Zum Frühstück im leeren Wintergarten sah Hans Köberlin einen lange vor seinem Exil aus dem weltweiten Netz heruntergeladenen Filmmitschnitt jenes Konzerts, das Miles Davis am 21. Juli 1989 –
»Ein heißer aber auch fataler Sommer!«
– auf dem Jazzfestival in Montreux gegeben hatte. Mit den Titeln konnte Hans Köberlin nur teilweise etwas anfangen, es war hektischer Disco-Funk, zu dem Miles Davis Melodien oder kurze Läufe beisteuerte, nur manchmal kam ein längerer Groove auf. Auf der Bühne war ein einziges Gewusel, was durch die Kameraführung noch verstärkt wurde. Es gab zwei Bassisten, von den einer den Baßpart und der andere den des Gitarristen übernahm, zwei Keyboarder, die den typischen achtziger-Jahre-Synthesizer-Sound produzierten, einen Drummer und einen Saxophonspieler, bei Human Nature trat Chaka Khan als Gastvokalistin auf. Einer der Bassisten, der mit dem Gitarrenpart, der Hans Köberlin mit seiner überdimensionierten Latzhose, seiner Frisur und seiner Brille an Whoopie Goldberg erinnerte, stellte sich immer wieder ganz dicht an Miles Davis, beobachte ihn und seine rote Trompete und spielte dann ein paar Tackte dazu, was wohl ein ›Dialog‹ sein sollte. Hans Köberlin war nicht einverstanden mit dem, was er da sah, und nur in wenigen Momenten mit dem, was er da hörte. Aber, so sagte er sich, ähnlich war es wahrscheinlich auch den Hörerinnen und Hörern zwei Generationen zuvor ergangen, als es elektrisch und rockig wurde … und wie bei den alten Tatort-Episoden fragte sich Hans Köberlin nach dem objektivierbaren Anteil seines ästhetischen Urteils, ob er nicht einfach irgendwo trotzig stehengeblieben war, während die Musik sich allgemein verändert hatte … »Bei Onkel Pö spielt ne Rentnerband seit zwanzig Jahren Dixieland …« Hing das damit zusammen, ob man das Ganze als eine teleologische Entwicklung – korrespondierend mit einer Verfallsgeschichte – betrachtete oder ob man dabei ein arbiträres einander Abwechseln der Moden mit ihren späteren Reprisen sah? Eine andere Frage war, wie sich Miles Davis ohne die fünf Jahre des Abtauchens nach Agharta und Pangaea kontinuierlich weiterentwickelt hätte – ›weiter‹ ersteinmal nur temporär, Miles Davis wollte immer etwas Neues, und nicht qualitativ verstanden – oder wenn ihn ein anderer Musiker als Marcus Miller aus der Versenkung geholt hätte … zum Beispiel Bill Laswell oder Henry Kaiser …
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1361f.).
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen