Herbert Neidhöfer, homme de lettres
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Freitag, 18. August 2023
Donnerstag, 10. August 2023
Sonntag, 6. August 2023
1971-10-22 Dietikon (Newport) [Dienstag, der 11.März 2014]
Es war bereits nach Mittag, als Hans Köberlin aufstand, um das Frühstück zuzubereiten und die Frau unter die Dusche stieg. Wenn Hans Köberlin das richtig im Blick hatte, was er nicht hatte, dann hatte er in seinem Archiv nur noch fünf wirkliche Konzertmitschnitte für sein Ritual über, dann kämen die Kompilationen diverser Auftritte und Teo Maceros aus den Cellar Door- und den Jack Johnson-Sessions zusammenmontiertes Phantasiekonzert LivE EviL. Alle die fünf Konzerte waren mit ähnlichen Sets aus der Zeit von Bitches Brew und Jack Johnson. Er entschied sich für ein Konzert, das Miles Davis am 22. Oktober 1971 im Rahmen einer Europatournee des Newport-Festivals im eidgenössischen Dietikon gegeben hatte. Es waren, wie gesagt, die üblichen Stücke mit Directions zum Auftakt, Hans Köberlin war einmal wieder erstaunt, daß Miles Davis dem so oft gespielten Stück stets neue Aspekte abgewinnen konnte, auch er stieg also niemals in den gleichen Fluß. Im Gegensatz zu dem Konzert gestern kam hier wieder der Baß seinen nötigen Spielraum, was dann wohl so bleiben würde. Übergangslos ging es dann mit What I Say weiter und Hans Köberlin bemühte sich, das entspannte bewußte Hören mit der Konversation mit der Frau unter einen Hut zu bringen. Bei dem Stück störte ihn, daß der schöne Groove durch ein Perkussionssolo abgewürgt wurde. Das Solo leitete nach ein paar Takten den vorherigen Themas über zu Sanctuary, eine seltsame Dramaturgie, wie Hans Köberlin fand. Auch das daran anschließende Itʼs About That Time wurde neu und sehr ansprechend interpretiert, vor allem mit Baß und E-Piano. Es folgte in einer knapp zwölfminütigen Version Bitches Brew, angenehm sehr langsam und quasi sortiert, aber mit einem abrupten Ende, denn plötzlich war man bei Funky Tonk, das sehr verhalten mit ein paar wunderschönen kristallenen Akkorden auf dem E-Piano, von der Stimmung fast wie I Love Him Madly, begann ‒ entweder war das Publikum sehr verständig gewesen, oder man hatte es herausfiltern können ‒, und plötzlich ‒ Hans Köberlin merkte, daß er dieses Konzert lange nicht mehr gehört hatte ‒ war es dann nicht mehr Funky Tonk, sondern Inamorata in einer sehr schönen langsamen Version ohne das Pathos der Cellar Door-Sessions. Zum Schluß kamen dann nochmals ein paar Takte Sanctuary mit dem Beifall des Publikums.
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit] Vom 7. bis zum 12. März 2014, S. 1505f.).
