großen Opern von Mozart und da Ponto (man hörte Leporellos Listenarie), dann natürlich das fin de siècle, das Klavierwerk Eric Saties und die Symphonien Mahlers.
Dann zog der Referent einige Schlüsse über die Entwicklung von Köberlins Hörgewohnheiten und seinem Musikverständnis, etwa sein heikler Umgang mit dem Pathos, die Rolle des Rhythmus’, Köberlins Aneignungsmethode von extrem komplexer neuer Musik (mittels Verknüpfung mit den diversen Rezeptionssituationen), seinen musikalischen Stimmungen, idiosynkratischen Reaktionen (Der letzte Trottel kann einem die beste Musik vergällen!) und dem, Zitat Köberlin: permanenten Soundtrack zu seinem Leben im Kopf, Zitatende, et cetera. Neben den eben erwähnten gab der Referent noch andere Hörbeispiele, während denen er die Cover der Alben oder Bilder der Musiker und Komponisten an die Wand projizierte. Man kam sich vor wie in Thomas Manns Zauberbergkapitel In der Fülle des Wohllauts, das war sehr angenehm und hätte noch eine zeitlang so weitergehen können. Einige notierten sich, wohl das bedenkend, was sie über die Distributionswege unpopulärer Musik gehört hatten, die Titel der Alben, und am Ende wurde der Referent mit großem Applaus bedacht, als hätte er selber ein Konzert gegeben. Ein paar Leute fragten nach Musik, die sie wohl persönlich bevorzugten, dann war es gut.

(aus: … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 478ff.).

Montag, 27. April 2015

Hans Köberlin und die Musik #3

Bevor er nun chronologisch die einzelnen Phasen von Hans Köberlins Musikrezeption vorstelle, möge man ihm einige allgemeine Bemerkungen über die Unterscheidung in populäre und nichtpopuläre Musik erlauben, eine Unterscheidung, die entgegen der landläufigen Meinung nicht gleichzusetzen sei mit der Unterscheidung in sogenannte Unterhaltungsmusik und sogenannte ernsthafte Musik und die schon gar nicht ein ästhetisches Qualitätsurteil impliziere. Nein, ihm gehe es bei dieser Unterscheidung um die verschiedenen Distributionswege, die damit einhergingen. Und er entwarf verschiedene Möglichkeiten musikalischer Seilschaften, die für die Verbreitung unpopulärer Musik sorgten und die zu so etwas führten, was der Verleger eben als unter seinesgleichen bezeichnet hatte, analog dem etwa, was Ernst Jünger einmal bezüglich der Sterne-Leser als den geheimen Orden der Shandyisten bezeichnet hatte. Daraus ergaben sich Bezüge und Konstellationen, die ähnlich wie bei dem eben erwähnten Robert Walser als Schiboleth dienen konnten. Fred Frith bezeichnete der Referent als den populärsten unter den nichtpopulären Musikern.
Dann kam er zu Hans Köberlin zurück, es gäbe da etwas, über das man nicht sprechen müsse, quasi vor dem Anfang, da wäre der kleine Hans noch unter zehn gewesen, Komm zu mir habe der Schlager geheißen und, wenn er recht informiert sei, Edina Pop habe ihn gesungen, hier nur der Refrain und auch nur gesprochen (der Referent intonierte betont ernsthaft, als trage er wahre Poesie vor):
Komm, komm zu mir,
du mußt nicht lange fragen,
die Tür ist offen wie mein Herz.
Komm, komm zu mir,
du kannst es ruhig wagen,
denn sowas sag ich nie zum Scherz.
Das glaube man dem kleinen Hans, daß er damit nicht scherze, flüsterte Clemens dem Verleger zu, der wiederum zu Emilia hinschielte.

(aus: … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 477f.; siehe → #4).

Hans Köberlin und die Musik #2

Nähme man Adornos Typen musikalischen Verstehens, so der Referent weiter, dann könne man Hans Köberlin zu den guten Zuhörern zählen. Der gute Zuhörer, Zitat, höre über das musikalisch Einzelne hinaus; vollziehe spontan Zusammenhänge, urteile begründet, nicht bloß nach Prestigekategorien oder geschmacklicher Willkür, aber er sei der technischen und strukturellen Implikationen nicht oder nicht voll sich bewußt, er verstehe Musik etwa so, wie man die eigene Sprache verstehe, auch wenn man von ihrer Grammatik und Syntax nichts oder wenig wisse, unbewußt der immanenten musikalischen Logik mächtig, Zitatende.
Dann hantierte der Referent erneut an dem Laptop herum, und an der Stelle der Notation erschien ein von Ray Smith gestaltetes Plattencover der britischen Band Henry Cow, jene legendäre Socke grob aus roten und blauen Elektrokabeln gestrickt, das Ende des Beines (spät erst war bei Clemens der Groschen gefallen), wozu Musik erklang.


Teenbeat, flüsterte Clemens dem Verleger zu, der nippte wissend an seinem Wein und meinte bestätigend, man befände sich unter seinesgleichen. Was man soeben gehört habe, so der Referent nach dem Ausklingen der letzten Töne, hieße Teenbeat und sei ein sehr frühes Stück, das Fred Frith als Mitglied der britischen Band Henry Cow eingespielt habe, ein Stück, in dem die wichtigsten Aspekte der Musik dieses Genies bereits angelegt seien, in seinen eigenen Worten: a beautiful living and breathing beast that was always fun to play and had all kinds of hidden subtileties. Fred Frith – ein Multiinstrumentalist – sei der Musiker, dessen OEuvre den erwachsenen Hans Köberlin ständig begleitet und ihm über weite Strecken den Soundtrack seines Lebens geliefert habe und der ihn auch häufig beim Schreiben beeinflußt habe, explizit zum Beispiel das Album Dropera bei dem Ende seines ersten Romans, für Köberlin sei Fred Frith der bedeutendste zeitgenössische Musiker gewesen, und nicht nur zeitgenössische, zurecht, wie er glaube, deswegen habe er dieses Beispiel auch an den Anfang seines Vortrags gestellt.

