Anschließend frühstückte man in der Küche mit Blick auf den um diese Jahreszeit noch kaum befahrenen Fluß, und da Hans Köberlin wußte, inwieweit die Frau zu der morgendlich anfälligen Gelegenheit dem Jazz zugänglich, hörte man nicht, wie das Ritual es vorgegeben, das zweite Set jenes Konzerts, das Miles Davis am 19. Dezember 1970 in ›The Cellar Door‹Club, 34th and M Street NW in Washington, D. C., gegeben hatte, sondern jenes Konzert vom 30. August 1990 auf dem Jazzfestival im Grant Park in der für ihre Schlachthöfe berüchtigten Stadt. Das begann zwar gleichfalls hektisch mit Perfect Way, aber nicht so radikal wie Directions es gewesen wäre, von den übrigen Titeln der Cellar-Door-Session ganz zu schweigen. Die Frau ließ sich den Discofunk gefallen, zumal es dann bei Star People ruhiger wurde. Sie erzählte von ihrer neuen Arbeit, die sie ja angetreten, als sie nach dem Transfer Hans Köberlins von der weißen Küste zurückgekehrt, und Hans Köberlin merkte, daß er heute nur nebenbei zu seinem bewußten Hören kommen würde, aber das war nicht so wichtig. Die Musik war nicht schlecht und ganz nett im Hintergrund und Hans Köberlin mußte sich dann doch bemühen, den Erzählungen der Frau zu folgen. Er dachte an Go Ahead John, die unbearbeitete Version der Jack Johnson-Sessions, nicht an das, was Teo Macero für Big Fun daraus gemacht hatte, da gefielen Hans Köberlin die Anordnung der Takes, der Einsatz der Echos bei Miles Davis’ Trompetenspiel und die willkürlich wirkenden Ausblendungen der Teile nicht.* Hier, bei Star People, war das Saxophonspiel beliebig, Miles Davis spielte gut, aber das Drumherum … Nicht er hatte nachgelassen, sondern die Zeiten, und da er stets auf der Höhe der Zeit hatte sein wollen … Hans Köberlin konzentrierte sich wieder auf die Erzählungen der Frau […] Auf Star People folgte Hannibal, was auch nicht besser war, und Hans Köberlins versöhnliche Einstellung zur letzten Phase, wie sie sich beim Hören des Montréal-Konzerts gezeigt hatte, schwand wieder. Die plötzlich auftauchende Ansage einer Radiomoderatorin ließ die Frau aufschrecken und Hans Köberlin erklärte ihr, daß dies eine Veröffentlichung aus der Zeit der Leichenfledderei war. Dann Miles Davis’ allein mit den ungekünstelten Läufen eines elektrischen Basses, das war gut. The Senate; Me And You war wieder Geblubber für den Hintergrund, Hans Köberlins Urteil über dieses Konzert wurde trotz netter Passagen zwischendurch immer ungnädiger, die Wahl gerade dieses Auftritts war keine gute Idee gewesen, morgen zum Frühstück würde er lieber – da aus der Gil-Evans, der Coltrane- und der zweiten-großen-Quintett-Phase schon alles gehört war – zu den Anfängen zurückgehen. Er kochte eine zweite Kanne Kaffee. Auch Human Nature gefiel Hans Köberlin nur da, wo Miles Davis mit einem der beiden Bassisten alleine spielte. Das dann einsetzende Saxophon mediterranisierte, was dann auch gut war. Dann kam Time after Time mit einem interessanten Intro, wieder nur Miles Davis und einer der Bassisten, dann setzte Miles Davis den Dämpfer auf und Hans Köberlin empfand diese Version des Cindy-Lauper-Stückes in diesem Augenblick als die Schönste. Und wieder erschreckte eine Radiostimme die Frau, diesmal war es ein Moderator, und Winkle war Disco-Funk. Es gab eine für die neue Welt typische Abmoderation von zwei Stimmen, offenbar war es eine Live-Übertragung gewesen, Hans Köberlin machte sich nicht die Mühe, die Stimmen aus ihrem Idiom zu translatieren.
* In der Anordnung der Sessions ergab sich in der Abfolge der Teile, die wahrscheinlich dem Ablauf der Session entsprachen, eine Steigerung im Groove. Man spielte sich quasi rein … und gerade diese klaren Trompetentöne durch Echoeffektes zu verwässern oder die Takes einfach auszublenden … man hätte sie, wenn man sie schon nicht so belassen wollte, was damals wahrscheinlich noch nicht dem Verständnis vor technisch reproduzierter Musik entsprach, wenigstens zu einem Stück zusammenschneiden sollen.
Ähnlich erging es ihm bei der Big Fun-Version von Lonely Fire, einem Stück aus den Bitches Brew-Sessions, zu viele Schnörkel hinzugefügt. Er räumte allerdings ein, daß es daran liegen konnte, daß sich ihm die Sessions-Versionen emphatisch ins Hirn gebrannt hatten.
»Aber Lonely Fire ist schon ein extrem fantastisches Stück!«
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit] Vom 7. bis zum 12. März 2014, S. 1479ff.).
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