Das Wetter erlaubte das Frühstücken auf der anderen Dachterrasse. Folgte er seinen selberaufgestellten Regeln – und das wollte er heute tun –, stand wieder eines jener problematischen letzten gemeinsamen Konzerte Davis’ mit John Coltrane* an, und zwar das zweite Set des Konzerts in der Stadt der Liebe vom 21. März 1960. Es war das gleiche Spiel wie bei dem ersten Set, Coltranes Soli sprengten den ästhetischen Rahmen der Sets – was meint: außerhalb dieses Kontexts wären sie genial gewesen –, bis auf Oleo, wo er bei 4’:23’’ nicht den Raum dazu hatte und sich wohl einfügen mußte.
* Wie gesagt, Hans Köberlins Miles-Davis-Bücher hatten keinen Eingang in die Basisbibliothek gefunden und waren in einer der Bücherkisten im Gutshof des Verlegers südwestlich der Hauptstadt eingelagert. Deshalb möchten wir nun das, was Hans Köberlin in zwei von ihnen zu dieser Tournee nachgelesen hätte, zitieren. Zunächst aus Miles Davis’ unter Mitwirkung von Quincy Troupe verfaßten Autobiographie: »Es war jetzt Frühjahr 1960 und Norman Granz hatte mich und meine Band für eine Europatournee gebucht. Es sollte eine ziemlich lange Tour sein, von März bis Ende April. Trane wollte eigentlich vor der Tournee aussteigen […] Als ich Trane das nächste Mal sah, sagte ich: ›[…] Wenn du aufhören willst, dann hör auf. Aber kannst du nicht wenigstens warten, bis wir aus Europa zurück sind?‹ Wenn er jetzt gegangen wäre, hätte er mich wirklich hängenlassen, denn außer ihm kannte niemand die Songs. Schließlich kam er doch mit, aber während der ganzen Tournee blieb er für sich und schimpfte und maulte vor sich hin. Es war klar, daß er nach unserer Rückkehr die Gruppe verlassen würde. Aber bevor er ging, schenkte ich ihm das besagte Sopransaxophon und gleich als er drauf spielte, konnte ich hören, wie revolutionär es sich auf seinen späteren Tenorstil auswirken würde. Ich sagte ihm oft im Scherz, daß er dieser Reise sein Sopransaxophon verdankt und er deshalb sein Leben lang in meiner Schuld stehn würde. Dann lachte er, bis ihm die Tränen kamen, und ich sagte: ›Trane, ich mein es ernst.‹ Er umarmte mich ganz fest und sagte: ›Miles, du hast ja recht.‹ Aber das war viel später, als er seine eigene Band hatte, die einfach jeden mit ihrem Kram umhaute. Gleich nachdem wir wieder in den Staaten waren, im Mai, verließ Trane die Gruppe und bekam ein Engagement in der Jazz Gallery.« (Miles Davis und Quincy Troupe, Die Autobiographie, München 4. Aufl. 2000, S. 333f.). Nicht ganz so moderat klang das bei Ian Carr: »Wo immer Miles mit seiner Band auftrat, gab es – zuweilen sehr heftige – Kontroversen wegen Coltrane. Vor allem ging es um das im Jazz noch nie dagewesene (physische und geistige) Stehvermögen des Saxophonisten. Er setzte für die Kunst der Improvisation neue Maßstäbe. Improvisieren bedeutete jetzt nicht mehr, ein leichtverdauliches melodisches Thema gefällig zu variieren; bei Coltrane waren die Improvisationen ein gewaltiger, unaufhörlicher Strom origineller Ideen, die mit äußerster Intensität vorgetragen wurden […] Anfang 1960 muß Coltrane klargeworden sein, daß er sich von Miles trennen und eigene Wege gehen mußte, um das, was in ihm steckte, zu verwirklichen und die Anerkennung zu bekommen, die er brauchte. Jimmy Cobb beschreibt die Situation in diesen letzten hektischen Monaten, die Coltrane noch in Milesʼ Quintett verbrachte: ›Coltrane spielte ganze Nächte durch, selbst in den Pausen stellte er sich irgendwohin und spielte … in irgendeiner Ecke oder so …, Miles mußte ihn oft unterbrechen, weil er sonst eine Stunde lang solo gespielt hätte, auch wenn unser Auftritt nur vierzig Minuten dauern sollte. Das war unglaublich – er konnte einfach nicht aufhören. Miles sagte: ›Hör mal, Mann, warum spielst du nicht 27 Chorusse statt 28?‹ … Und Coltrane antwortete: ›Wenn ich mal so richtig drin bin, weiß ich nicht, wie ich aufhören soll.‹ Als er das wieder mal nicht wußte, sagte Miles zu ihm: ›Versuch doch mal, das Saxophon aus dem Mund zu nehmen!‹‹ Im März und April nahm das Miles Davis Quintett an einer von Norman Granz organisierten […] Tour teil. Die Tournee führte durch Skandinavien, Frankreich und Deutschland; es war das erstemal, daß Miles mit seiner kompletten Band im Ausland spielte. Coltrane wollte zwar aussteigen, aber Miles konnte ihn trotzdem zur Teilnahme an der Tournee überreden. Jimmy Cobb erinnert sich: ›Er hatte nur seine Saxophone mit sich, einen Handkoffer und einen Kulturbeutel. Eigentlich wollte er gar nicht mitkommen, aber Miles hat ihn dazu überredet. Er saß im Bus neben mir und sah aus, als ob er Jeden Moment abhauen wollte.‹ In Deutschland und Frankreich gab es heftige Kontroversen wegen Coltrane. Als er bei einem größeren Konzert in Deutschland ausgebuht wurde, soll Miles – Gerüchten zufolge – vor Wut zu spielen aufgehört und seine Band von der Bühne geführt haben. In Frankreich gab es nicht nur Verwirrung über Miles Verhalten auf der Bühne, sondern auch beträchtliche Verärgerung über Coltrane, und das Publikum verließ scharenweise die Konzertsäle […] Nach einigen weiteren Auftritten mit Miles in den USA verließ Coltrane das Quintett, um eine eigene Band zu gründen. Sein Weggang traf Miles hart; während ihres letzten gemeinsamen Auftritts in Philadelphia brach Miles beinahe zusammen und weinte. Er war so mitgenommen, daß er sogar ans Mikrophon ging und eine kurze Ansage machte, daß der Saxophonist die Band verlassen werde.« (Ian Carr, Miles Davis. Eine kritische Biographie, Baden 1985, S. 133f.).
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 945f.).
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