1970-12-19 Washington 2nd Set [Montag, der 10. März 2014]
Zum Frühstück dann hörte Hans Köberlin, nun wieder turnusgemäß, das zweite Set jenes Konzerts, das Miles Davis am 19. Dezember 1970 in ›The Cellar Door‹‐Club, 34th and M Street NW in Washington, D. C., gegeben hatte und bei dem John McLaughlin wieder als Gastmusiker dabeigewesen war. Es begann, wie auch die anderen Sets, mit Directions, bei dem diesmal Jack DeJohnette eine etwas längere Vorgabe hatte, Miles Davis mit der elektrisch verzerrten Trompete den Orgasmus des Themas lange hinauszögernd, dafür dann aber lange zelebrierend, dann ein schönes Saxophon-Solo über der Rhythmus-Gruppe, dann McLaughlin und Jarrett, bei denen das Stück mehr oder weniger – das Thema wurde nochmals kurz aufgegriffen und Inamorata bereits angedeutet – zerfiel und in Jarretts Improvisation auf dem E-Piano überging, bei der sich Hans Köberlin gut vorstellen konnte, daß ein Soloalbum Jarretts auf dem E-Piano sicher einen größeren Reiz gehabt hätte, als die manchmal doch etwas zu sphärischen Studioalben und Live-Mitschnitte – am bekanntesten wohl der aus der Domstadt vom 24. Januar 1975 – auf dem Konzertflügel.* Dann kam endlich Inamorata, das diesmal allerdings nicht so groovte, weil der Baß nicht so zur Geltung kam, und eher unspektakulär in Sanctuary überging. Sehr schön war es dennoch. Das Konzert – und damit die Reihe der sechs dokumentierten Sets in ›The Cellar Door‹Club – endete, oder besser: klang aus oder verklang passend mit einer äußerst gelungenen abstrakt-minimalistischen Interpretation von It’s About That Time. Hans Köberlin räumte die Frühstücksutensilien weg und ging unter die Dusche.
* Der Satiriker Wiglaf Droste hatte in einer Polemik über das Konzert gereimt …
Schwarze Tasten, weiße Tasten
Töne, die das Herz belasten
Hände, die nicht ruhn noch rasten
Hasten über Tasten, Tasten
Junge Menschen wurden Greise
Wenn Keith Jarrett klimperte
Auf dem Flokati litt ganz leise
Wer vorher fröhlich pimperte
… und es damit auf den Punkt gebracht, seine Bezeichnung »kunstgewerblerisch« traf zu, und wenn man The Köln Concert mit dem verglich, was Miles Davis damals zeitgleich im Reich der aufgehenden Sonne gemacht hatte, dann hatte man den Wandel, der sich damals vollzog vor Augen beziehungsweise in den Ohren. Der Handke-Leser Hans Köberlin war Mitte der siebziger Jahre nicht frei von diesen Anfechtungen gewesen, hatte aber neben Handke auch Bukowski verschlungen.
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit] Vom 7. bis zum 12. März 2014, S. 1498f.).
Samstag, 5. August 2023
1970-12-19 Washington 1st Set [Mittwoch, der 12. Februar 2014]
Der Himmel war tatsächlich wieder blau und Hans Köberlin machte sich auf zu seinem Dauerlauf und konnte anschließend – endlich! – auf der hinteren Dachterrasse unter dem wieder aufgestellten Sonnenschirm frühstücken. Es gab daher keinen der drei gestern erinnerten Filme, sondern Hans Köberlin hörte, sich auf Michael Hendersons Elektrobaß freuend, das erste Set jenes Konzerts, das Miles Davis am Samstag, dem 19. Dezember 1970 in ›The Cellar Door‹-Club, 34th and M Street NW in Washington, D. C., gegeben hatte. Wie gestern im ›Fillmore West‹ gab es drei Stücke, Directions, Honky Tonk und What I Say, die groovige Stimmung war wie bei den vier Sets zuvor,* nur daß hier noch John McLaughlin dazugestoßen war und eine seiner besten Perfomances gegeben hatte. Besonders beeindruckt – beeindruckt im Sinne der bereits mehrfach bemühten kleinen gelben Mauerecke – war Hans Köberlin diesmal von dem Einsetzen von Gary Bartz’ Saxophon bei Honky Tonk, nach Miles Davis’ – in dem Part nicht mit Wah-Wah-Pedal verzerrten – Trompete.
* Insgesamt waren zehn Sets mitgeschnitten worden und Hans Köberlin fragte sich, warum man bloß sechs ausgewählt hatte anstatt sie sämtlich zu publizieren. Wir wollen an dieser Stelle aus dem Beibuch zu dem Cellar Door-Box-Set noch Michael Henderson zitieren, wie er ein Erscheinen – wohl im Sinne von Epiphanie – von Miles Davis’ Frau oder damals bereits Ex-Frau – wir wissen es nicht –, beschrieb: »Betty [Mabry] comes in and she had on this see-through blouse with no bra … you know the era, free love and all that Jimi Hendrix kind of stuff, in 1969, 1970, you know.«
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1199).