(aus: … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 476f.; siehe → #3).

Hans Köberlin und die Musik #1

Der nächste Referent stand bereits am Rednerpult, das er ohne Hilfe des Busenfreundes fachkundig in die seiner Größe angemessene Höhe gekurbelt hatte. Er legte eine CD in den Laptop, wollte anheben, sah den Verleger mit dem Tablett und wartete, bis der an seinem Platz angekommen war, seine Nachbarn ihn von der Last befreit hatten und er sich hinsetzen konnte. Die drei duckten sich weg und machten sich unauffällig an den Verzehr ihrer Brezeln.
Der Mann klopfte Toc, Toc, Toc auf das Mikrophon, räusperte sich dann und nannte seinen Namen, sagte, daß er Hans Köberlin von dessen einundzwanzigstem Lebensjahr an gekannt und mit ihm eine Weile in einer Kommune gelebt habe, und daß er hier nun über Hans Köberlins Verhältnis zur Musik und seine diesbezüglichen Neigungen referieren wolle. Um es gleich vorweg zu sagen: Hans Köberlin sei zeitlebens nur ein Rezipient von Musik gewesen, wenn auch ein elaborierter, von Musik als der sinnlichsten aller Künste, gemäß dem von Hanns Zischler überlieferten Wort Godards, Musik drücke nicht die Seele, sondern den Körper einer Frau aus; Köberlin sei jedoch, was das Machen von Musik betraf, vollkommen untalentiert gewesen und habe keine Noten lesen können, und die zwei oder drei Dinge, die es da gab und die, wie er gehört habe, im Rahmen der Werkausgabe auf der Daten-DVD erscheinen würden, das seien reine Kuriosa, musikalisch völlig nichtssagend. Er wolle deswegen hier bloß einen dieser musikalischen Versuche anführen, nämlich jenen mit Swallow Songs betitelten, bei dem sich Köberlin sehr stark – und sehr stark wäre noch untertrieben – an John Cage orientiert habe.
An einem lauen Sommerabend beim Weizenbier an einem See im Osten (aber von hier aus im Nordwesten) sitzend habe Köberlin relativ gedankenlos, wie er ausdrücklich in einem Brief an ihn vermerkt habe, auf das Dach eines Bauernhofes, unter dessen Traufe viele Schwalben nisteten, geschaut. Auf dem Dach habe es eine Fernsehantenne mit fünf Querstreben gegeben, auf denen die Schwalben zwischen ihren abendlichen Fliegenjagden gesessen hätten, aber nicht still, es habe ein ständiges Hin und Her und Kommen und Gehen gegeben, und irgendwann habe Köberlin damit begonnen, die Positionen der Schwalben auf den Querstreben der Fernsehantenne auf eine Serviette zu notieren. Herausgekommen sei dabei folgendes … Er hantierte eine Weile an dem Laptop herum … Da Köberlin, wie gesagt, keine Noten … er hantierte … die spielbare Notation stamme von ihm … er hantierte weiter und an der Stelle der vermutlich letzten Photographie Hans Köberlins, gemacht vermutlich von seiner unbekannten Reisebegleiterin, erschien … So …


Das, so der Referent, höre sich etwa so an … Und man hörte eine Aufnahme, bei der jemand – vemutlich der Referent – das auf einem Klavier gespielt hatte, was einer, der Noten lesen konnte, bereits in seiner Vorstellung (dabei den Kopf schüttelnd) gehört haben mochte. Aha … kurios, sehr kurios!

(aus: … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 474ff.; siehe → #2).

Noch ein denkwürdiger Tag (heute)

Heute habe ich bei der Überarbeitung von ¡Hans Koberlin vive! quasi – wenn dieser martialische Begriff in dem Kontext einmal erlaubt sei – die Front erreicht; das heißt: ich bin jetzt da, wo ich Mitte August 2014 in Calpe vor meiner Rückreise mit dem Schreiben aufgehört habe (die Überarbeitung hat die Frontlinie mittlerweile bis zu S. 666 vorgetrieben) …

