303 17. 1. 1932
Die Welt gehört dem, der nicht fühlt. Die Grundvoraussetzung, um ein praktischer Mensch zu werden, ist ein Mangel an Sensibilität. Die beste Vorbedingung für die Praxis des Lebens ist die Triebkraft, die zum Handeln führt, das heißt der Wille. Nun gibt es aber zwei Dinge, die das Handeln beeinträchtigen – die Sensibilität und das analytische Denken, das letztlich nichts anderes ist als ein Denken mit Sensibilität. Jedes Handeln ist seiner Natur nach die Projektion der Persönlichkeit auf die Außenwelt und, da die Außenwelt zur Hauptsache von menschlichen Wesen bestimmt wird, folgt daraus, daß diese Projektion der Persönlichkeit vor allem bedeutet, daß wir uns auf dem Weg unserer Mitmenschen quer legen, ihn hinderlich gestalten und sie je nach Art unseres Vorgehens verletzen und erdrücken.
Zum Handeln gehört folglich eine gewisse Unfähigkeit, sich die Persönlichkeit anderer, ihre Leiden und Freuden vorzustellen. Wer Sympathie empfindet, kommt nicht weiter. Der Mensch der Tat betrachtet die Außenwelt als ausschließlich aus träger Materie zusammengesetzt – als träge in sich selbst wie ein Stein, über den er hinweggeht oder den er aus seinem Weg. räumt; oder träge wie ein menschliches Wesen, das, da es ihm nichts entgegenzusetzen vermochte, sowohl ein Mensch wie ein Stein sein kann, denn er räumt es wie einen Stein beiseite oder geht darüber hinweg.
Das beste Beispiel eines praktischen Menschen ist der Stratege, da sich in ihm äußerste Konzentration des Handelns und größte Wirksamkeit zusammenfinden. Das ganze Leben ist Krieg, und die Schlacht ist mithin die Synthese des Lebens. Nun aber ist der Stratege ein Mensch, der mit Menschenleben spielt wie der Schachspieler mit Schachfiguren. Was würde aus dem Strategen, wenn er daran dächte, daß jeder Zug seines Spiels Nacht in tausend Familien trägt und Leid in dreitausend Herzen? Was würde aus der Welt, wenn wir menschlich wären? Wenn der Mensch wirklich fühlte, gäbe es keine Zivilisation. Die Kunst dient der vom Handeln zwangsläufig vergessenen Sensibilität als Zuflucht. Die Kunst ist das Aschenputtel, das zu Hause blieb, weil es so sein mußte.
Jeder Mensch der Tat ist seinem Wesen nach lebhaft und optimistisch, weil glücklich ist, wer nicht fühlt. Einen Mann der Tat erkennt man daran, daß er nie schlechtgelaunt ist. Wer arbeitet, obwohl er schlechtgelaunt ist, ist ein Handlanger des Handelns; er mag im Leben, im großen Allgemeinen des Lebens ein Buchhalter sein, wie ich es in meinem besonderen bin; er kann nicht Herrscher über Menschen und Dinge sein. Zur Herrschaft gehört Fühllosigkeit. Es herrscht wer heiter ist, denn um traurig zu sein, muß man fühlen.
Chef Vasques schloß heute ein Geschäft ab, bei dem er einen kranken Mann und seine Familie ruiniert hat. Während des Vorgangs vergaß er völlig, daß da ein Mensch vor ihm saß, er sah nur den kommerziellen Widersacher. Als das Geschäft abgeschlossen war, überkam ihn die Sensibilität. Erst dann natürlich denn hätte Sie dies schon vorher getan, wäre das Geschäft nie zustande gekommen. »Der Kerl tut mir leid«, sagte er zu mir. »Das geht nicht lange gut.« Dann steckte er sich eine Zigarre an und fügte hinzu: »Jedenfalls, wenn er etwas von mir brauchen sollte« – er meinte ein Almosen – »werde ich nicht vergessen, daß ich ihm ein gutes Geschäft verdanke und etliche zehntausend Escudos.«
Chef Vasques ist kein Unmensch: er ist ein Mann der Tat. Wer immer bei diesem Spiel den kürzeren zieht, kann tatsächlich – denn Chef Vasques ist ein großzügiger Mensch – in der Zukunft mit seinen Almosen rechnen.
Wie Chef Vasques sind alle Männer der Tat: Industrie- und Handelsbosse, Politiker, Militärs, religiöse und gesellschaftliche Idealisten, große Dichter und Künstler, schöne Frauen und Kinder, die nur das tun, was sie wollen. Es befiehlt, wer nicht fühlt. Es siegt, wer nur an das denkt, was er zum Siegen braucht. Alles übrige, die unbestimmte allgemeine Menschheit, gestaltlos, sensibel, phantasievoll und zerbrechlich, ist nur der Vorhang im Hintergrund, vor dem sich diese Figuren auf der Bühne abheben, bis das Marionettentheater endet, der quadratförmig angeordnete Untergrund, auf dem die Schachfiguren stehen, bis sie der Große Spieler einsteckt, der, indem er sich mit einer Doppelpersönlichkeit austrickst, immer gegen sich selbst spielt und dabei seinen Spaß hat.
(Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 296ff.).
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