Samstag, 10. Dezember 2022

1970-03-07 New York 1st Set [Montag, der 20. Januar 2014]

Nach seinem Dauerlauf, der anstrengend war, weil er auf der Strecke bis zum Zentrum des Ortes heftigen Gegenwind hatte, frühstückte Hans Köberlin im leeren Wintergarten mit dem ersten Set jenes Konzert, das Miles Davis am 7. März 1970 im Fillmore East gegeben hatte. Die Sessions im Kontext von Jack Johnson hatten zwar bereits begonnen, aber die Tour wurde noch von Bitches Brew – davon gab es Spanish Key – bestimmt. Es war immer interessant, ältere Stücke in dem neuen Bitches Brew-Stil zu hören, hier Directions, Masqualero und It’s About That Time. Hans Köberlin genoß es, merkte aber daß er von dem Dauerlaufen gegen den Wind bereits wieder ein wenig müde war.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 1010).

1969-11-07 Berlin [Montag, der 17. Februar 2014]

Zu dem Frühstück heute – keine Angst, wir haben es nicht vergessen, nämlich Hans Köberlins Ritual – sah er sich einen weiteren der neulich erinnerten drei Konzertfilme an, es war die Dokumentation jenes Konzerts, das Miles Davis am 7. November 1969, also nach Bitches Brew, auf den Jazztagen der Hauptstadt gegeben hatte. Dieser Film war in Farbe und begann während des Aufbaus des Equipments mit einer unsäglichen Ansage – als ob es es eine besondere Bedeutung gehabt hätte, daß Dave Holland aus der alten Welt kam! –, die die Vorgestellten, da schon nicht mehr im Anzug, sondern im Outfit ihrer Zeit, geflissentlich ignorierten, dann ging es mit Directions los, alle Stücke noch im klassischen Schema, Miles Davis mit dem Thema, dann die Soli von Wayne Shorter und Chick Corea, dann Wiederaufgreifen des Themas und die Überleitung zu dem nächsten durch Miles Davis, hier ging es jetzt zu Bitches Brew über, dem Hans Köberlin durch seine Interpretation in der gegenüber der Studiosession reduzierten einfachen Besetzung – keine Percussion neben Jack DeJonettes Schlagzeug und keine elektrischer Baß neben Dave Hollands akustischem – wieder neue Aspekte abgewann. Weiter ging sehr schön mit It’s About That Time bei dem Wayne Shorter sein Solo auf dem Tenorsaxophon spielte, während Chick Coreas Improvisationen zerfielen die Stücke etwas, die Musik war eigentlich über dieses klassische Schema hinaus, was man da besonders merkte – aber es war ja erst der Beginn der Revolution gewesen … über ging es zu I Fall In Love Too Easily, als lyrische Ballade von Miles Davis’ Trompete dominiert, und schließlich zu dem Ausklang des Albums, zu Sanctuary.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1255f.).

1969-11-05 Stockholm [Samstag, der 22. Februar 2014]

Dieses [sein Frühstück im leeren Wintergarten] nahm er mit jenem Konzert ein, das Miles Davis am 5. November 1969, also nach Bitches Brew, in der Stadt, in der Martin Beck sein Revier gehabt, gegeben. Und mit dem Titelsong des Bitches Brew-Albums ging es auch gleich nach der Vorstellung der Band durch George Wein los. Die Abmischung der Aufnahme war nicht so ganz gelungen, das Schlagzeug war zu arg im Vordergrund, ansonsten hatte man das Stück dem üblichen Schema mit der Abfolge der Soli – hier: Trompete, Saxophon und Baß – angepaßt, man hatte, so Hans Köberlin in einem etwas unglücklichen Bild, aus einem breitflächigen und diffizil gemusterten Teppich einen einfachen Läufer gemacht. Es folgten dann nur noch Stücke aus der klassischen Quartett-Zeit: Paraphernalia, Nerfertiti und Masqualero, Paraphernalia und This, das letzte Stück, bei dem Hans Köberlin annahm, daß man hier einfach einer Improvisation einen Titel gegeben hatte, hatten teilweise sehr freie Phasen, was ja eigentlich nie Miles Davis’ Richtung gewesen, seine Richtung war ja spätestens seit In a Silent Way der Groove, auch bei Bitches Brew. In Masqualero gab es ein sehr lyrisches Solo von Wayne Shorter. – Wir hatten ja bereits Hans Köberlins Eindruck beim Hören der Konzerte am 25. und 26. Juli 1969 auf dem festival de jazz d’Antibes Juan-les-Pin erwähnt und dazu auch Ian Carr zitiert, auch hier, obwohl die Studiosessions bereits gut zwei Monate zurücklagen, hatte er das gleiche Empfinden eines Übergangs, bei dem man noch nicht nach seinen Möglichkeiten gespielt oder probierte, wie es weitergehen sollte. Wir möchten diesen Eindruck Hans Köberlins jedoch dahingehend relativieren, daß sein ästhetisches Urteil je nach aktueller Stimmung während der Rezeption arg variieren konnte.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1321).