 [129 / 195]
An diesem Freitag, dem 7. Februar 2014, gab es – kaum zu glauben! – kein archiviertes Filmkalenderblatt und auch der neue Zitatenkalender gab nichts unmittelbar Bemerkenswertes her und auch der postexilische Zitatenkalender des Jahres 2015 nicht. Hans Köberlin hatte geträumt, er wäre in einer Wandergruppe, es ging durch Wälder und auf asphaltierten Straßen entlang von Bächen in die kreisfreie Stadt Kaufbeuren; oder aber die kreisfreie Stadt Kaufbeuren sollte das Ende der ersten Etappe sein. Alle waren am Abend erschöpft, worüber Hans Köberlin sich wunderte, denn er merkte nichts von dem Gehen und wäre am liebsten noch weiter gegangen. Die Gruppe saß in einem Gasthaus, übernachtet sollte, glaubte Hans Köberlin sich zu erinnern, in einer Art Jugendherberge werden. Dann war er auf einem Bahnhof und stieg eine Treppe hinab, die nach 39 Stufen plötzlich im Nichts aufhörte. Es waren Bauarbeiten zugange und er stand ungefähr zehn Meter über dem Boden und hatte Angst, hinunterzufallen. Die Bauarbeiter meinten, er solle sich nicht so anstellen und einer sprang zur Demonstration von ganz oben hinunter und landete nach einem dieser typischen Zeitlupentraumsprünge auf einem Kühlschrank, der unten stand, so ein laut brummender Kühlschrank, wie die Frau ihn in der Küche hatte. Das wollte Hans Köberlin auf keinen Fall versuchen, obwohl es bei dem Bauarbeiter leicht ausgesehen hatte. Dann kam noch ein Mensch, ein Rucksacktourist, der vor dem gleichen Problem wie Hans Köberlin stand, worauf der froh war, nicht mehr allein in dieser mißlichen Lage zu sein, denn jetzt mußten sie etwas unternehmen. Einer der Bauarbeiter improvisierte und ein Eisengitter, wie es zur Bewehrung von Beton benutzt wurde, kam an einem Seil von oben herab. An das klammerten sich der Rucksacktourist und Hans Köberlin und derart wurden sie auf den Boden herabgelassen. Dann waren da irgendwelche Sätze, die modifiziert werden wollten, die Sätze quasi in Form von Gegenständen oder Ereignissen, die wie ein Film vor Hans Köberlin abliefen, und er kam nicht so recht weiter damit.
Sein Echtermeyer-Sortilegium nach dem Erwachen führte ihn zu Angelus Silesius …

Das Wort, das dich und mich und alle Dinge trägt,
Wird wiederum von mir getragen und gehegt.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur], 31. Januar bis 9. Februar 2014; vgl. auch Empirie).

Zufällige Erinnerung an einen denkwürdigen Tag

Samstag, den 21. [Juni 2008] – Mein ganzes bisheriges Leben kommt mir im Augenblick so vor wie eine einzige Aneinanderreihung von genußvoll bei einem Glas guten Rotweins oder nach dem Essen zu Espresso und Cognac oder Trester inhalierten Zigaretten. Und das soll jetzt vorbei sein … Die letzte Zigarette ist weg und ich denke an nichts anderes als an das Rauchen.

Samstag, 25. April 2015

Freitag, 24. April 2015

Eine zweifelhafte Gewohnheit

Diese – zweifelhafte – Gewohnheit des morgendlichen Photographierens behielt er in der Folge noch eine Weile lang bei, wobei er allerdings – zu seinem eigenen späteren Bedauern, als er nämlich anfing zu versuchen (wozu auch wir, wenn auch teilweise mit anderen Mitteln, angetreten), die Zeit mit dem Anlegen von Listen und Reihen zu verdichten – nicht darauf achtete, immer die gleiche oder zumindest (ohne Stativ) ungefähr die gleiche Perspektive beizubehalten, um an der Gleichheit – wir hatten das im Kontext mit unseren Anmerkungen zur Gewohnheit – die Variation zu goutieren.
Der Begriff ›Photographieren‹, so kam es Hans Köberlin in den Sinn, bezeichnete allerdings den Vorgang, den er da mit seinem Taschentelephon vollzog, eigentlich nicht mehr treffend, denn er ›schrieb‹ oder ›zeichnete‹ ja nicht mehr mit Licht, er meinte damit: er hatte keinen Film, oder wie ganz früher, keine Photoplatte mehr … was er da machte, so dachte er, könnte man vielleicht treffender als das ›Digitalisieren von Blicken‹ bezeichnen. Aber wie, kam es ihm daraufhin in den Sinn, wie war es dann mit dem Schreiben auf dem Computer? Sollte man das dann analog als das ›Digitalisieren von Semantik‹ oder gar von ›Sinn‹ (›Sinn‹ im Sinne Luhmanns) bezeichnen? »Der Computer, die Tastatur und das Wordprogramm als Paratexte meines Schreibens …« Da ging etwas durcheinander … Verfahren und Medien und Metaphern … Hans Köberlin war noch zu träge zum Denken, und aktuelle diesbezügliche wissenschaftliche Publikationen – das ›Bild‹ wurde gegenwärtig mittels einer eigenen Wissenschaft untersucht – hatte er nicht in seine Basisbibliothek aufgenommen, also belassen wir es bei ›Photographieren‹.


(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel III [Ankunft], 5. bis 9. Oktober 2013).

Dienstag, 21. April 2015

Empirie

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Das sagt was aus.
Was sagt das aus? 

Ein Moment am Donnerstag, dem 12. Juni 2008

Im Zug beim Betrachten der vorbeiziehenden Landschaft eingeschlafen und später wieder wach geworden, weil die Musik zu Ende war.

Man kann nicht alles haben

… der Drache ist vielleicht das bekannteste, aber gleichzeitig das unglücklichste aller Tiere der Phantasie.

(Jorge Luis Borges, Der westliche Drache; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 8: Einhorn, Sphinx und Salamander, Frankfurt am Main 1992, S. 47).

Montag, 20. April 2015

Noch ein Fundstück, diesmal von Benjamin und mit Quellenangabe

»Aus dem Erfahrungskreise der Schwelle hat das Tor sich entwickelt, das den verwandelt, der unter seiner Wölbung hindurchschreitet.«

(Walter Benjamin, Das Passagen-Werk; in: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1982, Bd. 5, S. 139; es geht ihm um den Arc de triomphe: »Das römische Siegestor macht aus dem heimkehrenden Feldherrn den Triumphator.«).