Freitag, 4. August 2023
1970-12-18 Washington 2nd Set [Freitag, der 31. Januar 2014]
Hans Köberlin frühstückte, da noch in der Stimmung, als sei es ein Tag wie jeder andere, im leeren Wintergarten und hörte dazu das zweite Set jenes Konzerts, das Miles Davis am 18. Dezember 1970 in ›The Cellar Door‹-Club, 34th and M Street NW in Washington, D. C., gegeben hatte. Es war von der Auswahl der Stücke und von der Grundstimmung ihrer Interpretation her wie bei den vorigen drei Konzerten in dem Club, wobei die Stücke nach mehrmaligem aufmerksamen Hören ihren individuellen Charakter bekamen. Aber bei jedem jeweiligen Hören jedes der sechs Sets hatte Hans Köberlin den Eindruck, gerade dieses sei das beste Set, und man könnte wegen dieser Eindrücke Leopold von Rankes Wort abwandeln und – fast – in dessen Intention sagen, jedes Set war unmittelbar zu Hans Köberlin und seine Qualität beruhte gar nicht auf dem, was aus ihm hervorging, sondern in seiner Existenz selber, in seinem Eigenen selber.
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur] Vom 31. Januar bis zum 9. Februar 2014, S. 1099).
Donnerstag, 3. August 2023
1970-12-18 Washington 1st Set [Dienstag, der 21. Januar 2014]
Beim Abrufen seiner elektronischen Post erfuhr er durch eine wohl gezielt lancierte Werbung im weltweiten Netz, daß im März ein neues Box-Set von Miles Davis aus der Bootleg-Serie erscheinen sollte, mit Aufnahmen aus der Bitches Brew- und Tribute to Jack Johnson-Zeit, und wenn Hans Köberlin wirklich in dieser sublunaren Welt weitermachen wollte, dann mußte er dieses Box-Set natürlich haben, egal wie leicht er sich machen wollte!
»Kein Glück ohne Fetischismus.«*
Aber zunächst hörte er zum Frühstück das erste Set jenes Konzerts, das Miles Davis am 18. Dezember 1970 in ›The Cellar Door‹-Club, 34th and M Street NW in Washington, D. C., gegeben hatte. Es dauerte gut eine Dreiviertelstunde und bestand aus Directions, Honky Tonk und What I Say. Diese Konzerte in Washington blieben, wie gesagt, während der vier Tage, in denen sie stattfanden, homogen und Hans Köberlin verlor sich gedankenleer im leeren Wintergarten wieder bei den durch Miles Davis Akzente möglich gewordenen Grooves von Jack DeJohnette, Keith Jarrett und Michael Henderson und bei dem schier endlosen Prolog, der Honky Tonk war, und bei dem schier endlosen Intro What I Say.
* Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben; in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 1986, Bd. 4, Auktion, S. 137. Wir haben dieses Diktum bereits oft zitiert.
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 1016).