1969-10-27 Roma [Sonntag, der 19. Januar 2014]

Zum Frühstück gab es das erste Konzert aus Hans Köberlins Fundus, das Miles Davis nach den Bitches Brew-Sessions gegeben hatte, und zwar am 27. Oktober 1969 im ›Teatro Sistina‹ in der ewigen Stadt.* Es begann – Hans Koberlin wußte nicht, ob dies an eventuell nur teilweise erhaltenen Bändern lag – in medias res mit oder in einer Improvisation, die in ’Round Midnight überging, gefolgt von Masuqualero, und dann kamen zwei der neuen Stücke vom August, Bitches Brew – wobei dies eher eine Improvisation zwischen dem legendären Intro und dessen Gegenstück am Ende war – und, unverkennbar mit seinem Groove, Miles Runs The Voodoo Down. Es folgten im gleichen Stil Footprints und zum Abschluß Sanctuary. Es sollte noch eine Version des Mittschnitts geben, die Hans Köberlin aber zu seinem Bedauern noch nicht hatte auftreiben können, bei der daran anschließend abschließend eine freie Improvisation und Shhh / Peaceful kamen, aber vielleicht war mit den Bändern einiges schiefgelaufen und die Improvisation war die vom Anfang gewesen und Hans Köberlin hatte Shhh / Peaceful vor ’Round Midnight nicht wiederkannt … Die Musik jedenfalls verscheuchte alle trüben Gedanken nach dem Telephonat gestern und während dessen Vermerk im Arbeitsjournal eben.

* Dies war wohl keine offizielle Veröffentlichung, bei der auf dem Cover von Hans Köberlins CD­Version stand, das Konzert habe – ohne Angabe von Tag und Monat – 1969 in der Stadt der Liebe stattgefunden, und Ian Carr hatte in seiner Discographie als Datum noch den 6. Februar 1970 und als Ort die Stadt, die niemals schlief, im Angebot (Miles Davis. Eine kritische Biographie, Baden 1985, S. 315). Die ohne Unterbrechungen gespielten Titel waren – wie man es ab jetzt häufiger machen würde – in zwei lange Stücke eingeteilt worden, betitelt Double Image und Gemini, deren Reihenfolge bei den verschiedenen Ausgaben variierte. Hans Köberlin hatte sich unter der Annahme, Roma, den 27. Oktober 1969, die hier beschriebene Rezeption angewöhnt.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 998).

1969-07-26 Antibes [Mittwoch, der 29. Januar 2014]

Er absolvierte seinen Dauerlauf bei unbeständigem Wetter, und als er seine Runde am oberen Tor beendete, fielen die ersten Tropfen. Er frühstückte also wieder im leeren Wintergarten und hörte dazu, Fischpasteten-, Salami-, Käse, Marmeladen- und Honigbrote kauend und grünen Tee und Orangensaft trinkend und auf den jetzt durchgängig grauen Himmel und den nassen Vorgarten blickend und wie am Samstag, den 18. Januar 2014, angekündigt jenes Konzert um die Bitches Brew-Zeit herum, das Miles Davis am 26. Juli 1969 auf dem festival de jazz d’Antibes Juan-les-Pins gegeben hatte. Es war wieder eine Mischung aus alten und neuen Stücken sowie drei Titeln, die dann auf Bitches Brew erscheinen sollten, Spanish Key, gleich hinter Directions und mit der gleichen Hektik interpretiert, Atem holen konnte man erst anschließend bei I Fall In Love Too Easily, dann Miles Runs the Voodoo Down, bei dem man noch nicht zu dem Groove der Studiosession fand, und am Ende Sanctuary; dazwischen gab es noch aus der vorangegangen Quintettzeit Masqualero, No Blues und Nefertiti. Und wie bei dem Konzert vom Vortag in Antibes – also nicht das von unserem Vortag gestern hier – hatte Hans Köberlin das Empfinden, einer Übergangsphase beizuwohnen, im kommenden Jahr und wohl morgen zu hören würde man in den ›Fillmores‹ an Ost- und Westküste sowie im ›Cellar Door‹ das Vorherige hinter sich gelassen haben.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 1070f.).

1969-07-25 Antibes [Samstag, der 18. Januar 2014]

Irgendwann stand er auf und absolvierte seinen Dauerlauf, mit welcher Musik in den Ohren, das wurde nicht überliefert. Das Wetter ließ an diesem Tag eine Benutzung der anderen Dachterrasse nicht zu, und so setzte er sich zum Frühstück, bei dem heute ein Konzert von Miles Davis an der Reihe war, das er am 25. Juli 1969 auf dem festival de jazz d’Antibes Juan-les-Pins gegeben hatte,* in den leeren Wintergarten. Dieses Konzert und das an dem Folgetag, das Hans Köberlin in einer der nächsten Runden hören würde, fanden unmittelbar vor den Studiosessions im August, aus denen dann Bitches Brew hervorgehen sollte, statt, es gab da noch nicht die doppelt besetzte Rhythmussektion, aber Chick Corea spielte bereits in seiner typischer Manier auf dem E-Piano. Auf dem Programm standen Stücke aus der Zeit vor der Bitches Brew-Zäsur, von ’Round Midnight und Milestones bis zu It’s About That Time, sowie Miles Runs The Voodoo Down und Sactuary, die dann auch auf dem Doppelalbum erscheinen sollten. Hans Köberlin hatte ein wenig den Eindruck, man traute dem Publikum noch nicht alles zu, was man damals schon draufhatte,** es war aber ein gelungenes Konzert, vor allem Wayne Shorter hatte beeindruckende Soli.

* Wir hatten ihn bereits einmal auf dieser Veranstaltung, sechs Jahre zuvor, siehe oben während des zweiten Besuchs der Frau S. 857.
** »1969 tauchten bei Live-Auftritten noch keine Rockelemente auf. Die ununterbrochenen Sets waren noch immer von harmonischer Abstraktion geprägt, und die oftmals sehr kraftvollen Polyrhythmen waren im Grunde immer noch jazzig. Stimmungswechsel und thematisches Material der Sets waren festgelegt, aber letztendlich zentrierte sich alles um Miles Davis’ Trompetenspiel, das der Musik die Richtung wies.« (Ian Carr, Miles Davis. Eine kritische Biographie, Baden 1985, S. 194). »Harmonische Abstraktion« war die treffende Bezeichnung, die Hans Köberlin nicht eingefallen war.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 991).

