Zum Frühstück hörte Hans Köberlin jenes Konzert, das Miles Davis am 6. November 1967 im Salle Pleyel in der Stadt der Liebe gegeben hatte. Es war ein langes Konzert gewesen, knapp eineinhalb Stunden, was hieß, daß Hans Köberlin über seine erste Nahrungsaufnahme des Tages hinaus noch eine weitere müßige, weil allein der Rezeption gewidmete, Zeit haben würde. Er erinnerte sich, daß er es zuletzt vor knapp zwei Jahren gehört hatte, also in einem anderen Leben … Es begann in medias res mit Agitation mit einem sehr schönen Klaviersolo am Ende, dann ging es übergangslos mit Footprints weiter. Hans Köberlin kam es an diesem Morgen nach den ersten beiden Stücken freejazziger vor als bei den anderen Konzerten der Zeit, aber es war natürlich kein Free Jazz, sondern Miles Davis. Es folgte ʼRound Midnight, bei dem sich Wayne Shorter nach dem Thema, das ja nicht viele Variationen zuließ, mit seinem Spiel quasi aus dem Staub machte, das war fast wie Coltrane auf der Tour 1960, aber diesmal bereits im Rahmen. Dann No Blues, das längste Stück des Konzerts, bei dem Tony Williams und Ron Carter ihre Soli hatten, und Carter war auch die Basis für das, was anschließend, bei Masqualero geschah, vor allem im Zusammenspiel mit Shorter und Hancock. Bei I Fall In Love Too Easily war es wie bei ʼRound Midnight: Miles Davis spielte das Thema, von dem sich Wayne Shorter dann entfernte. Den Übergang zu Riot verpaßte Hans Köberlin, weil er mit den Gedanken in fünf Tagen bei der Frau war und first things first antizipierte, das Stück war kurz und schnell, quasi ein Vorspiel zu Walkinʼ, wie immer Thema und schnelle Läufe, unterbrochen von einem weiteren Solo Tony Williamsʼ, und auch Wayne Shorter und Herbie Hancock spielten dann ihre Parts vollkommen allein, wobei das Klavier hier seine grandiosesten Momente hatte. On Green Dolphin Street kam, getragen vom Baß, angenehm gefällig daher und The Theme schließlich bildete über achteinhalb Minuten den konventionellen Abschluß. Hans Köberlin war so angetan von dem bloßen Sitzen und Hören, von der »Fülle des Wohllauts«*, daß ihm für einen Moment die Möglichkeit der Archivierung von Musik ihre mittlerweile gegebene Selbstverständlichkeit verlor und wieder zu etwas Wunderbarem wurde.
»Wie war er glücklich, wenn er Musik hörte! […] Frauenlippen und -augen lächelten ihn aus unermeßlicher Ferne und wieder aus nächster Nähe liebevoll an.«**
* Siehe Thomas Mann, Der Zauberberg, Frankfurt am Main 1986, S. 883ff.
** Robert Walser, Zwei Männer; in: Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Jochen Greven, Zürich und Frankfurt am Main 1985, Bd. 16: Träumen, S. 195. Hier haben wir übrigens noch eines von jenen Ferne-Nähe-Paradoxa à la Kafka und Benjamin.
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1401).
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