1970-12-17 Washington [Dienstag, der 7. Januar 2014]
Die Sonne schien und es war windstill, so daß er, als er seine Runde durch hatte, auf der anderen Dachterrasse frühstücken konnte. Dazu wollte er, um an das gestrige Frühstück mit der jetzt abwesenden Frau erinnert zu werden, das Konzert hören, das Miles Davis am Folgetag, dem 17. Dezember 1970 also, in ›The Cellar Door‹-Club, 34th and M Street NW in Washington, D. C., gegeben hatte, denn von der Atmosphäre her entsprachen sich diese sechs aufgezeichneten Konzerte. Dazu war übrigens der Umzug des ganzen technischen Equippments obsolet geworden, denn Hans Köberlin hatte – wir haben vergessen, das da zu berichten, als es geschah –, als er mit der Frau im Zentrum des Ortes gewesen, sich einen kleinen blauen portablen Lautsprecher gekauft, den er nun überall an den Laptop oder auch an das Taschentelephon anschließen konnte. Hans Köberlin hörte in seiner exponierten Lage auf dem Dach auch dieses Konzert nicht laut genug, aber das tat der Musik keinen großen Abbruch. Es begann mit What I Say, wozu Jack DeJohnette,* Keith Jarrett und vor allem Michael Henderson wunderbar den Rhythmus vorlegten, gefolgt von dem über zwanzig Minuten äußerst langsam zelebrierten Honky Tonk und dies wiederum gefolgt von einer Interpretation von Itʼs About That Time, die stark von der In a Silent Way-Fassung abwich. Dann, wie bei jedem der vier Konzerttage, Keith Jarretts Improvisation, die in Inamorata überging, an diesem Tag von etwas zurückgehaltenerer Intensität als am Vortag und mit ein paar Takten Sanctuary endend. Morgen würde er dann zwei Jahre weiter in die On the Corner-Phase springen.
* Miles Davis selber sprach von diesem Schlagzeugrhythmus als der kleinen rhythmischen Figur, die Jack DeJonette während des ganzen Stücks durchziehn sollte, und Davis wollte, daß diese Figur alles enthalte, aber sie sollte auch Feuer haben, was sie ja hatte. Für Davis war What I Say nach eigenem Bekunden der Grundstein für LivE-EviL (1970), jenes Album, das aus diesen Auftritten in Washington herausdestilliert werden sollte. Es enthalte, so Davis, die Stimmung und den Rhythmus, die er gewollt hatte. Und weiter erinnerte es sich, daß bei dieser Platte etwas Komisches passiert sei: er habe plötzlich Sachen in den oberen Registern gehört; bei What I Say habe er viele hohe Noten auf der Trompete gespielt, die er normalerweise deswegen nicht gebracht, weil er sie nicht gehört habe, aber nachdem er seine neue Musik gespielt, habe sich das geändert (vgl. Miles Davis und Quincy Troupe, Die Autobiographie, München, 42000, S. 426f.).
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 907f.).
Mittwoch, 2. August 2023
1970-12-16 Washington [Montag, der 6. Januar 2014]
Ein melancholisches Frühstück, zu dem sie, wie von Hans Köberlin geplant, das Konzert hörten, das Miles Davis am 16. Dezember 1970 in ›The Cellar Door‹-Club, 34th and M Street NW in Washington, D. C., gegeben hatte. Hans Köberlin hatte dieses Konzert, wie gesagt, ausgewählt, weil da Keith Jarrett Chick Corea komplett abgelöst hatte, nachdem er bereits zuvor im Juni an der Ostküste ergänzend neben ihm gespielt hatte. An die publizierten Mitschnitte aus dieser Zeit, die sich (»Noch!«) nicht in seinem Musikarchiv befanden, wollte er jetzt garnicht erst denken –: egal! – Besonders schätzte Hans Köberlin an The Cellar Door Sessions Michael Hendersons elektrischen Baß, der den Groove dieser neuen Richtung vorgab. Das Repertoire bestand aus Directions, Yesternow, What I Say, einer Improvisation von Keith Jarrett und, als krönendem Abschluß: Inamorata, Hans Köberlins Favorit, ein Stück, das zu dem nichtmelancholischen Teil der Dramatik des heutigen Tages paßte. Man hörte das Konzert allerdings zu leise, hätte man es angemessen gehört, wäre es vielleicht zu Irrationalitäten gekommen, die komplizierte und ökonomisch empfindliche Folgen nach sich gezogen hätten, man hörte vernünftig zu leise also und man war mit seinen Gedanken nicht ganz dabei. Dann saß man auch schon im Auto Richtung Aeropuerto.