1969-07-05 Newport [Samstag, der 4. Januar 2014]

Für seine Matinée nahm Hans Köberlin das nächste Konzert in seiner Sammlung, 5. Juli 1969 in Newport, er nahm es, weil das Repertoire sich bei zwei von den drei mitgeschnittenen Titeln – Miles Runs the Voodoo Down und It’s About That Time – zu den in Rotterdam gespielten Sachen ergänzte, dazwischen gabe noch eine Sanctuary-Version in der Manier von Bitches Brew. Auch dies ein wunderbares Hören, so daß Hans Köberlin gleich das nächste nachlegen wollte …
»Das geht nicht, das ist ein Ritual!«

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, IX [Der zweite Besuch der Frau] Vom 20. Dezember 2013 bis zum 6. Januar 2014, S. 884).

1969-05-11 Rotterdam [Freitag, der 3. Januar 2014]

Später dann frühstückten sie wieder mit einem Auftritt Miles Davis’, Hans Köberlin hatte vier weitere Konzerte des Jahres 1967 nach Newport übersprungen und man war jetzt bei einem Mitschnitt, der am 11. Mai 1969 in Rotterdam gemacht worden war, also ein paar Monate vor den Albumsessions zu Bitches Brew im August. Hier begann die von Hans Köberlin favorisierte Zeit im Schaffen seines Idols, die sogenannte ›elektrischen Phase. Das Repertoire würde sich jetzt bis On The Corner aus einem bestimmten Fundus von Stücken zusammensetzen. Es begann mit Directions, dessen Auftakt Hans Köberlin zu allen möglichen Situationen vor sich hinzusummen pflegte, dann kam Bitches Brew, halb so lang wie später im Studio und noch etwas schlanker, was dem Stück neue Aspekte abgewann, dann – der Höhepunkt dieses Mittschnitts! – eine Version von Wayne Shorters Sanctuary, die über fast eine halbe Stunde ging …* und zum Abschluß gab es Masqualero.
»Sehr schön, wunderbar, bravo! Nach dem sinnlichen in den Tag kommen eben ein sehr schöner ästhetischer Auftakt«, befand Hans Köberlin.

* Man erinnere sich an unseren zweiten Bericht, in dem wir berichtet haben, wie Clemens Limbularius zu der akustischen und der elektrischen Version dieses Stückes mit der Witwe des toten Kollegen gute (= vögelnde) Zeiten und schlechte (= ansprüchliche, streitende) Zeiten gehabt, siehe vom Verf. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 134f. und S. 173f. und S. 183f. und S. 198.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, IX [Der zweite Besuch der Frau] Vom 20. Dezember 2013 bis zum 6. Januar 2014, S. 879).

Freitag, 9. Dezember 2022

1967-11-07 Karlsruhe [Donnerstag, der 6. März 2014]

Zum Frühstück hörte Hans Köberlin jenes Konzert, das Miles Davis am 7. November 1967 in der Stadthalle jener Stadt, in der Peter Sloterdijk nun seine Wirkungsstätte hatte, gegeben, er hörte es nicht nur, er sah es auch, denn es war einer der Konzertfilme, die er in seinem Archiv hatte. Alle trugen schwarze Anzüge über weißen Hemden mit Fliege, nur Miles Davis trug einen graugestreiften Anzug über einem gestreiften Hemd mit einer Krawatte. Es begann wie meist in jener Zeit mit Agitation und Hans Köberlin ertappte sich dabei, daß er mehr schaute denn hörte. Die Musiker taten so, als kümmerten sie sich nicht darum, was die anderen machten, aber es herrschte eine subtile Kommunikation. Das Publikum sah man zum ersten Mal im Hintergrund, als die Kamera Herbie Hancock bei seinem Solo – »C. Bechstein« konnte man lesen – filmte. Der Saal war natürlich bestuhlt und alle saßen ruhig da und lauschten, was Hans Köberlin gefiel, keine Sperenzchen … Es folgte Footprints, da war die Bühne plötzlich schwarz und Miles Davis stand in einem Spot, das Licht ging dann für Wayne Shorter wieder an und Hans Köberlin hatte einmal mehr das Gefühl, dem Ritual beizuwohnen, aus dem der Jazz damals bestand, und daß es interessant wäre, die verschiedenen Interpretationen eines Stückes unmittelbar zu vergleichen, sozusagen um die ›Tagesform‹ bestimmen zu können. Es folgte I Fall In Love Too Easily, man sah Miles Davis’ Armbanduhr, sicher ein teures Teil, das Stück begann ruhig, um dann in einen schönen Swing zu fallen, aus dem man aber gleich wieder ausbrach, es gab noch ein längeres Solo von Herbie Hancock mit Zwischenapplaus. Dann kam als letztes Stück Gingerbread Boy, was nicht zu Hans Köberlins Favoriten gehörte und hier als Gegenstück zu Agitation das Konzert schloß. Falls das Publikum nach einer Zugabe verlangt, hatte man das gnädig ausgeblendet. Morgen zum Frühstück vor dem Gang zur Omnibusstation würde es dann Miles Davis’ Auftritt auf der Isle of Wight geben.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1441f.).