Man denkt bei dem Überschreiten der Stadtgrenze von Paris – »Nirgends, es sei denn in Träumen, ist noch ursprünglicher das Phänomen der Grenze zu erfahren als in Städten.« (ebd., S. 141) – natürlich gleich daran, wie Eddie Constantine alias Lemmy Caution in Alphaville, der Hauptstadt der Schmerzen, Jean-Luc Godards schwarzweißem Paris des Jahres 1965, ankommt, und wie er die Stadt mit Anna Karina alias Natacha Von Braun wieder verläßt …

Zwei Zitate von Hermann Broch, vor sieben Jahren ohne Quellenangabe zitiert

»Oft ist es, als ob man sein ganzes Leben darauf angelegt hätte, sich selbst Überraschungen zu bereiten, sich erstaunt oder erschreckt zu stellen vor etwas, das man selbst herbeigeführt hat.«

Und folgende Formulierung:

»… und sie lehnte am Fenster in der ruhigen Sicherheit ihrer Anmut.«

Sonntag, 19. April 2015

Tatort Nr. 52 (Essen): Die Abrechnung (Wolfgang Becker, 1975)

Wenn ich eine Fernsehproduktion aus den siebziger Jahren, die auch in dieser Zeit spielt, sehe, dann habe ich das Gefühl, daß da die Welt wohl noch in Ordnung gewesen sein mußte, obwohl ich aus eigener Erfahrung weiß, daß sie da auch nicht mehr oder weniger in Ordnung oder in Unordnung gewesen war als jetzt. Es geht auch nicht um meine Gemüths- oder Lebensumstände, nein, daß ich von diesen Fernsehfilmen so affiziert bin, das liegt vielleicht daran, daß das, was derzeit öffentlich geschieht, diese Mischung aus wohlfeilem Zynismus, Dummheit und Unverschämtheit, damals noch nicht so geschmacklos war, beziehungsweise: daß man sich noch genötigt sah zu versuchen, diese Mischung aus wohlfeilem Zynismus, Dummheit und Unverschämtheit zu camouflieren (vielleicht kann man sagen: man hatte damals noch ein natürliches Verhältnis zu dem Künstlichen, wohingegen man heute das Künstliche natürlich erscheinen lassen will), oder daran, daß etwas noch nicht so perfekt war oder sein mußte, oder auch daran, daß noch der letzte Hauch einer Aufbruchsstimmung (1968) nachwehte (wie wenig fundiert die auch immer gewesen sein mag). Es liegt vielleicht auch einfach daran, daß ich damals noch jung war (siehe Kafkas Kleine Fabel).

Die reiche Witwe Evelyn tötete ihren Schwiegervater und den Einbrecher, mit dem sie sich nur eingelassen hatte, um den Einbruch zu inszenieren, in dessen Kontext dann der Mord geschehen sollte.
Der Ablauf der Tat war von Anfang an klar, die Frau kam vor Gericht und ihr Anwalt Dr. Alexander – eine Karikatur von Rolf Bossi – paukte sie heraus und machte den ermittelnden Kommissar Haferkamp dabei lächerlich. Der Anwalt war der beste Freund des ermordeten Schwiegervaters und drohte seiner Mandantin Konsequenzen für den Fall an, sollte sich herausstellen, daß sie es doch getan hatte.
Die Stieftochter der reichen Frau hatte den Mord beobachtet, sie kam mit der Tat nicht klar und brachte sich um (wie setzte man die Tragik ins Bild, die der Selbstmord eines jungen Mädchens bedeutete? – nun: man zeigte, als ihr Körper nackt in der Pathologie lag, ihre schönen Brüste).
Die titelgebende Abrechnung des Anwalts, der aus dem Abschiedsbrief des Mädchens den Tathergang erfahren hatte, sah nun so aus, daß er den Selbstmord als Mord arrangierte, den er dann seiner Mandantin anlastete.

Das Ganze war keine Meisterleistung der Regieführung, der Anwalt hätte nicht so dick auftragen dürfen, alles war zu offensichtlich, aber: obwohl ich diese Episode mindestens schon zweimal gesehen hatte, langweilte ich mich an keiner Stelle. Es machte mir einfach Freude, den Leuten zuzuschauen. Gelungen war die Schilderung des Milieus von Haferkamp, die Behörden (die Beamten schämten sich noch nicht, welche zu sein und sahen auch noch so aus) und die Kneipen (damals noch Paradiese für Raucher und Trinker, man lernte etwas über den Unterschied von Frikadellen, deutschem Beefsteak und faschierten Laberln – Haferkamp in einer anderen Folge: »Ein Steak braten, das kann wirklich jeder. Aber für eine Frikadelle braucht man Erfahrung! Eine Frikadelle darf außen nicht verkrustet sein und nicht zu hell. Schlechte Frikadellen sind matschig oder knochenhart, wenn man sie anfaßt. Die meisten sind auch viel zu groß, sind weich und lappig wie ein Pfannkuchen! Sie müssen klein sein und fast rund, ein bißchen abgeflacht, außen kroß und innen gerade durch.«), da kannte sich Wolfgang Becker – oder, wahrscheinlicher: Hansjörg Felmy – wohl aus, wohingegen die Schilderung der reichen Witwe und ihres Umfelds und die der beiden Gerichtsszenen holzschnittartig gerieten.
Das Wort ›Intelligenz‹ fiel auffallend oft und manchmal in kuriosen Zusammenhängen. Haferkamp hatte die Möglichkeit, über die Moral des Polizisten zu philosophieren und der Schauspieler, der den Anwalt spielte, konnte zeigen, was er auf der Theaterbühne gelernt hatte, denn da kam das her, was er und Maria Schell trieben (etwa wenn sie ein Buch aus dem Regal nahm und darin blätterte … man sah die Regieanweisung direkt vor sich: ›Evelyn (nimmt ein Buch aus dem Regal und blättert darin) …‹). Drastisch war die Großaufnahme der schweißnassen Mundpartie des Anwalts, während er sein Plädoyer hielt und als er sich am Ende – auch in einer Großaufnahme, diesmal seines ganzen Gesichts – nach seiner Entlarvung zwei Finger auf den Mund legte.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur], 31. Januar bis 9. Februar 2014).