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, IX [Der zweite Besuch der Frau] Vom 20. Dezember 2013 bis zum 6. Januar 2014, S. 893f.).
Dienstag, 1. August 2023
1970-08-29 Isle of Wight [Freitag, der 7. März 2014]
Also: aufstehen und nur mit dem Kimono bekleidet im leeren Wintergarten frühstücken, wie gestern vorgenommen mit jenem Konzert, das Miles Davis am Samstag, dem 29. August 1970, während des Festivals auf der Isle of Wight nach einem Hans Köberlin nicht bekannten Tiny Tim und vor Ten Years After – später sollten an dem Tag noch hintereinander Emerson, Lake & Palmer mit Pictures at an Exhibition, The Doors und The Who mit der kompletten Tommy-Oper auftreten – gegeben hatte. Hans Köberlin hatte das Konzert für diesen Aufbruchstag gewählt, weil es nur gut über eine halbe Stunde ging. Es war von den Stücken des Sets her ein für diese Zeit typisches Konzert, Directions, Bitches Brew, It’s About That Time, Sanctuary, diesmal nur ganz kurz, und Spanish Key. Zuerst horchte Hans Köberlin wegen Dave Hollands E-Baß auf, dann wegen Keith Jarretts Orgel bei Bitches Brew … aber wie bei den meisten Live-Interpretationen kam auch hier der Moment, wo das Stück ein wenig zerfiel. Dann wieder der E-Baß … Es groovte sehr angenehm bis zum Schluß, Miles Davis war einmal wieder das Gravitationsfeld, das dies alles möglich machte … aber Hans Köberlin war, wie schon gesagt, mit den Gedanken bereits woanders […] Während des Duschens mußte er nochmals an Miles Davis denken, und zwar im Kontext der vorherigen Lektüre in Schultz’ Buch über die Gnosis. Miles Davis war, soweit er wußte, stets von jeglichem spirituellen Kram unbeleckt geblieben, im Gegensatz zu den meisten Musikern um ihn herum in der Zeit, das Ehepaar Coltrane zum Beispiel, bei denen die hohe Qualität ihrer Musik – auch später bis zu einem gewissen Punkt die Musik von Alice Coltrane allein – in einem eklatanten Gegensatz zu den Titeln stand, den sie ihren Stücken – und sich selber! – gaben, oder John McLaughlin oder Santana, deren gemeinsames Coltrane-Album Love ꞏ Devotion ꞏ Surrender trotz des Titels und trotz des Gurus auf der Rückseite des Covers von Hans Köberlin sehr geschätzt wurde. Miles Davis war stets westlich urban modern geblieben, und wenn er außermusikalische Bezüge hergestellt, dann keine spirituellen, sondern, wie bei Jack Johnson, politische zu Afrika und zu der Diskriminierung, die die Menschen, die dort ihre Wurzeln hatten, durch die WASPs erfuhren. »Aber«, so schloß Hans Köberlin dieses Thema ab, »was solls, ich höre ja auch die Messen und Kantaten von Bach …«
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XIII [Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit] Vom 7. bis zum 12. März 2014, S. 1466f.).