Empirie, 28. Update

¡Hans Koberlin vive! in Daten (der Stand von heute):
  • Stand des Manuskripts:
    • Seiten: S. 1.736 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 4.686
  • Stand der Bearbeitung:
    • Seiten: S. 1.469 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 3.880
    • Kapitel: XIII (= Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit des Exils) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Bearbeitung: Freitag, der 7. März 2014, der 157. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
  • Der Beginn der Handlung ist mit Analepsen der Sonntag, der 23. Oktober 4004 vor unserer Zeitrechnung, 9 Uhr vormittags,* ohne Analepsen der Herbst 2012.
  • Das Ende der Handlung fällt mit den Prolepsen mit dem Ende der (oder bloß einer?) Welt zusammen,** ohne Prolepsen mit dem Frühjahr 2016.
  • Beginn der Niederschrift: Mittwoch, den 2. Oktober 2013
  • Ende der Niederschrift: noch nicht abzusehen.
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen.

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seiten: S. 778 von 778 Seiten
    • Fußnoten: 2.280
    • Kapitel: VIII (= Dritte Phase – oder: Konsolidierung) von VIII Kapiteln nebst einem vorläufigen Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Donnerstag, der 19. Dezember 2013, der 79. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teils des zweiten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen (obwohl der erste Teilband noch nicht publiziert wurde – c’est la vie).

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seite: S. 1.463
    • Fußnoten: 3.850
    • Kapitel: XIII (= Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit des Exils) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Freitag, der 17. März 2014, der 157. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen


* (= die Fußnote 5 auf S. 7) »Non in tempore sed cum tempore Deus creavit caela et terram.« (Augustinus).
Nun: »In der Schiffsbibel von Charles Darwin auf der ›Beagle‹, mit der er von 1831 bis 1836 die Welt bereiste, stand das Datum der Weltschöpfung eingetragen: 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt, 9 Uhr vormittags.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 47). Das war ein Sonntag, am folgenden Freitag war er, der Schöpfer, fertig, und auch das jüngste Gericht soll nach christlichen Vorstellungen auf einen Freitag fallen, ein Datum haben wir gerade nicht zur Hand.
»Soldats, quarante siècles vous regardent!«
»L’ouvrage que j’ai entrepris aura la longueur d’une histoire«, hatte Balzac stolz in seinen Avant-Propos de La Comédie humaine postuliert.
** (= eine Anmerkung aus der fünften Nachlese) »Die Welt des Dichters ist nicht die einzige Welt. Es gibt mehrere Dichter.« (Bertolt Brecht, Schriften zum Theater 1; in: Gesammelte Werke, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1967, Bd. 15, S. 393).

Wird aktualisiert!

ABEA Since 1889 in Crete oliva λευκό σαπούνι ελαιολάδου – λεβαντα

Sonntag, 13. November 2022

1967-11-06 Paris [Sonntag, der 2. März 2014]

Zum Frühstück hörte Hans Köberlin jenes Konzert, das Miles Davis am 6. November 1967 im Salle Pleyel in der Stadt der Liebe gegeben hatte. Es war ein langes Konzert gewesen, knapp eineinhalb Stunden, was hieß, daß Hans Köberlin über seine erste Nahrungsaufnahme des Tages hinaus noch eine weitere müßige, weil allein der Rezeption gewidmete, Zeit haben würde. Er erinnerte sich, daß er es zuletzt vor knapp zwei Jahren gehört hatte, also in einem anderen Leben … Es begann in medias res mit Agitation mit einem sehr schönen Klaviersolo am Ende, dann ging es übergangslos mit Footprints weiter. Hans Köberlin kam es an diesem Morgen nach den ersten beiden Stücken freejazziger vor als bei den anderen Konzerten der Zeit, aber es war natürlich kein Free Jazz, sondern Miles Davis. Es folgte ʼRound Midnight, bei dem sich Wayne Shorter nach dem Thema, das ja nicht viele Variationen zuließ, mit seinem Spiel quasi aus dem Staub machte, das war fast wie Coltrane auf der Tour 1960, aber diesmal bereits im Rahmen. Dann No Blues, das längste Stück des Konzerts, bei dem Tony Williams und Ron Carter ihre Soli hatten, und Carter war auch die Basis für das, was anschließend, bei Masqualero geschah, vor allem im Zusammenspiel mit Shorter und Hancock. Bei I Fall In Love Too Easily war es wie bei ʼRound Midnight: Miles Davis spielte das Thema, von dem sich Wayne Shorter dann entfernte. Den Übergang zu Riot verpaßte Hans Köberlin, weil er mit den Gedanken in fünf Tagen bei der Frau war und first things first antizipierte, das Stück war kurz und schnell, quasi ein Vorspiel zu Walkinʼ, wie immer Thema und schnelle Läufe, unterbrochen von einem weiteren Solo Tony Williamsʼ, und auch Wayne Shorter und Herbie Hancock spielten dann ihre Parts vollkommen allein, wobei das Klavier hier seine grandiosesten Momente hatte. On Green Dolphin Street kam, getragen vom Baß, angenehm gefällig daher und The Theme schließlich bildete über achteinhalb Minuten den konventionellen Abschluß. Hans Köberlin war so angetan von dem bloßen Sitzen und Hören, von der »Fülle des Wohllauts«*, daß ihm für einen Moment die Möglichkeit der Archivierung von Musik ihre mittlerweile gegebene Selbstverständlichkeit verlor und wieder zu etwas Wunderbarem wurde.
»Wie war er glücklich, wenn er Musik hörte! […] Frauenlippen und -augen lächelten ihn aus unermeßlicher Ferne und wieder aus nächster Nähe liebevoll an.«**

* Siehe Thomas Mann, Der Zauberberg, Frankfurt am Main 1986, S. 883ff.
** Robert Walser, Zwei Männer; in: Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Jochen Greven, Zürich und Frankfurt am Main 1985, Bd. 16: Träumen, S. 195. Hier haben wir übrigens noch eines von jenen Ferne-Nähe-Paradoxa à la Kafka und Benjamin.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1401).