Freitag, 17. April 2015

In Re Don Giovanni

Was Mozarts Musik betrifft, so kennt meine Seele keine Furcht, mein Vertrauen keine Grenze. Teils ist, was ich bisher verstanden habe, nur sehr wenig, und immer bleibt noch genug, was sich in den Schatten der Ahnung hüllt; teils bin ich überzeugt, daß, würde Mozart mir jemals ganz begreiflich, er mir erst vollkommen unbegreiflich würde.

(Søren Kierkegaard, Entweder-Oder. Ein Lebensfragment, Leipzig, 1885, S. 63).

Schön!

Ihre braunen Augen sind groß und klug. Wenn sie durch die Wälder des Südens geht, begleitet sie sicher der große Pan, der nur für sie aus seinem Schlafe erwacht; ein Käfer setzt sich wohl dann als unbekannter Edelstein auf ihren Finger.

(Friedrich Glauser, Ascona; in: Der alte Zauberer. Das erzählerische Werk Band II: 1930-1933, Zürich 1992, S. 86; Glauser schreibt über die Malerin Marianne von Werefkin).

Mittwoch, 15. April 2015

esse est percipi

Wenn man das Böse nicht kennt, existiert es nicht.

(Alberto Savinio, Mein privates Lexikon, zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Richard Schroetter, Frankfurt am Main 2005, Stichwort abat-jour, S. 13).

Dienstag, 14. April 2015

So what …

Jeder Augenblick ist autonom. Weder die Rache noch die Vergebung, noch die Kerker, noch auch das Vergessen können die unversehrbare Vergangenheit modifizieren. Nicht minder fruchtlos erscheinen mir die Hoffnung und die Furcht, die sich immer auf künftige Vorfälle beziehen; das heißt auf Vorfälle, die uns, die wir das minutiöse Präsens sind, nicht zustoßen werden.

(Jorge Luis Borges, Neue Widerlegung der Zeit; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 7: Inquisitionen, Frankfurt am Main 1992, S. 191).

On dit …

Samuel Johnson soll gesagt haben, daß die Torheiten des Lebens von dem Versuch herrühren, das uns Unähnliche nachzuahmen.

Montag, 13. April 2015

!

11. Mai [1865] – Es tut gut, glücklich zu sein!

(Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 4., S. 221).

Sonntag, 12. April 2015

¡Ándale, ándale!

In den vergangenen Tagen hatte Hans Köberlin so viel Notwendiges zu erledigen gehabt, daß er das Gewicht des Schrittes, den er gerade dabei war zu unternehmen – vollkommene Entwurzelung –, nicht realisierte. Er war sich stets wie ein marginal man vorgekommen, aber nun hatte er gemerkt, wie eingebunden er in die diversen Systeme der Gesellschaft war.* Jetzt sollte doch eigentlich eine neue Ära beginnen, aber es galt noch immer Altlasten abzutragen. Immer galt es noch Altlasten abzutragen, man hatte nie alles erledigt, es gab in Hans Köberlins Vita keine sauberen Schnitte. »Wem Gott will die rechte Gunst erweisen …«, nun: diese Zeiten waren vorbei, und man mußte heute für ein Leben als Taugenichts tauglich sein.


* »Die Exklusion integriert viel stärker als die Inklusion – Integration (…) verstanden als Einschränkung der Freiheitsgrade für Selektionen«, so Niklas Luhmann (Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 4. Aufl. 1993, S. 631).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel II [Exodus], 2. bis 4. Oktober 2013).

First things first

Mit einem Satz von Boswell, den er bis zur Vollkommenheit verbessert, erzählt Hudson, daß er in seinem Leben viele Male das Studium der Metaphysik in Angriff genommen, doch habe ihn jedesmal das Glück unterbrochen.

(Jorge Luis Borges, Über The Purple Land; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 7: Inquisitionen, Frankfurt am Main 1992, S. 154).

Dienstag, 7. April 2015

Thomas Mann

Alter ist Vergangenheit als Gegenwart.

Arno Schmidt

»… ‹Leser› ? ? – Nee ! !« (Sowas kenn ich nicht).

Heute vor einem Jahr war es neblig



Wohl wahr

Erotik macht aus einem Trotzdem ein Weil.

(Karl Kraus, Die Fackel Nr. 360-362 vom 7. November 1912).

Montag, 6. April 2015

Blumenberg, wie immer genial

Ein Kriterium für intellektuelle Gesundheit ist die Spannweite von Unvereinbarkeiten im Hinblick auf ein und dieselbe Sache, die ausgehalten wird und dazu noch Anreiz bietet, Gewinn aus der Beirrung zu ziehen.

Nochmals Rabelais

Beati lourdes, quoniam ipsi trebuchaverunt.

