Hans Köberlin absolvierte seinen Dauerlauf – es war sonnig aber sehr windig – und bereitete sich sein Frühstück im leeren Wintergarten, zu dem er heute den neulich erinnerten Film jenes Konzerts anschaute, das Miles Davis am 31. Oktober 1967 in der Hauptstadt des Landes von Pippi Langstrumpf gegeben hatte. Der Film war in Schwarzweiß, das Programm entsprach dem üblichen der Zeit, es gab Agitation, Footprints, ’Round Midnight und Gingerbread Boy, es wurde nicht zu schnell gespielt und der Dämpfer blieb auf Herbie Hancocks Klavier stehen, wobei das wahrscheinlich das Klavier des Veranstaltungsorts war. Obwohl Hans Köberlin dabei sein Frühstück verzehrte, war diesmal das Auge das Hauptrezeptionsorgan. Er hatte sich den Mitschnitt bisher bloß einmal angeschaut, jetzt war das Sehen durch das Ritual der vergangenen Wochen quasi fundierter. Es gab als Kommunikationsangebot an das Publikum allein die Musik, keine Moderation, keine Ansagen und keine Anbiederungen, das gefiel Hans Köberlin, die klassische Moderne des Jazz, die Musiker in schwarzen Anzügen mit Krawatte oder Fliege, das Publikum im bestuhlten Saal und auf der Galerie, das keine eigenen Schwenks bekam und nur als Hintergrund der Musiker zu sehen war, war gleichfalls im Sonntagsstaat, die blonden Schwedenmädel in den Kleidchen, die man damals so trug – sicher schon etwas kürzer –, die Herren in Anzügen, allerdings nicht nur in schwarzen. Gegenüber dem Set gestern hatte Herbie Hancock mehr Raum, Bass und Schlagzeug bekamen keine Möglichkeit zu Solis. Tony Williams war wirklich noch sehr jung, vom Aussehen nach war Ron Carter der älteste des Quintetts. Die Musiker kamen auf die Bühne, nahmen ihre Plätze ein, und begannen zu spielen, zunächst das Thema des jeweiligen Stücks von Miles Davis allein oder mit Wayne Shorter zusammen, dann Miles Davis’ Solo, dann Wayne Shorters Solo, dann gegebenenfalls Herbie Hancocks Solo, dann wurde das Thema wieder aufgegriffen und sofort zum nächsten Stück übergeleitet, so daß keine Lücke für den Applaus blieb. Hans Köberlin gefiel die Musik, er merkte aber jetzt beim Sehen ihrer Produktion mehr als beim bloßen Hören, daß es eine Angelegenheit aus einer Zeit vor seiner Zeit war, es war fast, als schaute er sich die Interpretation eines Streichquartetts von Beethoven an. Die Leute, die damals, als er, Hans Köberlin, im Alter von fünf Jahren aus Trotz und Wut mit dem Holzschwert die Blumen seiner Mutter geköpft, der Performance beigewohnt, hatten sicher ein größeres Spektrum an Binnendifferenzierung parat, auch natürlich die Musikwissenschaftler, die vielleicht ähnlich oberflächlich wie der Hörer – in Adornos Typologie: »guter Zuhörer«* – Hans Köberlin einen Roman aus dem 19. Jahrhundert lesen würden, obwohl … Von Gingerbread Boy ging es übergangslos zu The Theme, und jetzt wurde dessen Funktion evident: das Publikum wußte, nun war Feierabend und klatschte, es gab noch nicht das Gepfeife und Gestampfe derer, die nie genug bekamen, dies ein Ritual, das Hans Köberlin nur selten zugesagt, er hatte einen Livemitschnitt von Massacre, auf dem das unter dem Titel The Empire Strikes Back dokumentiert worden war, und die anschließende gut fünfminutige Zugabe hieß dann Over.
* Siehe oben S. 465 und dort die Fußnote 1515: In Adornos Typologie würde sich Hans Köberlin zu den »guten Zuhörern« (der gleich nach dem »Experten« kam) zählen: »Auch er hört übers musikalisch Einzelne hinaus; vollzieht spontan Zusammenhänge, urteilt begründet, nicht bloß nach Prestigekategorien oder geschmacklicher Willkür. Aber er ist der technischen und strukturellen Implikationen nicht oder nicht voll sich bewußt. Er versteht Musik etwa so, wie man die eigene Sprache versteht, auch wenn man von ihrer Grammatik und Syntax nichts oder wenig weiß, unbewußt der immanenten musikalischen Logik mächtig. Dieser Typ wird gemeint von der Rede von einem musikalischen Menschen, wofern man dabei überhaupt noch an die Fähigkeit zu unmittelbarem, sinnvollem Mithören sich erinnert und nicht damit sich begnügt, daß einer Musik ›möge‹. Solche Musikalität bedurfte historisch einer gewissen Homogenität der musikalischen Kultur; darüber hinaus einiger Geschlossenheit des Gesamtzustandes, wenigstens der auf die Kunstwerke reagierenden Gruppen. Etwas dieser Art wird bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein in höfischen und aristokratischen Zirkeln überlebt haben. Noch Chopin hat in einem Brief zwar über die zerstreute Lebensform der großen Gesellschaft sich beklagt, zugleich aber eigentliches Verständnis ihr zugesprochen, während er dem Bürgertum vorwirft, daß es statt dessen nur Sinn für die erstaunliche circensische Leistung – heute würde man sagen: die show – habe. Bei Proust erscheinen Figuren, die diesem Typus zurechnen, in der Sphäre Guermantes, so der Baron Charlus. Zu mutmaßen wäre, daß der gute Hörer, wiederum proportional zur anwachsenden Zahl der Musikhörer überhaupt, mit der unaufhaltsamen Verbürgerlichung der Gesellschaft, dem Sieg des Tausch- und Leistungsprinzips immer seltener wird und zu verschwinden droht. Eine Polarisierung nach den Extremen der Typologie hin kündigt sich an: tendenziell versteht heute einer entweder alles oder nichts. Mitschuldig ist selbstverständlich der Verfall der musikalischen Initiative des Nichtprofessionellen unterm Druck von Massenmedien und mechanischer Reproduktion. Am ehesten dürfte der Amateur dort noch überleben, wo Reste einer aristokratischen Gesellschaft sich erhalten haben wie in Wien. Im kleineren Bürgertum dürfte der Typus schon kaum mehr sich finden, außer bei polemischen Einzelgängern, die bereits zu den Experten hinüberspielen, mit denen im übrigen früher die guten Hörer weit besser sich verstanden, als heute die sogenannten Gebildeten mit der avancierten Produktion.« (Theodor W. Adorno, Typen musikalischen Verhaltens; in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 1986, Bd. 14: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, S. 183f.).
»Soso, ich bin also ein ›polemischer Einzelgänger‹ aus dem ›kleineren Bürgertum‹ …«
»¡Sí, eres un polémico solitario de la pequeña burguesía!«
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1240f.).
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