Donnerstag, 6. Oktober 2022

1967-11-02 København [Freitag, der 7. Februar 2014]

Man liebte sich ausgiebig und frühstückte anschließend zu jenem Konzert, das Miles Davis am 2. November 1967 – also in einer der letzten Phasen vor dem Erscheinen von Bitches Brew – in Kierkegaards Stadt gegeben hatte. Hans Köberlin ließ für sich diese Phase oder Unterphase nach dem Auftritt auf dem Newport-Jazzfestival am 2. Juli 1967 – erst jetzt fiel ihm auf, daß dieses Konzert ja auf den Tag genau sechsundvierzig Jahre vor ihrem ersten Kuß stattgefunden hatte! – beginnen, weil dort in seinem privaten Miles-Davis-Konzert-Archiv das letzte Mal So What – also ein Stück von Kind of Blue; andere ältere Stücke tauchten noch öfters auf – gespielt wurde.* Die fünf Stücke gingen, abgelenkt durch die Frau, wie ein einziges Stück, nur kurz bei Intro und Ausklang identifiziert, an ihm vorüber und er hätte nicht sagen können, ob es an seiner Routine des Hörens oder an der Routine des Quintetts – die allerdings auf höchstem Niveau angesiedelt war – gelegen hatte.

* Es gab noch jenen All Blues – das war Hans Köberlin jetzt nicht präsent –, den Miles Davis noch einmal kurz vor seinem Tod am 10. Juli 1991 in der Stadt der Liebe interpretiert hatte.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur] Vom 31. Januar bis zum 9. Februar 2014, S. 1147f.).

Mittwoch, 5. Oktober 2022

1967-10-31 Stockholm [Sonntag, der 16. Februar 2014]

Hans Köberlin absolvierte seinen Dauerlauf – es war sonnig aber sehr windig – und bereitete sich sein Frühstück im leeren Wintergarten, zu dem er heute den neulich erinnerten Film jenes Konzerts anschaute, das Miles Davis am 31. Oktober 1967 in der Hauptstadt des Landes von Pippi Langstrumpf gegeben hatte. Der Film war in Schwarzweiß, das Programm entsprach dem üblichen der Zeit, es gab Agitation, Footprints, ’Round Midnight und Gingerbread Boy, es wurde nicht zu schnell gespielt und der Dämpfer blieb auf Herbie Hancocks Klavier stehen, wobei das wahrscheinlich das Klavier des Veranstaltungsorts war. Obwohl Hans Köberlin dabei sein Frühstück verzehrte, war diesmal das Auge das Hauptrezeptionsorgan. Er hatte sich den Mitschnitt bisher bloß einmal angeschaut, jetzt war das Sehen durch das Ritual der vergangenen Wochen quasi fundierter. Es gab als Kommunikationsangebot an das Publikum allein die Musik, keine Moderation, keine Ansagen und keine Anbiederungen, das gefiel Hans Köberlin, die klassische Moderne des Jazz, die Musiker in schwarzen Anzügen mit Krawatte oder Fliege, das Publikum im bestuhlten Saal und auf der Galerie, das keine eigenen Schwenks bekam und nur als Hintergrund der Musiker zu sehen war, war gleichfalls im Sonntagsstaat, die blonden Schwedenmädel in den Kleidchen, die man damals so trug – sicher schon etwas kürzer –, die Herren in Anzügen, allerdings nicht nur in schwarzen. Gegenüber dem Set gestern hatte Herbie Hancock mehr Raum, Bass und Schlagzeug bekamen keine Möglichkeit zu Solis. Tony Williams war wirklich noch sehr jung, vom Aussehen nach war Ron Carter der älteste des Quintetts. Die Musiker kamen auf die Bühne, nahmen ihre Plätze ein, und begannen zu spielen, zunächst das Thema des jeweiligen Stücks von Miles Davis allein oder mit Wayne Shorter zusammen, dann Miles Davis’ Solo, dann Wayne Shorters Solo, dann gegebenenfalls Herbie Hancocks Solo, dann wurde das Thema wieder aufgegriffen und sofort zum nächsten Stück übergeleitet, so daß keine Lücke für den Applaus blieb. Hans Köberlin gefiel die Musik, er merkte aber jetzt beim Sehen ihrer Produktion mehr als beim bloßen Hören, daß es eine Angelegenheit aus einer Zeit vor seiner Zeit war, es war fast, als schaute er sich die Interpretation eines Streichquartetts von Beethoven an. Die Leute, die damals, als er, Hans Köberlin, im Alter von fünf Jahren aus Trotz und Wut mit dem Holzschwert die Blumen seiner Mutter geköpft, der Performance beigewohnt, hatten sicher ein größeres Spektrum an Binnendifferenzierung parat, auch natürlich die Musikwissenschaftler, die vielleicht ähnlich oberflächlich wie der Hörer – in Adornos Typologie: »guter Zuhörer«* – Hans Köberlin einen Roman aus dem 19. Jahrhundert lesen würden, obwohl … Von Gingerbread Boy ging es übergangslos zu The Theme, und jetzt wurde dessen Funktion evident: das Publikum wußte, nun war Feierabend und klatschte, es gab noch nicht das Gepfeife und Gestampfe derer, die nie genug bekamen, dies ein Ritual, das Hans Köberlin nur selten zugesagt, er hatte einen Livemitschnitt von Massacre, auf dem das unter dem Titel The Empire Strikes Back dokumentiert worden war, und die anschließende gut fünfminutige Zugabe hieß dann Over.