Machiavelli und Ascenseur pour l’échafaud

Am Donnerstag, dem 23. Januar 2014, zitierte, wie Hans Köberlin noch erfahren sollte, das Kalenderblatt des Zitatenkalenders Machiavelli: nur durch die Armut und durch den Reichtum seien wir ungleich. Nun, das galt, so Hans Köberlin, aber nur unter gewissen Gesichtspunkten … es gab ja auch noch die gute alte Geschlechterdifferenz … Nur durch … nur durch …: das waren so wohlfeile Weisheiten, verkündet nach Tageslaune … Und Hans Köberlin sollte sich dann, als er das las, weiterhin sagen, daß diese angesprochene ökonomische – und damit politische! – Ungleichheit – selbst bei gleichen Ausgangslagen – eine soziale Konstante sei, resultierend aus verschiedenen Interessen …: der eine interessierte sich eben für ungleichen Besitz beziehungsweise willkürliche Machtverteilung (wobei ›ungleich‹ beziehungsweise ›willkürlich‹ dem daran Interessierten immer ›mehr als‹ bedeutete), der andere für das (ihm) ungleiche Geschlecht, von dem er nie genug bekommen konnte (wobei es gegen willkürliche Geschlechterdifferenzen keine Einwände gab) …; und mit ärmer und reicher, wegen ihm auch mit stinkreich, damit hatte Hans Köberlin sich arrangiert, aber man hatte es mit der Zivilisation noch nicht sehr weit gebracht, so sagte er sich, solange man wirkliche Armut und wirkliche Not duldete oder billigend inkaufnahm, ja sogar bewußt produzierte, um Druck von unten auszuüben … wobei da dann auch das ›wirklich‹ zu definieren wäre. Edmond de Goncourt hatte irgendwann 1890 notiert, Geld sei eine schmutzige Angelegenheit und könne nur durch Quantität rehabilitiert werden …  wohl war, wohl war. – Wie dem auch sei, nach dem Blick in die Filmkalenderblattsammelkiste wußte Hans Köberlin, was er heute im Verlauf des Tages hören würde, denn auf dem Blatt vom vergangenen Jahr sah man eine besorgte Jeanne Moreau (*1928) am Telephon. Sie konnte ihren Geliebten nicht erreichen und ahnte ergo da noch nicht, daß die perfekt geplante Ermordung ihres Gatten durch ihn, ihren Geliebten, wegen eines steckengebliebenen Aufzugs ruchbar werden würde … Wir müssen wohl immer noch nicht sagen, daß –, können uns aber diesmal nicht verkneifen zu sagen, daß das Still aus Louis Malles Klassiker Ascenseur pour lʼéchafaud (1958) und daß der Soundtrack, den Hans Köberlin, wie gesagt, später am Tag hören sollte, von Miles Davis stammte …*


* Außer der Geburtstag von Jeanne Moreau war der 23. Januar auch der Geburtstag von Hark Bohms Sohn Uwe (*1962), weshalb das Blatt von 2012 ein Still aus Nordsee ist Mordsee zeigte (da kam der Soundtrack übrigens von Udo Lindenberg, den Hans Köberlin bei jeder Tatort-Episode trommeln hörte und dessen Solokarriere er, Hans Köberlin, während seiner Pubertät – ein schwieriges Alter – über die ersten vier-fünf Alben verfolgt hatte), und schließlich war es noch der Geburtstag von Dan Duryea (*1907), den man 1997 neben June Vincent in William Neills The Black Angel (1946) sehen konnte, und es war der Todestag Humphrey Bogarts (†1957; eines der Kalenderblätter hatte wieder irrtümlich ein ›*‹ gesetzt).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel X [Phase IV – oder: modus vivendi], 7. bis 30. Januar 2014).

Sonntag, 5. April 2015

Freitag, 3. April 2015

»Der Tod sei der Zweck des Lebens.« und andere Gedanken

Er verzichtete an diesem Morgen auf den Dauerlauf, weil er am Nachmittag in das Zentrum des Ortes gehen wollte. Durch eine gezielt lancierte Werbung im weltweiten Netz erfuhr er, daß im März ein neues Bootleg-Boxset von Miles Davis erscheinen sollte, aus der Bitches Brew- und Tribute to Jack Johnson-Zeit, und wenn Hans Köberlin wirklich in dieser sublunaren Welt weitermachen wollte, dann mußte er dieses Boxset natürlich kaufen.
Nach dem Frühstück las Hans Köberlin im leeren Wintergarten im Ulysses weiter. Man saß in der Kutscherkneipe und wurde von dem Matrosen angesprochen. In diesem Kapitel war die Chance, auf schönen Schweinkram zu stoßen, gering. Bei Luhmann las er anschließend: »Man kann angesichts der Komplexität der Welt nicht alle Bedingungen der Möglichkeit eines Sachverhalts in den Begriff dieses Sachverhalts aufnehmen; denn damit würde der Begriff jede Kontur und jede theoriebautechnische Verwendbarkeit verlieren.« (dieses und die folgenden Zitate aus: Was ist Kommunikation; in: Short Cuts, hrsg. von Heidi Paris, Peter Gente und Martin Weinmann, Frankfurt am Main 4. Aufl. 2002, S. 44ff.).  Und: »Jede andere Auffassung (als die Zwecklosigkeit der Kommunikation) müßte begründen, weshalb das System nach dem Erreichen seiner Zwecke fortdauert; oder man müßte, nicht ganz neu, sagen: Der Tod sei der Zweck des Lebens.«* Und: »Und selbst bei aktuellen Themen – selbst wenn man endlich einen Parkplatz gefunden hat und nach langen Fußmärschen das Café erreicht hat, wo es in Rom den besten Kaffee geben soll und dann die paar Tropfen trinkt – wo ist da Konsens oder Dissens, solange man den Spaß nicht durch Kommunikation verdirbt? (…) Es kann aber, und dies scheint mir für fernöstliche Kulturen zu gelten, auch umgekehrt sensibilisieren: Man vermeidet Kommunikation mit Ablehnungswahrscheinlichkeiten, man versucht Wünsche zu erfüllen, bevor sie geäußert wurden, und signalisiert eben dadurch Schranken; und man wirkt an der Kommunikation mit ohne zu widersprechen und ohne die Kommunikation dadurch zu stören, daß man Annahme oder Ablehnung zurückmeldet.« … wie Breton einmal gesagt hatte: hier bewege sich nicht der Mensch sondern die Erde. (André Breton (Hg.), Anthologie des schwarzen Humors, Frankfurt am Main 1979, S. 515). Und Jean Ferry, der gefragt hatte, ob es einem nicht auch schon einmal passiert sei, daß man den Fuß im Dunkeln auf die oberste Treppenstufe gesetzt habe, auf jene, die gar nicht vorhanden, und in diesem Land passiere einem das dauernd, der Stoff, aus dem jene nicht vorhandene Treppenstufe bestehe, sei hier der Stoff schlechthin (ebd.).