1970-06-20 New York [Montag, der 3. März 2014]
Zum Frühstück hörte er heute jenes Konzert, das Miles Davis am 20. Juni 1970 im Fillmore East gegeben hatte. Was den Stil und die Stücke betraf, da ähnelte es sehr den anderen Konzerten dieser Reihe, weshalb es Hans Köberlin schwerfiel, sich auf die Besonderheiten zu konzentrieren, weil er ja erst vor vier Tagen das Konzert vom 19. Juni 1970 gehört hatte. Directions hatte in diesem Moment in seinen Ohren keine und war so gut wie immer, dann The Mask, das nach vier Minuten Tohuwabohu interessant wurde, als Trompete und Baß Tohu von Bohu schieden, bei It’s About That Time kamen die neuen Aspekte vor allem von Jack DeJohnette, I Fall In Love Too Easily war quasi das Intro von Sanctuary, der Titel war bei Hans Köberlin seit 2010 für immer verknüpft mit Faulkners düsterer Südstaatenballade, heute kamen ihm die Trompetenschreie noch heftiger als sonst vor, dem folgte Bitches Brew, bei dem nach drei Minuten der Baß plötzlich vom Trockenen ins Weiche wechselte, er dachte, weil er sich darüber erschreckte, an Adornos großen musikalischen Irrtum, den Jazz betreffend, und daran, daß er sich schon lange vorgenommen, sich einmal mit dessen Beckett-Rezeption zu beschäftigen, bei dem es ihm, Hans Köberlin, um den Sinn im Absurden ging,* Bitches Brew drohte mittlerweile zu zerfallen, bis Miles Davis es mit seinem Spiel wieder zusammenfügte und zu dem wunderbar unverwüstlichen Willie Nelson überleitete, bei dem Dave Holland erneut aus heiterem Himmel die Stimmung wechselte. Willie Nelson war zweifellos der Höhepunkt der heutigen Matinée.
* Hans Köberlin hatte Adornos Versuch, das Endspiel zu verstehen, noch nicht gelesen, er hatte nur eine Passage aus der ästhetischen Theorie im Sinn: »Becketts Stücke sind absurd nicht durch Abwesenheit jeglichen Sinnes – dann wären sie irrelevant – sondern als Verhandlung über ihn. Sie rollen seine Geschichte auf […] Kunstwerke, die des Scheins von Sinnhaftigkeit sich entäußern, verlieren dadurch nicht ihr Sprachähnliches. Sie sprechen, mit der gleichen Bestimmtheit wie die traditionellen ihren positiven Sinn, als den ihren Sinnlosigkeit aus […] Alles hängt daran, ob der Negation des Sinns im Kunstwerk Sinn innewohnt oder ob sie der Gegebenheit sich anpaßt; ob die Krise des Sinns im Gebilde reflektiert ist, oder ob sie unmittelbar und darum subjektfremd bleibt. Schlüsselphänomene mögen auch gewisse musikalische Gebilde wie das Klavierkonzert von Cage sein, die als Gesetz unerbittliche Zufälligkeit sich auferlegen und dadurch etwas wie Sinn: den Ausdruck von Entsetzen empfangen. Bei Beckett allerdings waltet parodische Einheit von Ort, Zeit und Handlung mit kunstvoll eingebauten und ausgewogenen Episoden, und mit der Katastrophe, die nun darin besteht, daß sie nicht eintritt. Wahrhaft eines der Rätsel von Kunst, und Zeugnis der Gewalt ihrer Logizität ist, daß jegliche radikale Konsequenz, auch die absurd genannte, in Sinn-Ähnlichem terminiert.« (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie; in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 1986, Bd. 7, S. 230f.) Zu einer der »Gewalt der Logizität« analogen Annahme war für die Musik Christian Wolff gegenüber dem auch von Adorno erwähnten John Cage gekommen, siehe oben (¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Erster Teil. Vom 2. Oktober bis zum 19. Dezember 2013, [Dritte Phase – oder: Konsolidierung] Vom 19. November bis zum 19. Dezember 2013, S. 751).** Von Beckett hatte Hans Köberlin in diesem Kontext vor allem folgende Passage aus LʼInnommable im Gedächtnis, wir zitieren aus der Ausgabe in seinem, Hans Köberlins, Idiom: »Ich glaubte, es stünde mir frei, etwas x-beliebiges zu sagen, solange ich nicht schwieg. Dann sagte ich mir, daß es letzten Endes vielleicht nicht etwas x-beliebiges wäre, was ich sagte, daß es sehr wohl das sein könnte, was man von mir verlangte, vorausgesetzt, daß man etwas von mir verlangte.