* Siehe oben S. 465 und dort die Fußnote 1515: In Adornos Typologie würde sich Hans Köberlin zu den »guten Zuhörern« (der gleich nach dem »Experten« kam) zählen: »Auch er hört übers musikalisch Einzelne hinaus; vollzieht spontan Zusammenhänge, urteilt begründet, nicht bloß nach Prestigekategorien oder geschmacklicher Willkür. Aber er ist der technischen und strukturellen Implikationen nicht oder nicht voll sich bewußt. Er versteht Musik etwa so, wie man die eigene Sprache versteht, auch wenn man von ihrer Grammatik und Syntax nichts oder wenig weiß, unbewußt der immanenten musikalischen Logik mächtig. Dieser Typ wird gemeint von der Rede von einem musikalischen Menschen, wofern man dabei überhaupt noch an die Fähigkeit zu unmittelbarem, sinnvollem Mithören sich erinnert und nicht damit sich begnügt, daß einer Musik ›möge‹. Solche Musikalität bedurfte historisch einer gewissen Homogenität der musikalischen Kultur; darüber hinaus einiger Geschlossenheit des Gesamtzustandes, wenigstens der auf die Kunstwerke reagierenden Gruppen. Etwas dieser Art wird bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein in höfischen und aristokratischen Zirkeln überlebt haben. Noch Chopin hat in einem Brief zwar über die zerstreute Lebensform der großen Gesellschaft sich beklagt, zugleich aber eigentliches Verständnis ihr zugesprochen, während er dem Bürgertum vorwirft, daß es statt dessen nur Sinn für die erstaunliche circensische Leistung – heute würde man sagen: die show – habe. Bei Proust erscheinen Figuren, die diesem Typus zurechnen, in der Sphäre Guermantes, so der Baron Charlus. Zu mutmaßen wäre, daß der gute Hörer, wiederum proportional zur anwachsenden Zahl der Musikhörer überhaupt, mit der unaufhaltsamen Verbürgerlichung der Gesellschaft, dem Sieg des Tausch- und Leistungsprinzips immer seltener wird und zu verschwinden droht. Eine Polarisierung nach den Extremen der Typologie hin kündigt sich an: tendenziell versteht heute einer entweder alles oder nichts. Mitschuldig ist selbstverständlich der Verfall der musikalischen Initiative des Nichtprofessionellen unterm Druck von Massenmedien und mechanischer Reproduktion. Am ehesten dürfte der Amateur dort noch überleben, wo Reste einer aristokratischen Gesellschaft sich erhalten haben wie in Wien. Im kleineren Bürgertum dürfte der Typus schon kaum mehr sich finden, außer bei polemischen Einzelgängern, die bereits zu den Experten hinüberspielen, mit denen im übrigen früher die guten Hörer weit besser sich verstanden, als heute die sogenannten Gebildeten mit der avancierten Produktion.« (Theodor W. Adorno, Typen musikalischen Verhaltens; in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 1986, Bd. 14: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, S. 183f.).
»Soso, ich bin also ein ›polemischer Einzelgänger‹ aus dem ›kleineren Bürgertum‹ …«
»¡Sí, eres un polémico solitario de la pequeña burguesía!«

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1240f.).

1967-10-30 Rotterdam [Dienstag, der 28. Januar 2014]

Zum Frühstück hörte er jenes Konzert, das Miles Davis am 30. Oktober 1967 für eine Rundfunkausstrahlung im ›de Doelen‹ in der Stadt mit dem größten Hafen Europas gegeben hatte. Hier hörte man die »neuen musikalische Konzepte«, von denen Ian Carr gestern gesprochen hatte,* der Höhepunkt dieser Phase, bevor es dann elektrisch wurde. Es begann mit Footprints, bei dem Baß, Klavier – die wichtige Funktion Herbie Hancocks in diesem Quintett wurde wieder einmal offenbar – und Schlagzeug im Vordergrund standen, dann der klassische Einstieg zu ’Round Midnight, nach dem es aber in der Manier von Footprints weiterging, die alten Stücke wurden in dem schnellen Fluß, der alle mitriß, nur noch markiert, Orientierungshilfen für jene versierten Hörer, welche Rudimente alter Strukturen in den neuen suchten, genauso dann bei No Blues, On Green Dolphin Street, Riot und Masqualero, letztere neueren Stücke waren bereits so angelegt. Die Konzerte der Zeit und auch die späteren, von Stockhausen beeinflußten, gerieten aber bei allen Ausbrüchen nie zu einem sogenannten ›Free Jazz‹, Miles Davis blieb stets das strukturbildende Zentrum, selbst wenn er nicht selber spielte und eventuell gar nicht auf der Bühne präsent war. Er schuf seinen Musikern Freiräume, hatte aber immer im Blick, auf was das Ganze hinauslaufen sollte. Sah man, so Hans Köberlin weiter, auf die Entwicklungslogik von Miles Davis’ Stil, dann konnte man diese Zeit in Bezug auf die davor mit der Zeit unmittelbar vor 1975 vergleichen, bloß daß zwei Jahre nach 1967 Bitches Brew kam, nach On the Corner et cetera aber nur noch das Verstummen. Hans Köberlin sah in der Zeit um 1975 weniger eine Krise Miles Davis’ als eine allgemeine Krise bestimmter musikalischer Stile am Werk, in der Rockmusik genauso wie im Jazz, aber wahrscheinlich war das bloß die Betrachtungsweise seiner Generation.
»Dinosaurier!«
»Alter weißer Cis-Mann!«