* Novalis’ 14. Blüthenstaubfragment fiel Hans Köberlin ein: »Leben ist der Anfang des Todes. Das Leben ist um des Todes willen.« (in: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Stuttgart 1960ff., Bd. 2, S. 417).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel X [Phase IV – oder: modus vivendi], 7. bis 30. Januar 2014).

Wie schon Gargantua sagte …

… il vault mieulx pleurer moins et boire dadvantaige!

… und:

Certaines diecules nous invisons les lupanares, et en ecstase venereique, inculcons nos veretres es penitissimes recesses des pudendes de ces meritricules amicabilissimes; puis cauponizons es tabernes meritoires …

Ein gnostischer Kommentar zu Psalm 23

Hebbels Version des Bibelwortes, daß der Herr ein Hirte sei, in einem Tagebucheintrag aus dm Jahre 1836: »Das aus dem Wagen eines Schlachters gehobene schlafende Kalb.«

Eine Randnotiz

Herzog Jean des Esseintes, der Protagonist von Huysmans A rebours, hatte sich fast genauso eingerichtet wie der Clemens Limbularius von … du rissest dich denn ein., in einem Haus an der Peripherie der Großstadt, und er nahm auch dessen Lästern über Politik und Presse vorweg: »Geradezu unerträglich litt er bei der Lektüre patriotischer und sozialer Torheiten, die jeden Morgen von den Zeitungen unter die Leute gebracht und mit denen die ehrsamen Leser abgespeist wurden.« (vgl. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 15f.). Auch Hurengeschichten tauchten in A rebours auf, allerdings weniger erfolgreich als bei Clemens Limbularius, denn bei Jean des Esseintes hatte sich ein Überdruß eingestellt. Weitere wesentliche Unterschiede zwischen den beiden waren: Jean des Esseintes mußte nicht arbeiten, außerdem war er – im Gegensatz zu dem, was das Soziale betraf, konformistisch erscheinenden Clemens Limbularius – ein ziemlicher Exzentriker.

Gestern


Für gute Zeiten

Chesterton dachte, wie Whitman, die bloße Tatsache des Seins sei derart überwältigend, daß kein Unglück uns von einer Art kosmischer Dankbarkeit entbiden dürfe.

(Jorge Luis Borges, Über Chesterton; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 7: Inquisitionen, Frankfurt am Main 1992, S. 96).

Donnerstag, 2. April 2015

Heute vor …

2 avril 1868

Je lis qu’il est tombé de la neige noire dans le Michigan; c’est bien la neige du pays de Poë.
*
Le silence! oh! le silence! Dormir vingt-quatre heures dans un de ces tombeaux qui ont pour pierre, sur la mort du bruit, une montagne ou une pyramide.

(Journal des Goncourt. Mémoires de la vie littéraire, troisième volume 1866-1870, Paris 1888).

Heute


Mittwoch, 1. April 2015

Nochmals eine Hoffnung

Wenn in einem Autor etwas steckt, kann keine Absicht, mag sie noch so albern oder irrig sein, dem Werk einen Schaden unheilbarer Art zufügen. Ein Autor mag an absurden Vorurteilen kranken; sein Werk dagegen, wenn es echt ist und einer echten Vision entspringt, kann nicht absurd sein.

(Jorge Luis Borges, Nathaniel Hawthorne; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 7: Inquisitionen, Frankfurt am Main 1992, S. 77).

Nochmals Hawthorne: eine Warnung

Amid the seeming confusion of our mysterious world individuals are so nicely adjusted to a system, and systems to one another and to a whole, that by stepping aside for a moment a man exposes himself to a fearful risk of losing his place for ever. Like Wakefield, he may become, as it were, the outcast of the universe.

(Nathaniel Hawthorne, Wakefield; vgl. Über Wakefield und ähnliche Gestalten).

