Und Hans Köberlin frühstückte anschließend auf der anderen Dachterrasse und hörte dabei mittels des Musikarchivs auf dem kleinen Laptop und über den kürzlich erworbenen kleinen blauen Lautsprecher die beiden Sets jenes Konzerts, welches Miles Davis etwa im gleichen Stil wie das gestrige, denn Hans Köberlin hatte an diesem Morgen noch keine Lust, in Miles Davis’ letzte und in seinen, Hans Köberlins, Augen schwächste Periode zu wechseln, am 30. März 1974 in der Stadt, die niemals schlief, gegeben hatte und das später dann unter dem Titel Dark Magus publiziert wurde. Es waren diesmal sogar drei elektrische Gitarren beteiligt …
Das erste Set begann wie das gestern gehörte Konzert in der Hauptstadt, da hieß es Turnaroundphrase, hier hieß es Moja, M’tume legte mit seiner hektischen Perkussion das Fundament für Miles Davis’ hektische Trompete, anschließend übernahmen der Bass und die Saxophone und der Groove wechselte, die drei Gitarren kamen in den Vordergrund und Miles Davis setzte mit der elektrisch verstärkten und verzerrten Trompete oder mit der Orgel seine Akzente, das alles in einer Manier, die Hans Köberlin eher lag. Die letzten zehn Minuten dieses Abschnitts, Wili betitelt, waren elegischer Ausklang mit längeren ruhigen Trompetenpassagen …
Das zweite Set begann ohne die Hektik des ersten mit dem Groove, mit dem auch Wili begonnen hatte. Zunächst dominierte eine der Gitarren – Hans Köberlin konnte die drei Spieler nicht zuordnen –, dann kamen die Saxephone und die Orgel hinzu, das war eher Stockhausen denn Afrika, wohl die beiden Pole der Musik aus dieser Ära, wobei Stockhausen damals für die Spitze der okzidentalen Avantgarde stand, wie John Cage für die der neuen Welt. Es war gut, daß ›Afrika‹ nicht zur Folklore geriet, zu bloßem Kunsthandwerk für weiße Ohren, wie bei anderen Bands … Hans Köberlin hatte solche Musik im Ohr, ihm fiel aber gerade kein Beispiel ein … Man konnte, so Hans Köberlin, in einer Weltgesellschaft nicht einfach zurück zu irgendwelchen Wurzeln – siehe Eva nach dem Biß in den Apfel, beziehungsweise: siehe den unglaubwürdigen zweiten Frühling von Helena und Menelaos, der einem zu Beginn der Odyssee in der Telemachie vorgeführt wurde –, man sollte, wenn man das denn überhaupt wollte – man konnte ja auch seine ganz Herkunft hinter sich lassen –, entwurzelt sich des Prinzips ›Wurzel‹ entsinnend vorwärts zu jenen Orten, an denen es irgendeine Vergangenenheit gab, die mit der eigenen Vergangenheit irgendwie zu tun hatte, »a memory of a memory«,* und man sollte dabei all das mitnehmen, was auf dem Weg lag, auch esoterische Elektroniker aus der Domstadt. Bloß keine sogenannte ›kulturelle Identität‹! Damit schaffte man die Scheiße, die gelaufen, nicht aus der Welt … – Jedenfalls: das in seinen Teilen Tatu und Nine betitelte zweite Set war ein großer Wurf!
»Warum man wohl immer so leicht in Phrasen fällt, wenn man begeistert ist?«
Nachdem dann Miles Davis ruhig jene Tonfolge angespielt, welche später einmal Jean Pierre heißen sollte, wurde es noch einmal dynamisch, das Schlagzeug, die Gitarren und die Saxophone … und der Abschluß war nach einem kurzen Dialog mit Al Foster allein M’tumes Percussion vorbehalten …
Und Hans Köberlin wußte anschließend noch nicht, was er morgen hören würde, ob er dann den Sprung zu dem Konzert in der Stadt bei den Mönchen im Juli des Jahres 1988 wagen würde …**
* Thomas Pynchon, Against the Day, New York 2006, S. 84.
** Aus der Zeit nach dem 1. Juli 1975 und vor Juli 1988 hatte Hans Köberlin, wie er jetzt glaubte – er hatte noch mehr – nur noch Live-Aufnahmen aus Boston, New York und Tokio, das waren aber jeweils nur einzelnen Titel, die 1982 zusammengefaßt auf dem Album We Want Miles veröffentlich worden waren, unter anderem der eben erwähnte Ohrwurm Jean Pierre. Dieses Album wollte er am Stück hören, wenn er mit allen Konzerten durch war, wie auch LivE EviL, das ein Zusammenschnitt aus den Konzerten im ›Cellar Door Club‹ und den Jack Johnson-Sessions war, und wie auch Live Around the World, ein Album, auf dem Auftritte aus Miles Davis’ letzten Jahren versammelt waren.
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 923f.).
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