* Siehe oben S. 1060f. und dort die Fußnote 2932. Carr hatte Hans Köberlin, als der vor Jahren die Biographie gelesen, auf das Album My Funny Valentine aufmerksam gemacht, bei dem man aus den beiden Sets des Konzerts 12. Februar 1964 in der Stadt, die niemals schlief (siehe oben S. 864f. sowie die Fußnote 2723 auf S. 972), nur die ruhigen Stücke zusammengestellt hatte. Hans Köberlin stellte dies in seinem digitalisierten Musikarchiv nach und war von dem Ergebnis durchaus angetan.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 1065).

1967-10-18 Anvers [Freitag, der 17. Januar 2014]

Dann machte er seinen Dauerlauf und frühstückte anschließend auf der anderen Dachterrasse zu einem Konzert, das Miles Davis am 18. Oktober 1967 in einer Hafenstadt des Landes, aus dem auf der Alte mit seinen schrecklichen Fischen kam, gegeben hatte. Neue Stücke kamen hier zu den Standards, es war noch ›klassisch‹, aber Hans Köberlin glaubte den Umbruch, der in den nächsten beiden Jahren folgen würde, bereits zu spüren. Sein Favorit bei diesem Konzert war, nicht zuletzt wegen Herbie Hancock, Masqualero.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 983).

1967-07-02 Newport [Donnerstag, der 2. Januar 2014]

Zum Frühstück gab es heute, wie gestern vorgenommen, Miles Davis’ Auftritt am 2. Juli 1967 in Newport. Der oberflächliche Hans Köberlin kannte diese Aufnahmen und hatte sie bereits unzählige Male gehört, aber noch nie chronologisch systematisch, dies selbst nicht begleitend zu der Lektüren der diversen Bücher über Miles Davis und seiner Quasi-Autobiographie.
»Es hat mir damals schlicht und einfach die Zeit gefehlt, ich habe nach meinem ersten Roman an meinem ersten nie erschienenen Fragment gearbeitet und mußte nebenher den Schornstein am Rauchen halten …«
Alle Musik war ihm damals gleich nahe unter der Sonne gewesen, es war ähnlich wie mit der auf Wiederholung angelegten Lektüre, und die Alben vor 1969 mußte er sich selber erst erarbeiten – gegenüber den Alben nach 1975, vor allem denen mit Marcus Miller, hatte er, bis auf ein paar Ausnahmen, Vorurteile. Es war sicher auch eine Frage seines Alters, daß er sich Miles Davis mit Jimi Hendrix sehr gut vorstellen konnte, aber einer Kollaboration mit Prince eher befremdet gegenübergestanden hätte. 1967 in Newport ging es, diesmal nach der Ansage, wieder mit Gingerbread Boy los, aber wesentlich rauer, es ging gleitend über in Footprints, dann kam ’Round Midnight, und bei dem Stück war das Fortschreiten am deutlichsten zu hören, denn das Stück kam ja aus einer anderen Ära. Zum Abschluß folgte eine aktuelle Version von So What, wobei Hans Köberlin die letzte Tour Davis’ mit Coltrane einfiel. Beide hatten sich seit Kind of Blue weiterentwickelt, aber in konträre Richtungen, Hans Köberlin goutierte beides, Miles Davis war ihm jedoch näher …
Wir wissen natürlich, daß wir – wie bei Kafka und wie bei Joyce und wie bei sonst so vielem – mit der bloßen Wiedergabe von Hans Köberlins exilantischen und dilettantischen Einsichten die wirklichen Experten auf diesen Gebieten vergraulen werden, weil das Rad nochmals erfunden wurde oder aber vor seiner Erfindung das Potential einer runden Scheibe mit einer Nabe übersehen wurde, aber wir können es nur so dokumentieren, wie es sich für uns beim Beobachten dargestellt hat. Und für diesbezügliche Einsichten, die wir als interesselose Beobachter später zufällig irgendwo erhalten sollten, verweisen wir, wie gehabt, auf unsere Nachlesen.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, IX [Der zweite Besuch der Frau] Vom 20. Dezember 2013 bis zum 6. Januar 2014, S. 872f.).

1966-07-04 Newport [Mittwoch, der 1. Januar 2014]

Zu dem Frühstück im leeren Wintergarten hörten sie – Hans Köberlins größerer Zeitsprung innerhalb seines Rituals – den Mittschnitt von Miles Davisʼ Auftritt auf dem Jazzfestival in Newport am 4. Juli 1966. Das Programm war zum Teil noch das gleiche wie knapp zweieinhalb Jahre zuvor, aber für Hans Köberlin, der von dem radikalen Umbruch, der in den nächsten drei Jahren passieren sollte, wußte, kündigte sich dieser hier bereits in manchen Passagen, vor allem bei den Improvisationen, an. Der Mitschnitt begann quasi in medias res mit Gingerbread Boy, gefolgt von All Blues, bei dem das Thema angedeutet wurde, um Raum für lange Soli zu geben – die Alternierung im Tempo gab es so nicht mehr, es war durchweg die gleiche Dynamik, die einem entgegenkam –, All Blues also, gefolgt von Stella By Starlight, hier nicht mehr so melancholisch …
»Man müßte diese und die Interpretation von gestern zum Vergleich hintereinander hören …«
…dann gefolgt von R. J., die einzige Live-Version, die Hans Köberlin von diesem E. S. P.*-Stück kannte, und schließlich vor dem Abschlußthema Seven Steps To Heaven.
»Morgen gibt es keinen weiteren Sprung, sondern Newport am 2. Juli 1967.«

* Erst am Freitag, dem 19. Juni 2020, sollte der Ignorant Hans Köberlin in einem anderen Kontext, den wir nicht mehr rekonstruieren können, darauf kommen, für was E. S. P. hier stand, nämlich für ›extrasensory perception‹.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, IX [Der zweite Besuch der Frau] Vom 20. Dezember 2013 bis zum 6. Januar 2014, S. 869).

