Hans Köberlin frühstückte also notgedrungen – wegen des heftig wehenden Windes – im leeren Wintergarten. Den Verzehr nur eines Eies pro Woche empfahl die Medizin, Hans Köberlin aß hier in seinem Exil fast täglich ein Ei … und zu dem fast täglichen Ei gab es das tägliche Miles-Davis-Konzert, heute das erste Set jenes Konzerts vom 1. Februar 1975 in Osaka, das dann als Agharta veröffentlicht worden war. Hans Köberlin kannte diesen Mitschnitt – wie auch Pangaea, den des zweiten Sets; beide Sets wie auch die übrigen Auftritte der Zeit hatten in den Ohren der Puristen, zu denen wohl auch Ian Carr gehörte, und der Konservativen kein Verständnis gefunden – auswendig, von dem düsteren Orgel-Präludium Miles Davis’, gefolgt von seinen Akzenten mit der wah-wah-verzerrten Trompete über dem dicken Percussions- und Schlagzeugteppich – dank M’tume eine wahrer Flokati! –, gefolgt dann von den Saxophon- und Gitarrensoli, gefolgt dann von dem verträumten Maiysha … bis hin schließlich, nach einem fast beschwingten Groove, zu den letzten Ausklängen von Interlude und Theme From Jack Johnson … die Titel gehörten wahrscheinlich umgekehrt zugeschrieben, es kam unverkennbar das Thema von Jack Johnson und was danach kam, das war kein Zwischenspiel, höchstens im Hinblick auf das zweite Set … Die Ausklänge wurden vor allem getragen von den beiden Gitarren …
»Der 1. Februar 1975 in Osaka …: das war es! … gewesen …«
Und Hans Köberlin beschloß –
»Man gönnt sich ja sonst nichts!«*
– sein Frühstück auszudehnen und auch noch das zweite Set – Pangaea – zu hören. Das begann mit Schlagzeug, Percussion und Gitarre als Startrampe für Miles Davis’ verzerrte Trompete, dann kam Sonny Fortunes Saxophon-Einstieg … Der folgende Teil des Konzerts, der größte Teil von Zimbabwe, war nicht so homogen wie das, was am Nachmittag gespielt worden war, vielleicht weil Miles Davis die Schmerzen in der Hüfte gehabt, die man, wie Jakob, nach einer Epiphanie hatte, nicht so homogen also, bis nach zwanzig Minuten ein schöner Groove begann. Hans Köberlin fand an dieser ruhigen Passage, daß etwas weniger M’tume oder ein etwas zurückhaltenderer M’tume eher nach seinem Gusto war. Sonny Fortune spielte da großartig, auch der Funk der Gitarristen. Interessant war auch das Spiel Michael Hendersons, Hans Köberlin assoziierte ad hoc in Umkehrung des Mannes aus der Mancha …
»… eine Windmühle …«
Es war also nur ein Moment der Orientierungslosigkeit zwischen dem dynamischen Auftakt und dem groovigen Abschluß von Zimbabwe gewesen, quasi ein Hinführen zu Gondwana, das für Hans Köberlin der melancholische Höhepunkt des Jazz und des Rock und der Abschluß von Miles Davis’ Fortschreibung der Musikgeschichte war. – Gondwana … ein lyrischer Auftakt mit Hendersons Windmühlenbaß und Fortunes Flötenspiel, Hans Köberlin war den Tränen nahe, aus seinem leeren Wintergarten auf das Ambiente seines Exils schauend … und dann nach fünf Minuten Idylle setzte Miles Davis’ Spiel ein, Euphorie breitete sich noch einmal aus, bevor das geniale Verklingen anhob, nicht nur von Miles Davis’ progessiver elektrischer Phase, sondern auch auch von den elaborierten Hoffnungen einer Generation …
»… you know the era, free love and all that Jimi Hendrix kind of stuff, in 1969, 1970, you know …«**
»Le coucher du soleil romantique …«***
… wenn er seine Band zu dem … was auch immer, Hans Köberlin wollte nicht die Ausdrücke der Superlativen … anspornte, eine Steigerung wie zu einem Orgasmus, dann ein abrupter Break und er spielte seine vier fünf Tackte in die Stille hinein, bevor der Groove Gondwana weitertrug …
»Courons vers l’horizon, il est tard, courons vite, pour attraper au moins un oblique rayon!«
Und dann die Gitarre … Hans Köberlin wußte nicht, ob es Reggie Lucas oder Pete Cosey war … und dann Michael Hendersen, der spielte, als wollte er ewig so weiterspielen, und dann ein letztes Mal die Trompete und dann Miles Davis an der Orgel … natürlich kam Hans Köberlin Kafka in den Sinn, der Jagdhund am Ende der Forschungen**** … und dann ein letztes Aufbäumen und dann das Verklingen in schrillen Pfeiftönen, wahrscheinlich hatte Teo Macero hier einfach die Regler heruntergedreht …
* Günter Strack (†).
** Siehe oben auf S. 1199 die Fußnote 3247. Auf Hans Köberlin lastete – nicht bloß in Bezug seines Status als Kriegskind und der verlorenen Schwester – der Fluch der späten Geburt …
*** Charles Baudelaire, Nouvelles Fleurs du Mal; in: Sämtliche Werke / Briefe, hrsg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, München 1992, Bd. 4, S. 6; von dort auch die Verse auf der folgenden Seite.
**** »… daß die Melodie, von ihm getrennt, nach eigenem Gesetz durch die Lüfte schwebte und über ihn hinweg, als gehöre er nicht dazu, nach mir, nur nach mir hin zielte […] Und ich war wirklich völlig außer mir […] aber der Melodie, die nun bald der Hund als die seine zu übernehmen schien, konnte ich nicht widerstehn. Immer stärker wurde sie; ihr Wachsen hatte vielleicht keine Grenzen und schon jetzt sprengte sie mir fast das Gehör […] diese Stimme, vor deren Erhabenheit der Wald verstummte …« (Franz Kafka, Forschungen eines Hundes; in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, nach der kritischen Ausgabe hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main, 2. Auflage 2014, Bd. 8: Das Ehepaar und andere Prosa aus dem Nachlaß, S. 90).
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1208ff.).