Mittwoch, 5. Oktober 2022

1967-10-30 Rotterdam [Dienstag, der 28. Januar 2014]

Zum Frühstück hörte er jenes Konzert, das Miles Davis am 30. Oktober 1967 für eine Rundfunkausstrahlung im ›de Doelen‹ in der Stadt mit dem größten Hafen Europas gegeben hatte. Hier hörte man die »neuen musikalische Konzepte«, von denen Ian Carr gestern gesprochen hatte,* der Höhepunkt dieser Phase, bevor es dann elektrisch wurde. Es begann mit Footprints, bei dem Baß, Klavier – die wichtige Funktion Herbie Hancocks in diesem Quintett wurde wieder einmal offenbar – und Schlagzeug im Vordergrund standen, dann der klassische Einstieg zu ’Round Midnight, nach dem es aber in der Manier von Footprints weiterging, die alten Stücke wurden in dem schnellen Fluß, der alle mitriß, nur noch markiert, Orientierungshilfen für jene versierten Hörer, welche Rudimente alter Strukturen in den neuen suchten, genauso dann bei No Blues, On Green Dolphin Street, Riot und Masqualero, letztere neueren Stücke waren bereits so angelegt. Die Konzerte der Zeit und auch die späteren, von Stockhausen beeinflußten, gerieten aber bei allen Ausbrüchen nie zu einem sogenannten ›Free Jazz‹, Miles Davis blieb stets das strukturbildende Zentrum, selbst wenn er nicht selber spielte und eventuell gar nicht auf der Bühne präsent war. Er schuf seinen Musikern Freiräume, hatte aber immer im Blick, auf was das Ganze hinauslaufen sollte. Sah man, so Hans Köberlin weiter, auf die Entwicklungslogik von Miles Davis’ Stil, dann konnte man diese Zeit in Bezug auf die davor mit der Zeit unmittelbar vor 1975 vergleichen, bloß daß zwei Jahre nach 1967 Bitches Brew kam, nach On the Corner et cetera aber nur noch das Verstummen. Hans Köberlin sah in der Zeit um 1975 weniger eine Krise Miles Davis’ als eine allgemeine Krise bestimmter musikalischer Stile am Werk, in der Rockmusik genauso wie im Jazz, aber wahrscheinlich war das bloß die Betrachtungsweise seiner Generation.
»Dinosaurier!«
»Alter weißer Cis-Mann!«

* Siehe oben S. 1060f. und dort die Fußnote 2932. Carr hatte Hans Köberlin, als der vor Jahren die Biographie gelesen, auf das Album My Funny Valentine aufmerksam gemacht, bei dem man aus den beiden Sets des Konzerts 12. Februar 1964 in der Stadt, die niemals schlief (siehe oben S. 864f. sowie die Fußnote 2723 auf S. 972), nur die ruhigen Stücke zusammengestellt hatte. Hans Köberlin stellte dies in seinem digitalisierten Musikarchiv nach und war von dem Ergebnis durchaus angetan.

(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 1065).

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