1965-12-23 Chicago 4th Set [Mittwoch, der 26. Februar 2014]

Zum Frühstück gab es natürlich Miles Davis, und zwar das vierte Set jenes Konzerts, das der am 23. Dezember 1965 in der für ihre Schlachthöfe berüchtigten Stadt gegeben hatte. Es bildete den Abschluß jener Konzertreihe, ging über gut eine Dreiviertelstunde und begann mit Stella by Starlight. Hans Köberlin war heute in einer empfänglichen Stimmung für jene Periode, die klassische des Jazz – Klassik erreicht durch Reduktion und Understatement  –, bei dem Auftakt kam ihm ›Kinojazz‹ in den Sinn. Es gab keine Irritationen bei dem langsamen Stück, fast Vorweihnachtsstimmung, Trompete, Saxophon, Klavier und wieder Trompete, anschließend, auch diesmal in der schnellen Variante, All Blues. Das Stück wehrte sich bei Hans Köberlin gegen die meisten Modifikationen gegenüber der Kind of Blue-Fassung, so auch hier, wenn auch, wie gesagt, diesmal im Rahmen bleibend. Das dritte Stück des Sets war Yesterdays. In Hans Köberlins Sammlung von Miles-Davis-Konzerten tauchte dieser Jazzstandard nur hier auf, tauchte hier in der ihm gebührenden Melancholie auf; die Erinnerung an die vergangenen Tage kam wohl von jemandem, der der eben zitierten Mahnung de Sades weitgehend gefolgt war. Das abschließende Theme ging über fünf Minuten und ließ Miles Davis und Wayne Shorter im Wechselspiel hören.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1369).

Samstag, 24. September 2022

Donnerstag, 22. September 2022

Mittwoch, 21. September 2022

Sonntag, 18. September 2022

Empirie, 27. Update

¡Hans Koberlin vive! in Daten (der Stand von heute):
  • Stand des Manuskripts:
    • Seiten: S. 1.696 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 4.636
  • Stand der Bearbeitung:
    • Seiten: S. 1.434 von ca. 2.400 Seiten
    • Fußnoten: 3.833
    • Kapitel: XIII (= Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit des Exils) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Bearbeitung: Freitag, der 7. März 2014, der 157. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
  • Der Beginn der Handlung ist mit Analepsen der Sonntag, der 23. Oktober 4004 vor unserer Zeitrechnung, 9 Uhr vormittags,* ohne Analepsen der Herbst 2012.
  • Das Ende der Handlung fällt mit den Prolepsen mit dem Ende der (oder bloß einer?) Welt zusammen,** ohne Prolepsen mit dem Frühjahr 2016.
  • Beginn der Niederschrift: Mittwoch, den 2. Oktober 2013
  • Ende der Niederschrift: noch nicht abzusehen.
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen.

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seiten: S. 778 von 778 Seiten
    • Fußnoten: 2.280
    • Kapitel: VIII (= Dritte Phase – oder: Konsolidierung) von VIII Kapiteln nebst einem vorläufigen Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Donnerstag, der 19. Dezember 2013, der 79. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
Mit der Vorbereitung zur Publikation des ersten Teils des zweiten Teilbandes wurde mittlerweile begonnen (obwohl der erste Teilband noch nicht publiziert wurde – c’est la vie).

  • Stand der Überarbeitung:
    • Seite: S. 1.356
    • Fußnoten: 3.640
    • Kapitel: XII (= Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe)
    • Tag der Überarbeitung: Freitag, der 24. Februar 2014, der 146. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen


* (= die Fußnote 5 auf S. 7) »Non in tempore sed cum tempore Deus creavit caela et terram.« (Augustinus).
Nun: »In der Schiffsbibel von Charles Darwin auf der ›Beagle‹, mit der er von 1831 bis 1836 die Welt bereiste, stand das Datum der Weltschöpfung eingetragen: 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt, 9 Uhr vormittags.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 47). Das war ein Sonntag, am folgenden Freitag war er, der Schöpfer, fertig, und auch das jüngste Gericht soll nach christlichen Vorstellungen auf einen Freitag fallen, ein Datum haben wir gerade nicht zur Hand.
»Soldats, quarante siècles vous regardent!«
»L’ouvrage que j’ai entrepris aura la longueur d’une histoire«, hatte Balzac stolz in seinen Avant-Propos de La Comédie humaine postuliert.
** (= eine Anmerkung aus der fünften Nachlese) »Die Welt des Dichters ist nicht die einzige Welt. Es gibt mehrere Dichter.« (Bertolt Brecht, Schriften zum Theater 1; in: Gesammelte Werke, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1967, Bd. 15, S. 393).

Wird aktualisiert!

Samstag, 20. August 2022

Mittwoch, 22. Juni 2022

Sonntag, 19. Juni 2022

Freitag, 17. Juni 2022