« (Samuel Beckett, Der Namenlose; in: Drei Romane. Molloy. Malone stirbt. Der Namenlose, Frankfurt am Main 2005, S. 541). Und auf die Frage, qui parle?, war die Antwort: »das ist es vielleicht, was ich fühle, daß es ein Draußen und ein Drinnen gibt und ich in der Mitte, das ist es vielleicht, was ich bin, das Ding, das die Welt in zwei teilt, einesteils das Draußen, andernteils das Drinnen, es kann dünn sein wie ein Blatt, ich bin weder einerseits noch andererseits, ich bin in der Mitte, ich bin die Scheidewand, ich habe zwei Seiten und keine Dichte, das ist es vielleicht, was ich fühle, ich fühle, wie ich schwinge, ich bin das Tympanon, einerseits ist der Schädel, andererseits die Welt, ich gehöre weder zum einen noch zum anderen« (ebd., S. 522f.). Hans Köberlin dachte dabei natürlich sofort an Luhmann … Dem ging es ja um den Fortbestand der Systeme, hier: »… man muß weitermachen, ich kann nicht weitermachen, ich werde weitermachen.« (ebd., S. 566). Nun: Hans Köberlin, der sein Studium mit einer Arbeit über das Weitermachen des Mannes ohne Eigenschaften abgeschlossen, wollte mittlerweile wieder weitermachen …
** Dabei fiel ihm noch etwas aus John Cages Indeterminacy-Geschichten ein, nämlich daß Christian Wolff zu ihm, Cage, gesagt habe (Hans Köberlin erinnerte sich, daß er diese Passage kurz vor Ende eines Dauerlaufs gehört hatte, vor jenem Hotel, das wie ein Schlachtschiff aus der Urbanisazión auf der anderen Seite der Ausfallstraße herausragte), nämlich: egal was man mache, am Ende würde alles auf eine (oder die?) Melodie herauslaufen. Die Rezeption in der Zeit … die wiederholte Rezeption … der Mensch sei Rhythmus, hatte Gérard Genette prägnant postuliert … (Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Reihe Aesthetica, hrsg. von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt am Main 1993, S. 307).
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1409).
1970-06-19 New York [Donnerstag, der 27. Februar 2014]
Anschließend frühstückte er wie gehabt mit Miles Davis, und zwar mit jenem Konzert, daß der am 19. Juni 1970 in der Stadt, die niemals schlief, gegeben hatte. Auch der Ablauf innerhalb dieser Konzertreihe variierte, wie gesagt, kaum, es begann schnell mit Directions, in der der Hälfte des Stückes ein Tempowechsel, dann abstrakt-langsam The Mask – sehr schön, was da über den Baßläufen passierte –, in einem ähnlich abstrakten Stil weiter mit It’s About That Time, wobei hier das Schlagzeug anfangs die strukturgebende Rolle des Basses übernahm, dann stimmte Miles Davis, der sehr klar spielte, allein die Melodie von I Fall In Love Too Easily an und leitete über zu Sanctuary, das hier in Verkehrung der üblichen Reihenfolge vor dem abschließenden Bitches Brew kam. Hans Köberlin überlegte … er hatte in seiner Sammlung keinen einzigen Live-Mitschnitt von Pharaoh’s Dance, dem Auftakt des Studioalbums … vielleicht war das eine spontane und nicht reproduzierbare Session gewesen … irgendwo, glaubte er, Joe Zawinul als den Komponisten angegeben gelesen zu haben, aber es war ja jetzt nur so ein Nebengedanke zu Bitches Brew gewesen, und also rührte er sich nicht, außerdem gab es da ja noch Teo Macero … Terje Rypdals Ghostdancing von dem Album Vossabrygg aus dem Jahr 2006 hatte sicherlich seine Referenzen zu Pharaoh’s Dance … Bitches Brew selber bot bei diesem Konzert gegenüber den anderen Live-Versionen keine Überraschungen, und dann kam auch schon The Theme.
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, XII [Fünfte Phase – oder: Un gringo en Calpe] Vom 10. Februar bis zum 6. März 2014, S. 1376f.).