Über Wakefield und ähnliche Gestalten

Clemens las Wakefield zu Ende, eine kurze Erzählung von Nathaniel Hawthorne (dem Freund Melvilles, der ihm Moby Dick gewidmet hatte), mit deren Lektüre er (…) begonnen hatte, weil Hans Köberlin auf die Erzählung zu sprechen gekommen war. Der Erzähler berichtete darin von einer kurzen Zeitungsnotiz, nach der ein Ehemann sich von seiner Frau anläßlich einer kleinen Reise für ein paar Tage höchstens verabschiedet hatte, dann heimlich in eine Wohnung in der Nachbarschaft gezogen war, dort inkognito gelebt und sein Leben ohne sich beobachtet hatte und erst nach zwanzig Jahren an den heimischen Herd zurückgekehrt war. Hawthornes Erzähler schickte sich nun an, den Raum, den diese karge Notiz eröffnet hatte, mit einem Psychogramm des Mannes, den er Wakefield nannte, zu füllen.
Hans Köberlin hatte den Text für eine geplante aber leider nie realisierte Anthologie ausgewählt, in der Zeugnisse versammelt werden sollten, die mit erschreckender Konsequenz zeigten, wie Menschen Jahrzehnte ihres eigenen und einzigen Lebens nichteten oder genötigt wurden, dies zu tun. Kafkas Vor dem Gesetz sollte die Anthologie eröffnen, dann sollte ein einleitender Essay Hans Köberlins folgen, außerdem wollte er noch seinen Text über Frank Capras It’s a wonderful life (…) einbringen, unter anderem war dann noch Alieta des hier nur durch Borges, glaube ich, breiter bekannten Leopoldo Lugones vorgesehen, von Borges natürlich Die Wartezeit nebst Vom Warten und vom Traum. Versuch eines Kommentars zu Jorge Luis Borges’ Die Wartezeit, verfertigt von Hans Köberlin (vgl. »Dicht hinter dem Ideal kommt nämlich das Zufälliges als das Nächste.«), dann noch Faulkners Rosa Coldfield aus Absalom, Absalom! und Schilderungen von auf Bahnsteigen über die Zeit hinaus warten müssenden Menschen (Bahnsteige, auf denen, davon war Hans Köberlin überzeugt gewesen, durch das Gebaren der Bahn systematisch Amokläufer und Bombenleger herangezüchtet wurden), und schließlich noch Bartleby hatte Köberlin in seiner möglichen Liste der Beispiele (die natürlich wesentlich mehr Zeugnisse umfaßte als die hier von uns erwähnten) als Grenzfall angeführt. Er könne die Unerbittlichkeit der Rache des Edmond Dantès nach vierzehn Jahren im Château d’If gut nachvollziehen, bekannte Hans Köberlin in den Versuchen zu dem einleitenden Essay (…)
Eine Schlüsselstelle kam einer Passage aus Robert Walsers Jakob von Gunten zu. Eines Tages, so schrieb der, werde von seinem Wesen und Beginnen irgendein Duft ausgehen, er werde Blüte sein und ein wenig, wie zu seinem eigenen Vergnügen, duften, und dann werde er den Kopf neigen. Die Arme und Beine würden ihm seltsam erschlaffen, der Geist, der Stolz, der Charakter, alles, alles werde brechen und welken, und er werde tot sein, nicht wirklich tot, nur so auf eine gewisse Art tot, und dann werde er vielleicht sechzig Jahre so dahinleben und -sterben. Von diesen vielleicht sechzig Jahren glaubte Hans Köberlin (laut Tagebuch), daß er sie selber so nicht aushalten könne, und auch Clemens konnte sich nicht vorstellen, das ertragen zu können.

(aus: … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 156ff.).

Autoren und ihre Figuren

… ohne Zweifel hat Cervantes Don Quijote gut gekannt und konnte an ihn glauben. Unser Glaube an den Glauben des Romanciers rettet alle Nachlässigkeiten und Fehler. Was bedeuten unglaubliche oder plumpe Vorgänge, wenn wir spüren, daß der Autor sie nicht ersonnen hat, um unsere Gutgläubigkeit zu übertölpeln, sondern um seine Gestalten zu definieren. Was bedeuten die albernen Skandale und verworrenen Untaten am vermeintlich dänischen Hof, wenn wir an den Prinzen Hamlet glauben.

(Jorge Luis Borges, Nathaniel Hawthorne; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 7: Inquisitionen, Frankfurt am Main 1992, S. 67).

Empirie

¡Hans Koberlin vive! in Daten (der Stand von heute):

  • Stand des Manuskripts: S. 742 von ca. 1.800 Seiten
  • Stand der Überarbeitung:
    • Seiten: S. 588 von ca. 1.800 Seiten
    • Kapitel: X (= Phase IV – oder: modus vivendi) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Montag, der 20. Januar 2014, der 111. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
  • Fußnoten Stand des Manuskripts: 2071
  • Fußnoten am Stand der Überarbeitung: 1602
  • Beginn der Handlung: 23. Oktober 4004 vor unserer Zeitrechnung, 9 Uhr vormittags*
  • Ende der Handlung: fällt mit dem Ende der (oder bloß einer?) Welt zusammen
  • Beginn der Niederschrift: Mittwoch, den 2. Oktober 2013
  • Ende der Niederschrift: noch nicht abzusehen


* (= die momentane Fußnote 274 auf S. 58) Wir haben für unseren Prolog den Zeitraum von Anbeginn der Schöpfung bis zum Dienstag, dem 1. Oktober 2013 veranschlagt. – Nun: »In der Schiffsbibel von Charles Darwin auf der ›Beagle‹, mit der er von 1831 bis 1836 die Welt bereiste, stand das Datum der Weltschöpfung eingetragen: 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt, 9 Uhr vormittags.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 47).

Wird aktualisiert!